Bäuer:innenproteste in Polen: Getreide des Zorns

Nr. 18 –

Der Konflikt rund um das ukrainische Getreide spitzt sich zu. In Polen, wo ein grosser Teil der Exporte landet, wird erstmals Kritik laut – im Wahljahr hat dies besondere Brisanz.

unverkauftes Getreide auf einem Hof im polnischen Sędziejowice
Demnächst wird die neue Ernte erwartet – und die Speicher sind noch voll: Unverkauftes Getreide auf einem Hof im polnischen Sędziejowice. Foto: Bartek Sadowski, Getty

Auf den Ackerflächen im Süden Polens beginnt Anfang Mai der Raps gelb zu blühen. Die Landwirt:innen des Landes können sich bislang, anders als ihre Kolleg:innen im Westen Europas, über mangelnde Niederschläge und Trockenheit nicht beschweren. Sie klagen über anderes: darüber, dass sie ihr Getreide zuletzt nicht verkaufen konnten und die Preise stark gesunken sind – beim Raps, beim Mais und vor allem beim Weizen, dessen Preis bis vierzig Prozent niedriger notiert als noch im Sommer 2022. Der Grund: importiertes ukrainisches Getreide.

Im Mai 2022 hatte die EU den zollfreien Import und Transit von ukrainischem Getreide erlaubt, zunächst für ein Jahr. Dies, weil Russland seit der Invasion einen Teil der Transportwege über das Schwarze Meer blockiert. Die Ukraine versorgte vor dem Krieg vor allem afrikanische Staaten mit Getreide; doch nun landet ein grosser Teil der Güter auf den Märkten in Osteuropa – in Polen, Ungarn, Bulgarien und der Slowakei. Denn inländische Grosshändler und Mühlen kauften im grossen Stil das günstigere Getreide aus der Ukraine. Allein in Polen wurden bislang geschätzte vier Millionen Tonnen Weizen, Mais und Raps aus dem Nachbarland aufgekauft. Die Folge: stark sinkende Preise und ein Überangebot.

Lange liess dies Polens nationalkonservative PiS-Regierung geschehen. Doch angesichts heftiger und wochenlanger Bäuer:innenproteste entschied sie sich für eine Wende um 180 Grad – und blockierte Mitte April den Import. Ungarn, die Slowakei und kurz danach auch Bulgarien folgten. Doch vor allem Polen steht im Fokus – wegen seiner Grösse und Bedeutung.

Böses Blut zwischen Stadt und Land

Grzegorz Rzepa baut in der südpolnischen Gemeinde Wielowieś auf seinen etwa hundert Hektaren grossen Ackerflächen Weizen, Gerste und Mais an, dazu produziert er jährlich etwa 200 000 Liter Kuhmilch. Seine Einbussen beim Getreide seien immens, sagt er im Gespräch. «Wir fühlen uns betrogen. Denn im vergangenen Jahr hat man uns gesagt: ‹Verkauft euer Getreide nicht.›»

Selbst Agrarminister Henryk Kowalczyk empfahl den Bäuer:innen im Sommer 2022, mit dem Verkauf zu warten. Begründung: Die Preise würden wieder steigen. Anfang April wurde Kowalczyk entlassen – denn die Preise stürzten noch weiter ab. Polens Regierung sagte den Landwirt:innen nun Hilfen im Umfang von rund 2,2 Milliarden Euro zu. «Aber ich bin immer skeptisch, wenn es um Hilfen der Regierung aus Steuergeldern geht», sagt Rzepa. «Denn das schafft böses Blut zwischen Dorf und Stadt. Die Städter können wieder sagen: ‹Ihr bekommt Geld aus unseren Mitteln.›»

Der Familienvater ist nicht gegen Polens Unterstützung für die Ukraine. «Wir sollten den Menschen helfen und die Flüchtlinge aufnehmen – und das tun wir. Doch wir können nicht auf unsere Kosten die Wirtschaft der Ukraine retten.» Die Blockade der ukrainischen Importe sei daher im Prinzip richtig. «Doch es ist zu spät. Denn bald kommt die neue Ernte, während unsere Speicher voll sind – und die Getreidehändler kaufen im Moment nicht auf.» Auch der EU-Kompromiss sei daher fragwürdig, sagt Rzepa.

Kern dieses Kompromisses zwischen EU-Kommission, Polen, Ungarn, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien (den sogenannten MOE-Staaten) ist, dass die osteuropäische Blockade zu einer EU-Bestimmung wird – immerhin ist das Aussenhandelsregime der EU alleinige Kompetenz Brüssels. Laut Beschluss von Ende letzter Woche dürfen Weizen, Mais, Raps sowie Sonnenblumensamen und -öl aus der Ukraine in den fünf MOE-Staaten mindestens bis zum 5. Juni nicht verkauft werden. Eine Verlängerung des Verbots über das Datum hinaus gilt als wahrscheinlich.

Der Transit, auch in andere EU-Staaten, soll indes weiter möglich sein. EU-Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis sprach von «Sicherungsmassnahmen», ohne aber Details zu nennen. Auch sagte die Kommission den fünf Ländern Hilfen von über 150 Millionen Euro zu. Zeitgleich vereinbarten die EU-Regierungschef:innen, die seit Mai 2022 geltende Zollfreiheit für den Export ukrainischer Agrarprodukte in die EU um ein weiteres Jahr bis Sommer 2024 zu verlängern.

Das erste ernsthafte Zerwürfnis

Die Ukraine reagierte sofort und äusserst brüskiert auf die Beschränkungen des Imports in die MOE-Staaten. Präsident Wolodimir Selenski sagte: «Wenn Russland gegen die Handelsfreiheit verstösst und versucht, die Versorgung des Weltmarkts mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu blockieren, ist dies definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um dem schlechten Beispiel zu folgen und etwas Ähnliches zu tun.» Die Entscheidung der fünf Länder und der EU sei «destruktiv». Das Aussenministerium in Kyjiw übermittelte sowohl Polen als auch Brüssel offizielle Protestnoten, in denen es die Beschränkungen als «kategorisch inakzeptabel» wertet. Sie verstiessen gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Union sowie gegen Grundsätze des EU-Binnenmarkts.

Der langjährige polnische EU-Abgeordnete Jacek Saryusz-Wolski (PiS), der 2014 geholfen hatte, das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine durch das EU-Parlament zu bringen, sagte gegenüber Medien, es gebe im Abkommen «Schutzklauseln in Form von Zollkontingenten – Lösungen, wie sie heute von der EU-Kommission auf Drängen Polens und anderer Länder angewendet werden». Die Aufhebung der Zölle im Mai 2022 «war Ausdruck politischer Empathie gegenüber der Ukraine, es war aber keine rechtliche Verpflichtung». Die ukrainische Seite verstehe das EU-Recht nicht und verhalte sich gegenüber Polen illoyal. «Sie schadet sich selbst, indem sie sich gegen die Länder wendet, die ihre wichtigsten Verbündeten sind und ohne die die EU-Politik gegenüber der Ukraine viel, viel schlechter aussehen würde.»

Es ist das erste ernsthafte Zerwürfnis zwischen Polen und der Ukraine seit Kriegsbeginn. Selbst der Raketeneinschlag im polnischen Przewodów im November 2022, bei dem eine fehlgeleitete ukrainische Rakete zwei Menschen tötete, führte nicht zu grösseren Dissonanzen. Nun aber stehen auf polnischer Seite handfeste Interessen. Nicht nur diejenigen der Bäuer:innen, sondern auch jene von Polens Führung. Im Herbst wird ein neues Parlament gewählt. Und das Rennen ist offen.

Polens Dörfer und Kleinstädte sind PiS-Stammland. Um dem Unmut der Bäuer:innen zu begegnen – die rund 1,5 Millionen Landwirt:innen bilden knapp zehn Prozent aller Beschäftigten –, hat die Regierung den Schwerpunkt des Wahlkampfs nun vollends auf «lokale Investitionen» gelegt. PiS-Chef Jarosław Kaczyński sagt: «Es ist nicht im Interesse unserer ukrainischen Freunde, dass Polen in die Krise stürzt und hier Leute an die Macht kommen, die unsere Politik der radikalen Unterstützung für die Ukraine ändern.»

Mit den «Leuten» meint der PiS-Chef vor allem die nationalistisch-libertäre Konfederacja. Das Parteienbündnis aus drei Kleingruppierungen muss man in der Tat auf der Rechnung haben. Auch weil die im Parlament vertretene Konfederacja als einzige Partei im Land deutliche Kritik an Polens Ukrainekurs übt, dürften ihre derzeit rund zwölf Prozent an Zustimmung in Umfragen nicht das maximale Potenzial darstellen. Zumal sich ihre Kritik, in subtilere Worte gekleidet, inzwischen auch in Medien des Mainstreams findet. Bogusław Chrabota, Chefredaktor der Tageszeitung «Rzeczpospolita», schreibt etwa vom «Ende der Flitterwochen der europäischen Öffentlichkeit mit der kämpfenden Ukraine». In Kyjiw indes denke man «die ganze Zeit, dass die ukrainischen Privilegien für die Ewigkeit sind».

Der Ukraine weiter helfen

Tatsächlich sagen derzeit viele Landwirt:innen: Wir wollen helfen, aber es gibt Grenzen. Grzegorz Wilczok bewirtschaftet als Landwirt rund 200 Hektaren Land, hat eine Firma für landwirtschaftliche Maschinen und lehrt als promovierter Ingenieur für Agrarwirtschaft an einer Hochschule in Wrocław. «Zu Beginn des Krieges hat niemand ein Problem gesehen, es ging um die berechtigte Hilfe für das kriegsgeplagte Land», sagt er. Doch nun müsse man jenseits des mit der EU geschlossenen Kompromisses langfristig Lösungen finden – auch weil für das ukrainische Getreide geringere Umwelt- und Pestizidauflagen gälten als in der EU. «Man könnte wieder Zölle auf ukrainische Agrarprodukte einführen – doch dies ist in der EU angesichts des laufenden Krieges kaum durchsetzbar.» Ein besserer Weg wäre für Wilczok, «dass das Getreide, das durch unser Land fährt, vorab einen vertraglich gesicherten Abnehmer ausserhalb der EU hat». Denn es sei klar: «Wir müssen der Ukraine weiter helfen.»

Während der Raps gelb blüht, zerbricht sich Anton Maglicz (Name geändert) den Kopf. Der Landwirt, der am Rand des südpolnischen Industriereviers 56 Hektaren vorwiegend in Pacht bewirtschaftet, sieht die wirklichen Probleme erst kommen. «Die Krise wird erst im nächsten Jahr voll durchschlagen», sagt der 52-Jährige. Und die Regierung und die versprochenen Hilfen? «Wenn die Bauern nicht protestiert hätten, hätte die PiS nichts gemacht. Ich habe sie vor vier Jahren gewählt, mit Inbrunst. Heute sehe ich: Es war der grösste Fehler. Man darf sich nicht kaufen lassen.»

Globale Auswirkungen : Russland droht, das Abkommen zu sabotieren

Der Getreidekonflikt zwischen der Ukraine und den fünf mittel- und osteuropäischen Staaten Polen, Ungarn, Slowakei, Bulgarien und Rumänien (MOE-Staaten) ist umso diffiziler, als am 18. Mai zugleich die Übereinkunft zwischen Russland und der Ukraine abläuft, die den Transport ukrainischen Getreides über die drei ukrainischen Schwarzmeerhäfen Odesa, Tschornomorsk und Piwdennyj ermöglicht.

Vor dem Krieg lieferten die Ukraine und Russland fast ein Viertel der globalen Getreideexporte. Nach der russischen Invasion in die Ukraine drohte im Globalen Süden eine Hungerkatastrophe. Am 22. Juli 2022 unterzeichneten die Ukraine und Russland unter Uno-Vermittlung jeweils getrennt mit der Türkei ein Abkommen, um von drei Häfen Ausfuhren aus der Ukraine zu ermöglichen.

Doch nun droht Russland, aus dem Abkommen auszusteigen. Moskau verlangt etwa die Aufhebung der Sanktionen gegen die Rosselkhozbank (Russische Landwirtschaftsbank), die Wiederaufnahme der Lieferungen von Landmaschinen nach Russland oder die Freigabe der Auslandsguthaben russischer Firmen aus dem Bereich Produktion und Transport von Lebens- und Düngemitteln. Kommt keine Verlängerung des Abkommens zustande, dürfte die Route über die EU an Bedeutung gewinnen.

Doch die in Brüssel vereinbarte Lösung für die fünf MOE-Staaten (vgl. Haupttext oben) dürfte höchstens eine kurzfristige sein und lässt Fragen offen. Bäuer:innenverbände der MOE-Staaten fürchten sogenannte Reexporte ukrainischer Agrarprodukte aus anderen EU-Staaten. Solche Reexporte sind im EU-Binnenmarkt kaum kontrollierbar. Denn auf lange Sicht scheint klar: Nicht nur die MOE-Staaten sind im Rahmen der bisherigen Handelsregelungen mit der Ukraine nicht konkurrenzfähig. Denn der Export ukrainischer Agrargüter geht zu einem grossen Teil auf einige Dutzend riesige ukrainische Agroholdings zurück. Sie bewirtschaften hocheffizient Flächen zwischen 100 000 und 600 000 Hektaren. Mehr als die Hälfte der Ackerflächen am Dnjepr sind fruchtbare Schwarzerden. Bei vielen dieser Grosserzeuger sind in den vergangenen Jahren westliche Investoren eingestiegen.