Chantal Akerman: «Ich höre ihr Lachen so gern»

Nr. 50 –

Erst posthum ist das Buch der Filmemacherin Chantal Akerman auf Deutsch erschienen: «Meine Mutter lacht» ist Autobiografie, Liebeserklärung und Abschiedsbrief zugleich.

Chantal Akerman
Chantal Akerman, 1979: Mit Mitte zwanzig drehte sie «Jeanne Dielman…», der soeben zum besten Film aller Zeiten gekürt wurde. Foto: Michelle Pelletier, Getty

Zwei Bilder, das eine am Anfang, das andere am Ende von Chantal Akermans letztem Film «No Home Movie» (2015): erstens ein alter, sehr dürr und zerbrechlich wirkender Baum, irgendwo in der Wüste Israels, dem Wind ausgesetzt, ihm trotzend, wider allen Anschein; zweitens ein Telefonmast, vielleicht in derselben Wüste, sehr schräg in der Landschaft stehend, gehalten nur noch von der Anspannung der Leitungen oben. Verkehrte Rollenverteilung, aber Kommunikation hilft meistens.

Der Aufschrei war gross, als die britische Filmzeitschrift «Sight & Sound» Anfang Dezember die neue «Liste der 100 besten Filme aller Zeiten» publizierte. Die Liste, die bloss alle zehn Jahre neu erstellt wird, gilt wegen der hohen Stimmbeteiligung als besonders aussagekräftig. Sie sorgte schon 2012 minimal für Furore, als «Vertigo» von Alfred Hitchcock den ewigen Spitzenreiter «Citizen Kane» vom Thron kippte. Und jetzt? Jetzt steht da an erster Stelle plötzlich «Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles». Ein kleiner, sperriger Film aus dem Jahr 1975, der den meisten Laien und mutmasslich auch Expertinnen so unbekannt ist, dass sogleich eine Verschwörung einer woke-feministischen Bande von Filmkritiker:innen ge(t)wittert wurde.

Kartoffeln schälen am Küchentisch

«Jeanne Dielman» ist das Schlüsselwerk der Belgierin Chantal Akerman, die ihrerseits als Schlüsselfigur des neueren feministischen und avantgardistischen Kinos gilt. Im Film schaut man über drei Stunden der von Delphine Seyrig gespielten Titelfigur dabei zu, wie sie mit allergrösster, beinah neurotischer Routiniertheit putzt und kocht, mit ihrem Sohn zu Abend isst, ab und zu gegen Bezahlung einen Mann empfängt, dann den Abwasch macht. Die Wirkung des Films ist einzigartig: Der Effekt von äusserer Langeweile, starren Einstellungen, repetitiven, beinahe ritualisierten Handlungen ist jener eines hypnotischen Sogs, dem man sich kaum entziehen kann, der aber statt psychedelisch dezidiert politisch ist.

Die Beziehung Akermans zu ihrer Mutter war für ihr Schaffen zentral.

Der Film ist nicht nur formal gesehen das absolute Gegenteil der filmstilistischen Feuerwerke «Citizen Kane» und «Vertigo», in denen weibliche Erfahrungen höchstens als Schwierigkeit für die männlichen Protagonisten auftauchen. Jedenfalls hätten sich die Verschwörer:innen, wenn es sie denn gegeben hat, für ihre charmante Mittelfingergeste an einen nach wie vor männlich dominierten Filmkanon keinen besseren Film aussuchen können. So lässt sich jetzt argumentieren, dass zwischen dem Alltag einer belgischen Hausfrau und jenem eines US-Medienmagnaten bezüglich der Bedeutung kein nennenswerter Unterschied besteht. Alles eine Frage der Perspektive.

Chantal Akerman selbst hat sich vor sieben Jahren, 65-jährig, das Leben genommen – nur wenige Monate nachdem ihre Mutter mit 84 verstorben war. Die Beziehung Akermans zu ihrer Mutter war für ihr Schaffen zentral. In «No Home Movie», in dem sie die letzten Jahre ihrer Mutter dokumentiert, spricht sie diese meist mit «mamie-cœur» an. Einer ihrer schönsten Filme, «News from Home» von 1977, besteht einzig aus Strassenaufnahmen New Yorks, wo die Regisseurin Anfang der siebziger Jahre lebte, und den von ihr vorgelesenen Briefen der Mutter an die in der Ferne weilende Tochter. In diesen gibt die Mutter sich von Monat zu Monat weniger Mühe, ihre Ungeduld beim Warten auf die Rückkehr und ihre Frustration über die mangelnde Kommunikation der Tochter zu verbergen.

Akerman hat auch «Jeanne Dielman» als «Liebesfilm an meine Mutter» bezeichnet, und in «No Home Movie» wird deutlich, was sie damit meint: Mutter und Tochter sitzen zusammen am Küchentisch, schälen wie damals Delphine Seyrig Kartoffeln und unterhalten sich über den Holocaust, vor dem die polnischstämmige Familie nach Belgien floh, um schliesslich trotzdem in Auschwitz zu landen. Die Grosseltern starben, sie selber überlebte. «Deswegen ist sie jetzt so», sagt Akerman einmal über ihre Mutter, ohne dieses «so» zu präzisieren.

Überleben

«Ich höre auf ihr Lachen. Sie lacht wegen nichts. Dieses Nichts ist viel.» Wie «No Home Movie» handelt auch das erst jetzt auf Deutsch veröffentlichte Buch «Meine Mutter lacht» vom Überleben. Nicht von Auschwitz – davon wird kaum gesprochen, auch wenn es als Schatten über allem und jedem zu liegen scheint, sondern vom Überleben an sich: der Welt, des Lebens, der Depression. Es ist ein Buch, das Autobiografie, Liebeserklärung und Abschiedsbrief in einem ist.

Die Düsternis, die es durchzieht, wäre kaum auszuhalten, schwebte da nicht diese grösstenteils unartikulierte Liebe über allem; wie auch dieser unbedingte Wille zum Überleben. Sein Ursprung wirkt beinahe mysteriös, wird im Fall der Mutter dann aber schlicht vom Lauf der Zeit und dem Zerfall des Körpers abgegraben, den wir in «No Home Movie» visuell und geräuschvoll, in «Meine Mutter lacht» literarisch und poetisch miterleben. «Sie lacht. Ich höre ihr Lachen so gern. Sie schläft viel, aber sie lacht. Sie hat Freude. Dann schläft sie.»

Es sei nicht so, dass Chantal Akerman ohne ihre Mutter nicht hätte leben können, schrieb die Filmkritikerin Genevieve Yue in einer Würdigung von «No Home Movie» als zweitbestem Film der 2010er Jahre. Vielmehr sei in der Welt ohne Mutter das Überleben nicht mehr möglich gewesen. In «Meine Mutter lacht» schreibt Akerman über einen «glücklicherweise» erfolglosen Suizidversuch, dass sie dies ihrer Mutter nicht hätte antun können.

«Später, wenn sie nicht mehr da ist.»

Buchcover von «Meine Mutter lacht»

Chantal Akerman: «Meine Mutter lacht». Diaphanes Verlag. Berlin 2022. 208 Seiten. 34 Franken.