Mobilmachung in Russland: «Ein Risiko bleibt immer»

Nr. 16 –

Der Jurist Arseni Lewinson berät russische Kriegsdienstverweigerer. Ein Gespräch über die neue erleichterte Einberufung – und wie man sich am besten dagegen wehren kann.

WOZ: Herr Lewinson, seit 2004 existiert in Russland der Zivildienst. Sie haben vor zehn Jahren selbst den Wehrdienst verweigert. Schützt Sie das jetzt davor, in die Armee eingezogen zu werden?

Arseni Lewinson: Meinen Zivildienstbescheid trage ich zur Absicherung immer bei mir. Leider sieht das Mobilmachungsgesetz für anerkannte Wehrdienstverweigerer keine automatische Befreiung von der Einberufung vor. Ich war an einem Fall meiner Kolleg:innen in St. Petersburg beteiligt: Pawel Muschumanski hatte seinen Zivildienst 2019 bis 2020 abgeleistet. Zu Beginn der Teilmobilmachung erhielt er einen Musterungsbescheid und meldete sich ruhigen Gewissens beim Militärkommissariat. Noch am gleichen Tag wurde er eingezogen; erst vor einer Woche haben wir ihn aus der Kaserne geholt. Das Gericht stellte fest, dass seine Einberufung unrechtmässig war und der Verfassung widerspricht – ein seltener Erfolg.

Kriegsdienstverweigerer können also einberufen werden?

Eigentlich nicht zur kämpfenden Truppe, höchstens zur Ausübung ziviler Tätigkeiten.

Portraitfoto von Arseni Levinson
Arseni Levinson

Letzte Woche verabschiedete die Duma eine Gesetzesänderung, die eine zentrale Erfassung von Daten wehrpflichtiger Personen vorsieht und elektronische Musterungsbescheide zulässt. Wie wirkt sich das auf Wehrdienstverweigerer aus?

Nach der alten Regelung konnten gegen eine reguläre Einberufung Rechtsmittel eingelegt werden. Solange kein Entscheid vorlag, galt die Einziehung zum Armeedienst als unrechtmässig. Jetzt ist eine Einberufung automatisch rechtskräftig – sogar, wenn jemand diese vor Gericht anficht. Gibt jemand eine Zivildiensterklärung ab, bleibt diesbezüglich alles beim Alten, weil das Zivildienstgesetz nicht geändert wurde.

Menschenrechtsorganisationen schlagen wegen der Gesetzesänderung Alarm – und empfehlen Wehrpflichtigen, Russland schnellstmöglich zu verlassen. Wie sehen Sie das?

Mir scheint, es gibt genug Stimmen, die für eine Ausreise plädieren. Aber solche Statements paralysieren jene, die hierbleiben. Sie glauben dann, dass sie entweder ausreisen oder aber zur Armee müssen. Wenn wir sie vor diese Alternative stellen, nehmen wir ihnen die Kraft, die Hoffnung und das Rüstzeug für ein anderes Vorgehen. Dabei ergibt es immer noch Sinn, sich hier für das Recht auf Wehrdienstverweigerung starkzumachen.

Wer wird momentan zur Armee einberufen? Und kommt die Gesetzesänderung jetzt schon zum Tragen?

Vom 1. April bis zum 15. Juli läuft die Einberufungsphase zum regulären Wehrdienst. Im Rahmen der Teilmobilmachung findet derzeit keine Einberufung von Reservisten statt. Das Projekt «Gewissensaufruf», das Kriegsdienstverweigerer berät, hat nach Beginn der Teilmobilmachung jeden Monat Tausende Anfragen erhalten. Seit sie Anfang November von offizieller Seite für beendet erklärt wurde, gab es keine einzige bestätigte Einberufung. Im Moment werden Personendaten auf den neusten Stand gebracht, was womöglich der Vorbereitung einer neuen Mobilisierungswelle dient. Bis im Herbst soll das neue digitale Register zur zentralen Datenerfassung nutzungsbereit sein.

Kann, wer bis Mitte Juli der Einberufung unterliegt, schon jetzt einen digitalen Bescheid erhalten?

Ja, aber solange das digitale Zentralregister noch nicht eingerichtet ist, geht das nur über das staatliche Onlineportal «Gosuslugi». Nach dem Gesetz muss der digitale Musterungsbescheid gleichzeitig als Einschreiben oder persönlich zugestellt werden. Aber es ist davon auszugehen, dass in der Praxis keine schriftlichen Bescheide erfolgen werden. Hoch problematisch am Gesetz ist, dass Wehrpflichtige, die nicht zur Musterung erscheinen, automatisch gewisser Rechte beraubt werden: Die Fahrerlaubnis wird eingeschränkt, Kredite können nicht aufgenommen werden und dergleichen mehr. Im russischen Rechtssystem sind solch drastische Massnahmen beispiellos.

Wie kann man sich überhaupt noch gegen einen Militäreinsatz zur Wehr setzen?

Man kann einen Antrag auf Zivildienst stellen, dafür müssen nicht einmal die vorgegebenen Fristen eingehalten werden. Bei Ablehnung kann Einspruch eingelegt werden. Seit Kriegsbeginn gelang mir in drei Fällen die Anfechtung, aber meine Kolleg:innen haben noch weitaus mehr Erfolge erzielt. Es kann natürlich passieren, dass die Militärkommissariate versuchen, Antragsteller sofort einzuziehen. Dann muss man sich gegen die ärztliche Untersuchung wehren, nichts unterschreiben. Aber ein Risiko bleibt immer – und es wird zunehmend riskanter. Letztes Jahr herrschte aber viel mehr Panik; leider gewöhnen sich die Leute an die neuen Verhältnisse.

Funktioniert das grundsätzlich auch bei jenen, die im Zuge der Teilmobilmachung zur Musterung vorgeladen werden?

Im letzten Jahr haben Hunderte nach unseren Empfehlungen ihren Zivildienstantrag gestellt, sind nicht zur Musterung erschienen und kamen damit meist durch. Die offiziellen Antwortschreiben erhielten oft einen Verweis darauf, dass bislang kein entsprechendes Gesetz existiere.

Und wie steht es um die Anwerbung von Freiwilligen?

Durch die Gesetzesänderung weitet sich der Personenkreis für Vertragsabschlüsse aus. Früher brauchte es einen Berufsabschluss, jetzt genügen die Beendigung der neunten Schulklasse und die Volljährigkeit. Auch ist eine dreimonatige Grundausbildung in der Armee keine Voraussetzung mehr. Regulär einberufene Wehrdienstleistende können sich bereits am ersten Tag für einen Vertrag als Berufssoldat entscheiden und ohne Vorbereitung an die Front geschickt werden. Für junge Leute aus armen Regionen sind die angebotenen Geldsummen verlockend. Die Armeeanwerbung funktioniert wie das Versprechen, mit Drogendeals um ein Vielfaches mehr zu verdienen als mit jedem anderen Job.

Ist es möglich, den Vertrag mit der Armee aufzukündigen?

Derzeit nur aus drei Gründen: Wehruntauglichkeit, das Erreichen der Altersgrenze von fünfzig Jahren für Armeeangehörige ohne Offiziersrang oder die Verurteilung zu einer Haftstrafe. Einer meiner Mandanten ist Vertragsoffizier und wurde kürzlich von einem Militärgericht zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er sich nach seinem Urlaub geweigert hatte, weiter an der Spezialoperation teilzunehmen. Zuvor hatte er fünf Monate an der Front gekämpft. Die Anklage lautete auf Befehlsverweigerung während eines bewaffneten Konflikts, einen erst letzten September eingeführten Straftatbestand. Erfolgt die Verweigerung im Kampfgebiet, beträgt die Höchststrafe zehn Jahre, sonst drei Jahre.

Wie schätzen Sie die weiteren Perspektiven für Kriegsdienstverweigerer ein?

Wer als Reservist der Teilmobilmachung unterliegt, muss sich im Klaren sein: Auch wenn er seine Rechte einfordert, können diese in der Konsequenz beschnitten werden, oder es kann eine strafrechtliche Verfolgung drohen. Wer sich an der Front widersetzt, hat praktisch keine Chance, ungeschoren davonzukommen.

Vor dem Krieg arbeitete Arseni Lewinson (32) für diverse Menschenrechtsinitiativen, darunter «Bürger und Armee» und die Soldatenmütter. Heute unterstützt er als freischaffender Jurist Personen, die den Wehrdienst aus Überzeugung ablehnen. Lewinson lebt in Moskau.