«Glückliche Tage»: Fast ein Fabelwesen, dieses Geschöpf

Nr. 36 –

In ihrem neuen Comic konfrontiert Zuzu ihre Protagonistin mit komplizierten Beziehungen und viel Gewalt. Sie lässt ihr aber auch Krallen und Flügel wachsen.

Ausschnitt aus dem Comic «Glückliche Tage»
Mit dem Körper anstellen, was immer sie will: Für Zuzu war es das Zeichnen, das geholfen hat, die Schwere loszulassen. © Zuzu, Edition Moderne

Tatsächlich fliegen kann sie erst dann, als das Schlimmste schon passiert ist. Blut­verschmiert und ausser sich hebt sie ab, ihre Engelsflügel tragen sie aus Rom hinaus, über die Stadt in einen nahe liegenden Wald. Ist das vielleicht, trotz allem, ihr freister Moment?

Es wirkt alles furchtbar eng in Claudias Leben, die sich damit aber tapfer herumschlägt. Von Beginn weg ist klar: Da liegt etwas begraben, ein Schmerz, der schon die erste Szene in diesem Buch überschattet und die sonnigen, leichten Ferientage von Claudia und ihrem Freund Piero infrage stellt. «Glückliche Tage» heisst der neuste Comic der italienischen Autorin Zuzu, Claudia ihre Protagonistin: ein sonderbares Wesen, dem nicht nur Flügel, sondern auch Krallen, ein Schwanz und scharfe Eckzähne wachsen, je nach Gemüts- und Erregungszustand.

Ins Blaue hinaufschweben

«Glückliche Tage»? Das verweist auf das Stück von Samuel Beckett, 1961 uraufgeführt, in dem eine andere Frau in einer wahrlich misslichen Lage ist. Im ersten Akt bis zur Hüfte, im zweiten gar bis zum Hals steckt Protagonistin Winnie in einem Erdhügel, die Sonne brennt gnadenlos; im Hintergrund ihr Mann Willie auf allen vieren, der kaum je etwas sagt und sie also monologisieren lässt. Es seien doch, so meint sie, trotzdem glückliche Tage, während sie Alltagsgegenstände aus ihrer Tasche holt und begutachtet: Zahnbürste, Schminksachen, einen Revolver.

Samuel Becketts tragikomische Anlage dient Zuzu als lose Orientierung.

Diesen Monolog hat Claudia für ihr Vorsprechen bei der Schauspielschule gewählt, für das sie aus ihren Ferien nach Rom fährt und wo sie Giorgio wiedertrifft, die erste grosse Liebe. Oder: eine schlimme toxische Beziehung voller psychischer Gewalt, die noch immer nachhallt, trotz der Jahre, die seither vergangen sind. Und obwohl Giorgio, zwanzig Jahre älter als Claudia, ein offensichtlicher Trottel ist, mit Radiohead-Coverband und einem Komplex wegen seines Alters, wenn er ihr das Jungsein vorwirft und den Frust über seine unerfüllten Träume auf sie projiziert.

Auch Zuzu hat ihren Comic in zwei Akte aufgeteilt, Becketts tragikomische Anlage dient ihr als lose Orientierung. Und auch Claudia steckt fest: Immer beklemmender wird es, als sie am Tag vor dem Vorsprechen mit Giorgio in einer Bar sitzt und Martini nach Martini kippt. «Immer mehr das Gefühl, dass ich, wenn ich nicht festgehalten würde in dieser Weise, einfach ins Blaue hinaufschweben würde. Und dass die Erde vielleicht eines Tages nachgeben und mich gehen lassen wird», rezitiert sie für ihn aus ihrem Text. «Na ja, Naturgesetze. Ich nehme an, es ist wie mit allem anderen. Alles hängt davon ab, was für ein Geschöpf man zufällig ist.»

Die Männer kommen nicht klar

Was für ein Geschöpf: fast ein Fabelwesen, diese Claudia. Mit dem Körper, dem seltsamen Ding, und seinen Veränderungen hat sich Zuzu schon in ihrem Debüt «Cheese» beschäftigt, wo der Protagonistin statt Flügeln oder Krallen eine lange dunkle Nase wuchs und die Augen zu schwarzen Löchern wurden (siehe WOZ Nr. 24/21). «Cheese» war für Zuzu auch eine Auseinandersetzung mit ihrer Bulimie. Die Leichtigkeit, die sie sich durch das Erbrechen erhofft hatte, sei natürlich nie eingetreten, meinte sie kürzlich in einem Interview. Auf dem Papier aber habe sie mit dem Körper anstellen können, was immer sie wollte – so sei es am Ende das Zeichnen gewesen, das geholfen habe, die Schwere loszulassen.

Tatsächlich sind die doch bemerkenswerten Veränderungen an Claudias Körper für sie selber kein Problem, nicht peinlich oder beschwerlich. Es sind vielmehr die anderen, insbesondere die Männer, die nicht damit klarkommen – «für dich sind leidenschaftliche Menschen übertrieben», sagt Claudia einmal zu Giorgio.

Und während «Cheese» noch in schwarzweissen Tuschezeichnungen daherkam, lebt «Glückliche Tage» auch von den bunten Farbstiftbildern, aus denen die Protagonistin mit ihren rot-grünen Haaren, den gelben Augen und der roten Nase umso mehr hervorsticht. Ein freundlicher Umgang mit dieser nicht nur tragischen, sondern auch lebenslustigen und selbstbestimmten Figur. So ganz klar wird es am Ende nicht, aber vielleicht darf sie ja dann wirklich einfach davonfliegen.

Zuzu ist am 19. November 2022 zu Gast an der Buch Basel.

Buchcover von «Glückliche Tage»

Zuzu: «Glückliche Tage». Aus dem Italienischen von Denise Hofer. Edition Moderne. Zürich 2022. 456 Seiten. 37 Franken.