Literatur: Wunschloses Unglück

Nr. 11 –

Die österreichische Autorin Marianne Fritz (1948–2007) war eine radikale Einzelgängerin. Ihre zunehmend erratischer werdenden Romanprojekte haben nicht nur bei der Literaturkritik für Ratlosigkeit gesorgt. Der Versuch einer Annäherung.

Der Alltag von Journalist:innen war auch schon einmal glamouröser. Der «Spiegel» gab seinem Rezensenten 1985 einen Monat Urlaub, damit er «2,8 Kilogramm Weltliteratur» lesen kann. Wolfgang Nagel zog sich aufs Land zurück, um sich in die 3392 Seiten des mehrbändigen Romanprojekts «Dessen Sprache du nicht verstehst» einer «(relativ) unbekannten Autorin» aus Österreich namens Marianne Fritz zu stürzen. «Am ersten Tag schaffte ich sechzehn Seiten und verstand Bahnhof», schrieb der Kritiker, der schon bald unter den zahllosen Namen ächzte. Nach einer Woche hatte er gerade einmal 500 Seiten geschafft – und war erschöpft. Nach zwei Wochen hatte er «Momente der Wut auf das Text-Dickicht und Anfälle der Aggression gegen diese Wiener Schreib-Maschine überwunden». Auf Seite 2934 gab er sich dann aber doch geschlagen: «Bedingungslose Kapitulation. Grosse Erleichterung.»

Kritiken zu diesem uferlosen Romanprojekt wurden «Etappenberichte», man hatte das Gefühl, bei der Besteigung des Mount Everest dabei zu sein. Die FAZ hatte schnell ein abwertendes Urteil zur Hand für diesen «riesenhaften Flohzirkus», Rolf Michaelis von der «Zeit» schaffte es bis auf Seite 1235 in diesem «grössenwahnsinnigen Werk». Konrad Paul Liessmann hingegen hat für die Wiener Stadtzeitung «Falter» einst alles gelesen, die Schönheit des Textes gepriesen und seine faulen Kollegen gescholten.

Ein Kosmos voll sprechender Namen

Eigener Etappenbericht einer auf Seite 863 abgebrochenen Lektüre: Erstaunlicherweise lässt sich «Dessen Sprache du nicht verstehst» im Kern sogar nacherzählen. Das Buch beginnt 1914 und verfolgt die Geschichte vom Untergang der Proletarierfamilie Null im Ersten Weltkrieg. Wäre nicht die wuchernde Sprache – ein lyrischer Ton, der allerdings in epischer Breite auftritt –, könnte man durchaus von kritischer Heimatliteratur sprechen. Bereits Liessmann hat diese seltsame Differenz zwischen «der Schlichtheit des Erzählten und dem hypertrophen Wuchern der Erzählung» benannt.

Überraschend auch, dass Marianne Fritz nicht unbedingt eine intellektuelle Herausforderung darstellt: Auktoriale Reflexionen fehlen, Fritz bleibt nah an ihren Figuren (an die tausend!), obwohl sie polyfon erzählt. Die Frage ist, ob man zu ihrer ausufernden und eigenwilligen Sprache und zur ländlich geprägten Welt einen Zugang findet – einem Kosmos voll sprechender Namen wie «der König der Eierschwammerl», die Marktgemeinde «Nirgendwo» oder «der denkende Bienenvater». Grossstädtische Literatur schreibt Fritz nicht: Frauen sind «Weiber», und religiöse Überlegungen durchziehen das Werk.

Marianne Fritz, 1948 in der Steiermark geboren, stammt wie ihre Figurenwelt aus bescheidenen Verhältnissen, absolvierte eine Bürolehre, holte die Matura nach. Sie wurde schon zu Lebzeiten ein Mythos, zog sich früh aus der Öffentlichkeit zurück. Die vereinzelten Fotos, die von Fritz in Umlauf sind, zeigen eine Frau mit eigenwilliger Brille. Sie selbst berichtete von Sechzehnstundentagen an ihrem Schreibtisch. Als einmal das Papier ausging, soll sie auf der weissen Tischplatte weitergeschrieben haben. Literatur war für sie Leben: Beides liess sich nicht trennen. In den letzten Jahren hat sie ihre Wohnung kaum mehr verlassen, ihr Lebensgefährte Otto Dünser kaufte Nahrung ein und versorgte sie mit Quellen aus dem Kriegsarchiv, das sie für ihre Literatur benötigte, der einst der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler attestierte, sie sei die «radikalste Liquidation des habsburgischen Mythos».

2007 starb Fritz an einer Blutkrankheit, ihr fünfbändiger «Naturgemäss»-Zyklus blieb unvollendet, die FAZ schrieb von einer «Satzbauruine» und einem «Disneyland der Dekonstruktion». Die ersten beiden Bände sind im Faksimile des Manuskripts erschienen, mit Landkarten und Zeichnungen, die den Text zum Teil überlagern. Man kann die Menschen, die die grossformatigen «Naturgemäss»-Bände tatsächlich studiert haben, an einer Hand abzählen.

Marianne Fritz ist die wahrscheinlich ungelesenste Autorin überhaupt – noch vor Hans Henny Jahnn, Arno Schmidt und Robert Musil. Selbst Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, deren Stücke und Romane ja auch nicht gerade als Spaziergang gelten, sagt über ihre Kollegin: «Es ist ein singuläres Werk, vor dem man nur stehen kann wie ein gläubiger Muslim vor der Kaaba. Wahrscheinlich bin ich im Ganzen zu klein für Marianne Fritz, sie geht nicht in mich hinein.»

Lesefutter für Expert:innen?

Fragt man nach dem Werk von Marianne Fritz, wird man in den Buchhandlungen an Antiquariate verwiesen. Ein Münchner Antiquar merkte bei der Beschreibung des Zustands der Bücher lapidar an: «schönes (natürlich ungelesenes) Exemplar». Ist Fritz also bloss Lesefutter für Expert:innen oder auch für ein breiteres Publikum interessant? «Ich glaube, diese Texte haben Zukunft, vielleicht nicht heute, nicht morgen, aber sicher übermorgen», prophezeite der Germanist Schmidt-Dengler bereits 2001. «Sie hat eine der triftigsten Diagnosen der beiden grossen Kriege im vorigen Jahrhundert geschrieben, vor allem des Ersten Weltkrieges, und das macht für mich die wesentliche Faszination aus.»

Zumindest das Theater hat sich nun mit grossem Erfolg ihres Frühwerks angenommen. Regisseur Bastian Kraft inszenierte den schmalen Debütroman «Die Schwerkraft der Verhältnisse», für den Marianne Fritz 1978 mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet worden war, Ende 2021 mit grossem Erfolg am Wiener Akademietheater. Und der Suhrkamp-Verlag legt diesen Roman mit einem Nachwort der Germanistin Daniela Strigl nun auch neu auf. «Die Schwerkraft der Verhältnisse» ist ein beklemmendes Stück Literatur, der Medeastoff wird da aus kleinbürgerlicher Frauenperspektive in der österreichischen Nachkriegszeit durchdekliniert. Im Zentrum steht Berta Schrei, die im fiktiven Ort Donaublau lebt. Sie ist sprachlos in einer psychiatrischen Klinik weggesperrt, die im Text nur als «Festung» bezeichnet wird. In Rückblenden wird ihr verpfuschtes Leben aufgerollt.

Ein Fremdkörper war Berta schon immer. Mit dem Musiklehrer Rudolf erlebt sie ein kurzes Glück, bevor er an die Front muss und stirbt. Berta ist von ihm schwanger. Rudolfs Kamerad Wilhelm überbringt die traurige Todesnachricht – und heiratet Berta, obwohl die beiden überhaupt nicht zusammenpassen. Ein Ehrenwort unter Männern, mehr verbindet das seltsame Paar nicht. Und dann ist da noch Wilhelmine, die für jede Gelegenheit einen Kalenderspruch parat hat. Das Pikante an der Geschichte: Während Berta in der Anstalt sitzt, ist aus Wilhelm und Wilhelmine (nomen est omen!) ein typisches Nachkriegsaufsteigerpaar geworden. Wie soll man das bloss Berta schonend beibringen?

Ein Doppelmord am Nachwuchs

Man merkt schon an der Inhaltsangabe, dass Marianne Fritz weniger an psychologischer Durchdringung ihres Stoffes interessiert ist als an Archetypen, die in ihrem Handlungsspielraum von vornherein reduziert bleiben. Die Schwerkraft der Verhältnisse zieht sie zu Boden. Und das Patriarchat. «Ein Mann, ein Wort, und du bist verloren!», sagt Berta – und trifft damit auch einen zeitgemässen feministischen Nerv. Erst gegen Ende wird der Kern der Geschichte offenbart, der Doppelmord am Nachwuchs und ihr gescheiterter Selbstmordversuch. Faszinierend, wie präzise und feinfühlig die Autorin da eine Aussenseiterwelt beschreibt, in der aber für Abkömmlinge aus zerrütteten Familien kein Platz ist. Die beiden Kinder, von Fritz natürlich mit symbolisch aufgeladenen Namen Klein-Berta und Klein-Rudolf versehen, finden wie ihre Mutter keine Perspektive. Gebückt und erschöpft kommen sie aus der Schule heim, wo sie gemobbt werden. Klein-Rudolf ist zudem Bettnässer. Die Verhältnisse halten sie klein, sie kommen aus dem ihnen zugedachten Raum nicht heraus.

Surreal und unheimlich wirkt das, wie sie nicht mehr aus ihren Betten aufstehen wollen. Sie sind zu matt fürs Leben. Fritz erzählt von überforderten Lehrerinnen und eigentlich begabten Kindern, die zum Verstummen gebracht werden. Die Selbstgerechtigkeit der scheinbar Guten ist ein zentrales Thema: «Und deine Kinder habens jetzt beim Herrgott droben auch besser. Sie waren ja eh so arme Hascherln, so richtige Krepierln. Es wär wahrscheinlich aus ihnen eh nichts Rechtes geworden», sagt Wilhelmine, die es ja mit ihrer Freundin nur gut meint. Fritz legt bloss, welche Mentalität in der österreichischen Nachkriegszeit geherrscht hat. Selbstzweifel, Sensibilität für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, Reflexion über die Kriegsjahre: All das war nicht gefragt in einer Epoche, die erfolgstrunken nach vorne blicken wollte in eine schöne, angepasste Zukunft.

«Meine Vita hat langweilig zu sein»

Marianne Fritz habe denen, die keine Stimme gehabt hätten, ihre Stimme geben wollen, schreibt Strigl im Nachwort. «Ihr war darum zu tun, die Wurzeln für Weltkrieg und Bürgerkrieg quasi von unten freizulegen, indem sie Buch um Buch zurückschritt in die Vergangenheit des Landes, stets auf der Hut vor der Lüge des Eindeutigen.» Wie die Grüblerin Berta und mit ihr die Autorin Fritz die Welt betrachten, ist zutiefst sarkastisch. Mit bösem Witz sind da Kapitel übertitelt mit «Wilhelm, der Lächler, entdeckt erleichtert, dass er ein Durchschnittsbürger ist», um einen Mitläufer zu beschreiben, einen «Jason in Pantoffeln», wie Strigl im Nachwort ausführt.

So bescheiden die Autorin hinter ihrem Werk zurückzutreten schien, so bestimmt war sie doch in ihren Ansichten. Nichts an «Die Schwerkraft der Verhältnisse» sei autobiografisch, schreibt Fritz in einem Brief an den Verlag. «Meine Vita hat langweilig zu sein, nicht zum Nachdenken und nicht zur Neugierde anzuregen. Meine grösste Hoffnung ist, dass sich das Wundern, das Forschen, die Neugierde und auch die Liebe für Berta Schrei auf den Leser in anregender Weise überträgt.»

Buchcover von «Die Schwerkraft der Verhältnisse»

Marianne Fritz: «Die Schwerkraft der Verhältnisse». Roman. Suhrkamp Verlag. Berlin 2023. 150 Seiten. 34 Franken.