Exodus und Anarchie: Nomadische Kriegsmaschinen

Nr. 41 –

Seit jeher haben Menschen in aller Welt versucht, sich staatlicher Herrschaft zu entziehen. Es ist an der Zeit, die verdrängten Kapitel der Globalgeschichte wiederzuentdecken.

Zapatistas pressen auf einer kollektivistischen Farm in Mexiko Saft aus Zuckerrohr
Selbstversorgung im Schutz des Urwalds: Zapatistas pressen auf einer kollektivistischen Farm in Mexiko Saft aus Zuckerrohr, 2013. Foto: Christian Palma, Keystone

Sobald der Staat die Bühne der Weltgeschichte betrat, brachte er zugleich auch seine Widersacherin hervor: die Anarchie, die Idee einer von Herrschaft befreiten Gesellschaft. Sie begegnet uns zum ersten Mal in der Bibel, in der wir davon erfahren, wie den geknechteten Israelit:innen die Flucht aus dem pharaonischen Ägypten gelingt. Nach einer entbehrungsreichen Wanderung durch die Wüste schliessen die der Knechtschaft Entronnenen einen Bund mit ihrem Befreiergott. Sie erobern das ihnen verheissene Land Kanaan von den dort herrschenden Stadtstaaten und leben fortan nach einem Gesetz, das die Sklaverei verbietet. An die Stelle der in den Staaten des Alten Orients üblichen Unterwerfung des Volkes unter einen König tritt die Vorstellung, dass Gott anstelle der Menschen und ohne Vermittler oder Stellvertreter herrschen möge. Es gehe darum, so der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann, «vom Prinzip Staat loszukommen und eine antistaatliche Gegengesellschaft zu gründen».

Die Israelit:innen praktizierten gleich alle drei der von den beiden Anthropologen David Graeber und David Wengrow jüngst herausgestellten Grundformen der Freiheit: «die Freiheit, sich zu bewegen, die Freiheit, Befehle zu missachten, und die Freiheit, soziale Beziehungen neu zu organisieren». Zwar konnte nicht nachgewiesen werden, dass die Geschichte von der Befreiung der Israelit:innen aus dem ägyptischen Sklavenhaus ein reales Geschehen wiedergibt. Historisch wirksam wurde sie zweifellos. In den vergangenen 2000 Jahren haben sich zahllose subversive Bewegungen von der biblischen Idee des Königreichs Gottes inspirieren lassen: von mittelalterlichen Ketzer:innen über die frühkommunistischen Diggers bis hin zu religiösen Sozialist:innen wie Leonhard Ragaz. Zugleich aber steht die Exoduserzählung für ein welthistorisch wiederkehrendes Muster: Seit die ersten Staaten im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung in Mesopotamien ihre repressive Seite zu zeigen begannen, suchten Menschen, wo sich die Möglichkeit bot, das Heil in der Flucht und gründeten fernab der Herrschaftszentren eigene Gemeinwesen.

Konkrete Alternativen

Die frühen Aussteiger:innen zogen sich in Gebiete zurück, die unübersichtlich, unwegsam, für die intensive Bodenbearbeitung ungeeignet und daher vor Soldaten, Sklavenjägern und Steuereintreibern geschützt waren: undurchdringliche Wälder, schwer zugängliche Gebirge, Sümpfe und Moore, trockene Steppen, lebensfeindliche Sand- und Eiswüsten, abgelegene Inseln und zuweilen sogar das offene Meer. Das geschah im Einzugsbereich des Pharaonenreichs, der mesopotamischen Stadtstaaten, im chinesischen Reich der Mitte, in den frühen Staaten Südostasiens, den Hochkulturen Zentral- und Südamerikas und auf den karibischen Zuckerrohrplantagen. Für viele Gesellschaften, die die Ethnologie als «vorstaatlich» bezeichnet hat, wäre der Ausdruck «nachstaatlich» treffender.

Die Ideen­geschichte leidet an einer auf den Staat fixierten Blickverengung.

Sie waren eine konkrete Alternative zu den sich konsolidierenden Zentralherrschaften und stellten die Legitimität der etablierten Ordnung infrage. Von den städtischen Eliten wurden die abweichenden Sitten und Gebräuche dieser Gemeinwesen in düstersten Farben geschildert. Trotzdem übten die vermeintlichen «Wilden» oder «Barbaren» auf nicht wenige Bewohner:innen der vom Staat kontrollierten Gebiete eine Faszination aus, die nie ganz verschwand. Wer unter der Knute der Steuereintreiber litt, die Einberufung zum Militär oder zu anderen Zwangsdiensten fürchtete und seines Lebens in den von Menschen überfüllten und von Seuchen heimgesuchten Städten überdrüssig war, konnte die Erzählungen über herrschaftsfreie Zonen am Rand der bekannten Welt als Hinweis darauf nehmen, dass ein besseres Leben tatsächlich möglich war. Sie inspirierten viele, selbst dem Lockruf der Wildnis zu folgen, wenn der Herrschaftsdruck zu gross wurde und sich eine Fluchtmöglichkeit ergab.

Die Mauern, die mesopotamische und chinesische Herrscher an den Grenzen ihrer Reiche errichteten, dienten ebenso sehr dazu, ihre Untertan:innen vom Überlaufen zu den «Wilden» abzuhalten, wie dem Schutz vor Überfällen. Die von englischen Handelsgesellschaften gegründeten ersten kolonialen Siedlungen auf amerikanischem Boden ergriffen drakonische Massnahmen, um zu verhindern, dass sich ihre Arbeitskräfte den benachbarten indigenen Gesellschaften anschlossen. Aus der Siedlung Jamestown flüchtete während des Hungerwinters 1609/10 jeder siebte Siedler. Im Jahr 1612 verhängte die Kolonie Virginia die Todesstrafe für dieses Vergehen. Mit der Androhung von drei Jahren Zwangsarbeit versuchte der Connecticut General Court, dem Phänomen der Zivilisationsflucht einen Riegel vorzuschieben. Später fanden verschleppte und versklavte Afrikaner:innen, denen die Flucht von den Plantagen geglückt war, Zuflucht bei indigenen Gemeinschaften in den Sümpfen Floridas. Durch regelmässige Überfälle auf Plantagen zeigten geflohene Sklav:innen auf karibischen Inseln, dass sie zu einer eminent politischen Praxis «revolutionärer Selbstbefreiung» (so die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann, siehe WOZ Nr. 10/21) fähig waren, und sie schufen die Grundlage für die haitianische Revolution, in der die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum ersten Mal weithin vernehmbar auch für nichtweisse Menschen gestellt wurde – und zwar von ehemaligen Sklav:innen.

Herrschaftsfeindliche Mächte

Auch dieses Beispiel zeigt: Die Demokratie hat eine Vielzahl von Wurzeln, die zum Teil weit von Europa entfernt liegen. Gleichwohl wird die Flucht vor repressiver Herrschaft im Zusammenhang mit der politischen Ideengeschichte wenig diskutiert – mit Ausnahmen, wie etwa der Theorie der Kriegsmaschine, um die Gilles Deleuze und Félix Guattari den Diskurs der Neuen Linken bereicherten. Mit dem Begriff «Kriegsmaschine» bezeichnen die beiden französischen Autoren eine ausgesprochen staatsfeindliche, zugleich überaus wirkungsvolle, aber dennoch fluide Form der Macht. Sie gebrauchen den Ausdruck als eine gegen Herrschaftsapparate jeder Art gerichtete Metapher. «Es gibt die Kommunen», sagte Deleuze 1973 auf einem Antipsychiatriekongress in Mailand, «es gibt die Randgruppen, die Kriminellen, es gibt die Drogenabhängigen, es gibt das Fliehen in Drogen, es gibt Fluchten aller Art, es gibt schizophrene Fluchten, es gibt Leute, die auf alle mögliche Weise flüchten.» Hinzu kommen Meuten, Diebes-, Räuberinnen- und Piratenbanden. Auch der Verrat, das Aufbrechen, das Vagabundieren und das Aus-der-Spur-Treten, die Undiszipliniertheit, der Aufstand, der Guerillakrieg und die Revolution sind Vokabeln, die das Autorengespann in seinem Buch «Tausend Plateaus» der Kriegsmaschine zurechnet. In jedem Gefüge, selbst noch dem musikalischen und dem literarischen, so Deleuze, lasse sich abschätzen, inwiefern etwas eher dem Pol der Kriegsmaschine oder dem des Staatsapparats zuzurechnen sei.

In ihrem Buch «Empire», das zu Beginn des 21. Jahrhunderts unerwartet international Furore machte, formulierten Michael Hardt und Antonio Negri im Anschluss an «Tausend Plateaus»: «Die Schlachten gegen das Empire lassen sich vielleicht durch Sich-Entziehen und Abfallen gewinnen. Diese Desertion verfügt über keinen Ort; sie ist die Evakuierung der Orte der Macht.» Weitreichende politische Ereignisse wie der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch des gesamten Ostblocks zeigten, dass die Desertion grosser Menschenmengen sogar eine bis an die Zähne bewaffnete Weltmacht zum Einsturz bringen könne. Die nicht unwichtige Frage, wie Institutionen der Freiheit beschaffen sein müssen, damit sie nicht selbst neue Formen der Unterdrückung hervorbringen, bleibt allerdings ungeklärt. Die von Hardt und Negri im Ton nietzscheanischer Propheten vorgetragene Hoffnung auf eine «neue Horde von Nomaden, eine neue Rasse von Barbaren», die «ins Empire einfallen oder es evakuieren», kann – insofern muss man ihren Kritiker:innen recht geben – eine politische Veränderungsstrategie nicht ersetzen.

Allerdings kann die Flucht vor dem Staat die Bedingung der Möglichkeit für revolutionäre Veränderungen sein, und – wie wir gesehen haben – ist sie es auch häufig. Daher ist ihre Nichtbeachtung durch den Mainstream der politischen Theorie nicht gerechtfertigt. Zu Unrecht wird sie im Unterschied zu Protestbewegungen, Revolten und Revolutionen häufig nicht als wirkliche politische Widerstandshandlung verstanden. Man nimmt einfach an, dass Menschen, die Reissaus nehmen, statt sich zusammenzutun, um ein Regime zu stürzen, im Kampf für bessere, demokratischere Verhältnisse nicht viel bewirken. Zum anderen leidet die Ideengeschichte an einer auf den Staat fixierten Blickverengung, sodass man sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach wie vor kaum vorstellen kann, von vermeintlich «primitiven» Völkern könnten emanzipatorische Impulse ausgegangen sein.

Geflissentlich wird übersehen, dass schon Platons Idee, Jungen wie Mädchen dieselbe sportliche und militärische Ausbildung in der ansonsten patriarchalischen Polis zukommen zu lassen, vom Vorbild berittener Steppenkriegerinnen inspiriert war. Im arabischen Mittelalter wiederum zeichneten Dichter, Literaten und Historiker den Beduinen als ein Gegenbild zur «absoluten Herrschaft des Staates», so der marokkanische Philosoph und Historiker Abdallah Laroui. Schon die Universalgeschichte des späthellenistischen Historikers Diodor erzählt, dass sich die Nabatäer:innen, ein nomadisierender arabischer Stamm, in die Wüste zurückgezogen hätten, «um auf keinen Fall Sklaven sein zu müssen». Und viele Jahrhunderte später machte sich der britische Archäologe, Sprachforscher und Schriftsteller Thomas E. Lawrence, der im Ersten Weltkrieg als britischer Spion den Guerillakrieg arabischer Stämme gegen die osmanische Armee organisierte, den Unabhängigkeitsdrang der Beduin:innen zunutze. «Sie kämpften», schreibt er in seinem literarischen Kriegsmemoir «Die sieben Säulen der Weisheit», um «von einem Reich freizukommen, nicht um eins zu gewinnen».

Mythen der Befreiung

Populäre Mythen um Amazonen, «edle Wilde», Sozialbandit:innen, «lustige Zigeuner», Piraten oder Vagabunden sind – bei allen Klischees und Verzerrungen, die sie enthalten – nicht nur koloniale Projektionen. Denn sie gehen auf wirkliche Begegnungen zurück, die Händler, Soldaten, Kriegsgefangene oder Geiseln tatsächlich mit Gemeinschaften machten, deren Angehörige sich beharrlich weigerten, vor irgendjemandem das Knie zu beugen. Das Streben nach Selbstbestimmung kleidet sich immer wieder in neue Gewänder. Wir erkennen es in Freiheits- und Befreiungsmythen, Utopien und schliesslich in politischen Theorien verschiedenster Couleur.

In den 1990er Jahren waren es die Zapatistas in Chiapas, die der Bewegung für Freiheit und Demokratie neue Impulse gaben. Im Lakandonischen Urwald wiederholte sich gewissermassen der Vorgang, den wir von der Exoduserzählung kennen. Eine Gruppe von Revolutionär:innen flieht vor dem Staat in die Wildnis, gründet dort ein neues, demokratischeres Gemeinwesen und sendet freiheitliche Signale in die Welt hinaus. Diese fanden in der globalisierungskritischen Bewegung einen grossen Resonanzraum. Sie beflügelten einen Diskurs, der um die Frage kreiste, ob es möglich oder vielmehr illusionär sei, die Welt grundlegend zu verändern, ohne die Macht im Staat zu ergreifen – also selbst Herrschaft auszuüben. Das Weltsozialforum sowie Attac übernahmen den vielleicht wichtigsten zapatistischen Leitspruch: «Eine andere Welt ist möglich.»

Seit einigen Jahren erfreuen sich Exoduspraktiken in der Linken wieder wachsender Beliebtheit. Hierzu zählt der Philosoph Daniel Loick «Land- oder Stadtkommunen, selbstverwaltete Schulen und Kinderläden, besetzte Häuser oder Fabriken, subsistenzorientierte Landwirtschaftsprojekte, autonom organisierte Subökonomien wie Tauschringe, Peer Production, Commoning und kollaborativen Konsum, feministische Experimente mit Polysexualität und Polyamorie, Community Gardening und die Aneignung und Umdeutung urbaner Räume oder das Zelten auf besetzten Plätzen wie etwa im Rahmen der Occupy-Proteste».

Offensichtlich ist, dass die grundlegenden Ideen, die wir heute mit einem demokratischen Gemeinwesen identifizieren – Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Menschenwürde –, keineswegs allein in jener geografischen Region ihre Wurzeln haben, die wir Europa nennen. Das trifft für die zurückliegenden Jahrtausende genauso zu wie für die Gegenwart – man denke nur an Rojava, die an den Prinzipien des demokratischen Konföderalismus orientierte Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien. Statt den Angehörigen nichtwestlicher Gesellschaften vorschnell eine prinzipielle Verständnislosigkeit gegenüber Konzepten wie Demokratie und Menschenrechten zu attestieren, müsste die politische Philosophie heute den Ballast einer Jahrhunderte währenden europäischen Kolonialherrschaft abwerfen und an politische Erfahrungen anknüpfen, die allen Kulturen vertraut sind.

Es ist Zeit, die vergessenen und verdrängten Kapitel in der Globalgeschichte der demokratischen Idee ins allgemeine Bewusstsein zu heben und nach tragfähigen historischen Ansatzpunkten für eine transkulturelle Verständigung zu suchen. Der westliche Alleinvertretungsanspruch in Sachen politische Partizipation jedenfalls ist nicht haltbar.

Thomas Wagner, geboren 1967, ist Kultursoziologe und Autor des Buchs «Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf. Skizzen zu einer Globalgeschichte der Demokratie». Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2022. 271 Seiten. 40 Franken.