«Rimini»: Bravo im Schnee

Nr. 40 –

Der Filmemacher Ulrich Seidl schickt einen abgehalfterten Schlagersänger durchs winterliche Rimini – und findet dank einer grandiosen Hauptfigur zu unverhoffter Wärme.

Filmstill aus dem Film «Rimini»: Ein Mann mit Bier in der Hand liegt rauchend im Bett
«Hast du gwusst, dass man auf Wodka kan Mundgeruch kriegt?» Dem Charmeur Richie Bravo (Michael Thomas) liegt die Zufriedenheit seiner Kundinnen am Herzen. Still: Xenixfilm

Die Zeiten, in denen man noch wählerisch sein konnte, woher das Gute kommen soll, sind längst vorbei. Wenn es jetzt so unverhofft wie ein zartes Pflänzlein in einer Asphaltritze in einem Film von Ulrich Seidl auftaucht, bleibt einem eigentlich nichts anderes übrig, als es willkommen zu heissen. Es war nicht einmal so vorgesehen: «Rimini» und «Sparta», Seidls Geschichten zweier Brüder, waren als ein einziger Film geplant, in dem sich Tonalität und Thematik kontrastieren sollten. So hat jetzt «Rimini», der von Nöten und Freuden des Schlagersängers Richie Bravo erzählt, eine Art Überschuss an Hoffnung – was man gerne annimmt, schon nur, um sich für das Pädophiliedrama «Sparta» zu wappnen, das sich momentan noch im Fegefeuer der (von Seidl dementierten) Vorwürfe und staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen befindet (siehe WOZ Nr. 38/22).

Deshalb also zuerst «Amore mio», «Insieme con te» und «Emilia» bis ans Ende der Nacht, mit Richie Bravo im winterlichen Rimini, das trostlos zu nennen verkennen würde, was für eine Wirkung Bravos schrecklich-süffige Schlagerlieder auf sein Publikum ausüben. Und das ist noch nicht alles: Wer an seinen professionell-inbrünstigen Konzerten noch zu wenig «Piacere» bekommt, darf den Sänger gegen angemessene Bezahlung auch für eine professionell-inbrünstige Stunde oder zwei in sein Hotelzimmer einladen. Und wenn im Nebenzimmer noch die todkranke, aber glücklicherweise fast gehörlose Mutter liegt, ist das auch in Ordnung.

Einsam am Automaten

Richie Bravo ist zwar durch und durch Hustler, der in seinem Leben auch Enttäuschung und Reue hinterlassen hat – aber er ist eben auch ein perfekter Charmeur, dem die Zufriedenheit seiner Kundinnen am Herzen liegt. Auf die Dauer kommt man ja nirgendwo hin, wenn sich immer alle von einem abwenden. Für die einsamen Stunden dazwischen gibt es die Spielautomaten und den in Wasserflaschen abgefüllten Schnaps: «Hast du gwusst, dass man auf Wodka kan Mundgeruch kriegt?», fragt er seine bezahlende Verehrerin um die siebzig, die ihr halbtransparentes Spitzennegligé bereits heruntergezogen hat, während Bravo noch einen Schluck trinken möchte.

«Rimini» ist einer dieser Filme, die fast vollständig von einer einzigen Performance getragen werden. Der nahezu unbekannte Michael Thomas verkörpert den abgehalfterten Schlagersänger mit Alkoholproblem, Altlasten und resignierter Anmut auf so umfassende Weise, dass man entweder gar nicht auf den Gedanken kommt, dass man hier einem Schauspieler bei der Arbeit zuschaut, oder es sofort wieder vergisst. Unterstützt wird sein Richie Bravo zwar von diversen Nebenfiguren wie seinem Bruder Ewald (Georg Friedrich), der Hauptfigur von «Sparta», seinem Vater Ekkehart (der verstorbene Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle) und einem ganzen Reigen von jüngeren und älteren Frauen, bei denen Richie Bravo ohne bösen Willen auch mal Verwechslungen passieren. Treuster Begleiter aber ist der majestätische Robbenfellmantel, der ihn im verschneiten Touristenort warm hält, aber auch als «Wikingerfell» eine gemütliche Unterlage bei Richies Nebenverdienst ist. Diesen zeigt Seidl in allen Details.

Ohnehin sollten da jetzt keine Missverständnisse entstehen: Trotz seiner unwahrscheinlichen Wärme ist «Rimini» immer noch ein Seidl-Film, mit Kadrierungen so perfekt, dass sie unangenehm sind; einem Schnitt, der stets zu lange bei Szenen verbleibt, bei denen man lieber wegschauen würde; oder auch mit thematischen Kontrasten oft innerhalb derselben Einstellung, die man nicht anders als zynisch nennen kann. Vielleicht sind es tatsächlich Richie Bravos Schlagersongs, so kitschig, dass es wehtut, die in ihrem unerbittlichen Beharren auf Romantik und Optimismus ein zerbrechliches Gegengewicht zu Seidls misanthropischer Grundhaltung darstellen.

Die verlorene Tochter

Es gibt da eine Szene, in der Bravos dementer Vater, der halb im Altersheim und halb in der eigenen Vergangenheit lebt, ein altes Nazilied zu singen beginnt: «Heute gehört uns Deutschland, und morgen  …». Bravo, der den Rollstuhl schiebt, singt einfach laut darüber: «Amore mio, amore mio, amore amor …», und die ganze Welt ist ihm dankbar – und Seidl selbst darf sich über einen gelungenen Kommentar zur unverarbeiteten Nazivergangenheit Österreichs freuen, die sich halt doch nicht einfach vom lautem Kitsch übertönen lässt und die auch mit dem Tod der alten Nazis nicht aussterben wird, sondern sich in den Traumata der Nachkommen fortpflanzt.

Man könnte all dem – und besonders Richie Bravos schwermütigem Gang durch Regen und Schnee – stundenlang zuschauen, doch irgendwann trifft dann doch der Plot im traurigen Paradies ein, in Gestalt einer verlorenen Tochter (Tessa Göttlicher), die Bravos Existenz ein bisschen aufwirbelt. Einem wirklichen Konflikt verweigern sich aber sowohl Seidl als auch Richie Bravo – ähnlich wie bei Vaters Nazilied, wo man auch einfach ein bisschen lauter sein muss. Reue wird glaubhaft behauptet, Entschädigung wird eingefordert und erhalten, Vergebung wird gewährt. Am Ende nistet sich gar eine kleine Utopie in Bravos Villa ein, und der sterbende Vater weint für einmal nicht mehr nach dem alten Deutschland, sondern nach seiner Mutter. Letztlich brauchen wir alle bloss einfach ein wenig Wärme.

«Rimini». Regie: Ulrich Seidl. Österreich/Deutschland/Frankreich 2022. Jetzt im Kino.

Die Songs von Richie Bravo kann man auch auf Spotify hören: spotify.com.