Machtverschiebungen im Stöckli: Linke Frauen drängen in den Ständerat

Nr. 43 –

Ab 2011 gewann die Linke in der kleinen Kammer zunehmend an Stärke. Es ist offen, ob sie sich bei den Wahlen 2023 halten kann.

Die Ständerät:innen am letzten Tag der vergangenen Herbstsession im Ständeratssaal
Linke Sitze: 13 von 46. Frauenanteil: 26 Prozent. Der Ständerat am letzten Tag der vergangenen Herbstsession. Foto: Anthony Anex, Keystone

Der Ständerat war über Jahrzehnte die konservative Herzkammer in Bern. Die Sozialdemokratie war vor 1922 darin gar nicht vertreten, in den Folgejahrzehnten dann mit Sitzzahlen im tiefen einstelligen Bereich.

Erst ab Anfang des 21. Jahrhunderts ging es aufwärts. 2011 kletterte die Sitzzahl auf elf, 2015 war schliesslich das Dutzend voll. Dann schwächelte die SP, schrumpfte 2019 auf neun Sitze und während der Legislatur weiter auf acht. Nach dem Rücktritt Christian Levrats ging sein Sitz in Fribourg verloren. Die Grünen konnten diese Schwäche ausgleichen. Sie eroberten dank der «grünen Welle» gleich fünf Sitze. Damit konnte die Linke ihre Stärke aufrechterhalten. Ob es dabei bleibt, ist aber offen.

St. Gallen: Sicher eine Frau

Einen ersten Hinweis auf eine Antwort wird die Ersatzwahl am 12. März 2023 im konservativen Kanton St. Gallen bringen. Die Wahl ist für die Linke anspruchsvoll, aber nicht aussichtslos. 2011 fügte der damalige Gewerkschaftsbundpräsident und Nationalrat Paul Rechsteiner der Rechten eine empfindliche Niederlage zu. Er schlug Blochers Liebling Toni Brunner (SVP) im zweiten Wahlgang aus dem Feld. In der Folge bestätigten die Wähler:innen Rechsteiner zwei weitere Male. Als er Anfang Oktober seinen vorzeitigen Rücktritt bekannt gab, räumte das freisinnige «St. Galler Tagblatt» die Frontseite leer und kommentierte: «Sein letzter Coup». Das Blatt adelte Rechsteiner als «Schwergewicht der Schweizer Politik», das «parteiübergreifend auf Anerkennung» stosse. Mit seinem «letzten Coup» setzt er die Bürgerlichen unter Zugzwang, die nun rasch eigene Kandidaturen anmelden müssen.

Will die Linke Rechsteiners Sitz behalten, braucht sie eine ausser­gewöhnliche Kampagne.

Nach Rechsteiners Ankündigung warfen als Erste Esther Friedli für die SVP und Grünen-Nationalrätin Franziska Ryser den Hut in den Ring. Diese Woche folgten Barbara Gysi (SP) und die freisinnige Susanne Vincenz-Stauffacher. Weitere Kandidaturen sind denkbar, aber chancenlos. Somit wird eine Frau die Nachfolge von Paul Rechsteiner antreten. Von den vier Nationalrätinnen bringt Barbara Gysi das grösste politische Gewicht auf die Waage. Sie politisiert seit über zehn Jahren im Nationalrat und hat sich als Sozialpolitikerin einen Namen gemacht, jüngst mit der überraschenden Annahme der Pflegeinitiative, die sie wesentlich mitprägte. Auch im Kanton St. Gallen fand die Initiative eine Mehrheit. Gysi bringt als ehemalige Stadträtin von Wil Exekutiverfahrung mit und präsidiert den St. Galler Gewerkschaftsbund. Diese breite politische Erfahrung geht den anderen drei Frauen (noch) ab, sie sind alle erst seit 2019 im Nationalrat.

Esther Friedli, Partnerin von Toni Brunner, verlor 2016 die Wahl in den Regierungsrat St. Gallen, wie die Ständeratswahlen eine Majorzwahl. Die Nähe zu Christoph Blocher ist ein schlagender Grund, sie nicht zu wählen. Susanne Vincenz-Stauffacher, Präsidentin der FDP-Frauen Schweiz, wäre das kleinere Übel. Dass sie an vorderster Front für die Rentenaltererhöhung der Frauen kämpfte, spricht aus linker Sicht allerdings gegen sie. Franziska Ryser kandidierte bereits vor vier Jahren für den Ständerat und erzielte einen Achtungserfolg. Die Grünen erhoffen sich, dass die Tochter aus einer Unternehmerfamilie bis hinein ins bürgerliche Lager Stimmen holt.

Diese Ausgangslage macht einen zweiten Wahlgang sicher. Nehmen SP und Grüne das vereinbarte Wahlbündnis ernst, wird die Kandidatin mit der höchsten Stimmenzahl in den zweiten Wahlgang gehen. Der Ausgang ist völlig offen. Will die Linke Rechsteiners Sitz behalten, muss sie eine aussergewöhnliche Kampagne führen.

Tessiner Sitz in Gefahr

Auch andere SP-Ständeratssitze von erfahrenen Politiker:innen sind noch längst nicht in trockenen Tüchern. In Bern hat der wirtschaftsnahe Hans Stöckli bereits im Frühjahr seinen Rücktritt auf Ende der Legislatur angekündigt, in Solothurn unlängst auch Roberto Zanetti. Beide sind wie Rechsteiner seit bald zwölf Jahren im Amt. Im flächenmässig zweitgrössten Kanton der Schweiz ist die Ausgangslage besser als in St. Gallen, hier ist die Linke deutlich stärker. Die SP hat als Nachfolge für Stöckli bereits Nationalrätin Flavia Wasserfallen nominiert. Die Chancen der national bekannten Politikerin stehen gut. Noch offen ist die Kandidatur von Regierungsrat Bernhard Pulver. Das Mitglied der Grünen Freien Liste gilt als eher eingemittet, nicht links. Die Bürgerlichen werden den frei werdenden Sitz nicht den Linken überlassen wollen, die FDP will mit Sandra Hess in den Ständeratswahlkampf ziehen. Wird der amtierende Ständerat Werner Salzmann nicht für die SVP in den Bundesrat gewählt, dürfte ihm sein Sitz sicher sein.

Und noch ein sicherer Wert droht der SP abhandenzukommen: Marina Carobbio hat angekündigt, dass sie in ihrem Kanton Regierungsrätin werden möchte. Sie gewann 2019 den Tessiner Ständeratssitz mit gerade einmal 45 Stimmen Vorsprung auf Filippo Lombardi (CVP). Schafft sie die Wahl in den Regierungsrat, dürfte dieser Sitz für die ohnehin nicht besonders starke Tessiner Linke nur schwer zu halten sein. Einen Lichtblick gibt es in der Westschweiz: Gewerkschaftsbundpräsident Pierre-Yves Maillard kandidiert in der Waadt für den Ständerat. Seine Kandidatur, der eine parteiinterne Auseinandersetzung zwischen ihm und Roger Nordmann vorausging, gilt als aussichtsreich. Die SP hatte 2019 ihren Ständeratssitz an die Grüne Adèle Thorens verloren. Diese kandidiert nicht wieder.

Das historische Hoch der Linken in der kleinen Kammer, das seit 2011 andauert, steht gerade auf tönernen Füssen. Tritt der schlimmste Fall ein und fällt die Linke kräftemässig zurück in die nuller Jahre, als sie im Bereich zwischen 5 und 9 Sitzen dümpelte, wären das schlechte Nachrichten für sozialpolitischen Fortschritt und für Klimapolitik. Derzeit kommen SP (8) und Grüne (5) auf 13 der 46 Sitze. Bis zum Verlust von Christian Levrats Mandat waren es vorübergehend sogar 14. Dank dieser stärkeren Stellung gelangen im Ständerat Deals in unterschiedlichen Koalitionen mit FDP und Mitte, etwa bei der Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative» oder der Steuerreform und AHV-Finanzierung (Staf).

Verliert die SP die 4 Sitze in Solothurn, Bern, St. Gallen und im Tessin – das ist durchaus realistisch –, bleiben noch 9 Sitze übrig. Allerdings sind Überraschungen bei Majorzwahlen jederzeit möglich, wie die überraschende Wahl des Grünen Mathias Zopfi in Glarus in den Ständerat gezeigt hat. Solche Überraschungen sind auch in anderen Kantonen möglich, etwa im Aargau, wo die Sozialdemokrat:innen Nationalrätin Gabriela Suter in den Ständeratswahlkampf schicken.

Fortschritt bräuchte die kleine Kammer im Übrigen auch beim Frauenanteil. Dieser liegt bei gerade einmal 26 Prozent, im Nationalrat bei immerhin 42 Prozent.