Literatur: Eine Wohnung für sich allein

Nr. 43 –

Wie Armut weitergegeben wird und was sie mit Familien macht – davon erzählt Elena Medel in «Die Wunder» aus der Perspektive von zwei Frauen.

Elena Medel
Kein Geld, kein Glück, aber die Liebe bleibt: Elena Medels Roman «Die Wunder». Foto: Laura C. Vela, Suhrkamp Verlag

Noch immer herrscht in vielen Köpfen der Mythos vom heilsamen Familienzusammenhalt vor. Mit diesem räumt Elena Medel in ihrem ersten Roman, «Die Wunder», gründlich auf. Die 1985 in Córdoba geborene Lyrikerin und Essayistin zeigt in ihrer durchaus poetisch erzählten Familiengeschichte, wie Lieblosigkeit und Unglück innerhalb von Familien tradiert werden – und vor allem: Armut.

María wächst in den fünfziger Jahren in einem Neubauviertel in Córdoba auf: Die Strassen und die Höfe sind noch nicht gepflastert, bei Regen verwandeln sie sich in Schlammwüsten. Die fünfköpfige Familie lebt in zwei Zimmern, die Mutter und die beiden Töchter nähen den ganzen Tag, um etwas dazuzuverdienen. Mit sechzehn wird María ungewollt schwanger. Bald nach der Geburt zieht sie nach Madrid, nicht nur, um der Schande zu entfliehen, sondern vor allem, um Geld zu verdienen. Den Grossteil davon schickt sie nach Hause, wo ihre Eltern und ihr Bruder ihre Tochter Carmen grossziehen. Bei ihren seltenen Besuchen muss sie schmerzhaft feststellen, wie fremd sie dem Kind ist. Als Carmen ebenfalls sehr jung schwanger wird, teilt sie ihrer Mutter mit, dass sie heiraten wird, sie aber an diesem Tag nicht dabeihaben will.

María ist am Boden zerstört. Dann beginnt sie, über die Rolle des Geldes in ihrem Leben nachzudenken: «Des Geldes wegen hatte sie frühzeitig ihr Elternhaus verlassen, beim Sohn einer anderen den Geruch ihrer Tochter suchen müssen. Die Wohnung, in der sie lebt, ist die Wohnung, die sie bezahlen kann, nicht die, in der sie gern leben würde, und ihre Arbeit ist die, die sie erwarten darf, da sie ist, wer sie ist […].»

Sozialgeschichte Spaniens

Die Arbeit von María ist zunächst die einer illegal beschäftigten Care-Arbeiterin. Elena Medel schildert detailliert den Alltag einer häuslichen Altenpflegerin, die behandelt wird wie eine Leibeigene. Um dieser Situation zu entgehen, wird María – immerhin legale – Reinigungsfachfrau. Langsam entwickelt sie ein politisches Bewusstsein. Gemeinsam mit ihrem Freund Pedro sympathisiert sie mit der Kommunistischen Partei. Wenn sie mit ihm und seinen Genossen in der Bar beim Bier sitzt, wird sie allerdings nur als sein Anhängsel wahrgenommen und hört zu, wie er die Gedanken vorträgt, die sie vorher gemeinsam entwickelt haben.

Elena Medel beschreibt und analysiert genau und unerbittlich die Situation von María – dadurch wird ihr Roman zu einer Sozialgeschichte Spaniens der letzten sechzig Jahre aus der Perspektive von Frauen in prekären Verhältnissen. Das ist sehr beeindruckend. Dazu kommt eine tragische Familiengeschichte, die Medel in eindringlichen Szenen schildert. Etwa, wenn María bei einem Besuch ungeschickt ihr Töchterchen wickelt, das nachher zu ihrem Bruder «Mama» sagt. Carmen selbst bleibt in der Geschichte eine etwas irritierende Leerstelle. Man erfährt, dass sie einen Restaurantbesitzer geheiratet hat und sich mit ihren beiden Töchtern einige Jahre ein beinahe luxuriöses Leben leisten kann. Stolz zeigen die Mädchen ihren ärmeren Schulkameradinnen die grosse Wohnung mit dem Fernseher in jedem Zimmer. Doch eines Tages erhängt sich der Vater – eine Verzweiflungstat, weil er die Insolvenz seiner Restaurants nicht mehr abwenden kann.

Die ältere Tochter Alicia erinnert sich später, wie schlecht ihre Mutter Carmen nach dem Suizid ihres Mannes über ihn redete. Sie nahm ihm sein Scheitern übel, konnte den Verlust des hohen Lebensstandards nicht verwinden. Alicia hat mit ihrer Mutter keinen Kontakt mehr, so verschwindet Carmen aus dem Roman.

Vater in den Alpträumen

Die Erinnerungen von María und ihrer Enkelin Alicia führen durch die Familiengeschichte. Beide leben in Madrid, haben aber keinen Kontakt zueinander. Im Frühling 2018, als der Roman einsetzt und endet, ist María fast 70 Jahre alt – Alicia ist 33. Sie ist traumatisiert vom Suizid ihres Vaters, jede Nacht sieht sie ihn in ihren Albträumen am Baum hängen. Mit ihrem Mann ist sie nur zusammengezogen, weil sie sich keine Wohnung leisten konnte und Wohngemeinschaften verabscheut. Sie verachtet ihn, wie sie alle Menschen verachtet, auch ihre zahlreichen One-Night-Stands. Diese Abenteuer machen sie nur glücklich, weil sie weiss, dass sie den jeweiligen Mann nie mehr sehen muss. Alicia interessiert sich auch nicht für die Frauenbewegung, die am Weltfrauentag im März 2018 ihren Höhepunkt erlebt: Eine Million Frauen demonstrieren in Madrid. Während María an der Demonstration teilnimmt, ist Alicia rein zufällig hier. Im Gedränge begegnet sie ihrer Grossmutter María, jedoch ohne sie zu erkennen.

Mit dem Titel «Die Wunder» meint Elena Medel vielleicht die Ausnahmen jener Familien, die sich von Geldmangel oder Unglück nicht die Liebe zueinander zerstören lassen. Als Wunder erlebt María auf jeden Fall die solidarischen Beziehungen zu den feministischen Frauen, das Interesse an ihrer Person, das nicht vom sozialen Status abhängig ist. Und ihre eigene Wohnung, in der sie endlich selbst über ihr Leben bestimmen kann.

Die Autorin liest am Donnerstag, 27. Oktober 2022, um 19 Uhr im Literaturhaus Basel und am Samstag, 29. Oktober 2022, um 16 Uhr im Kulturhaus West in Zofingen.

Buchcover von «Die Wunder»

Elena Medel: «Die Wunder». Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag. Berlin 2022. 250 Seiten. 34 Franken.