Marokkanische Erntearbeiterinnen: Solidarität im Zeichen der Erdbeere

Nr. 20 –

Auf den Feldern im südspanischen Huelva leiden die Pflückerinnen. Doch die gewerkschaftliche Organisierung ist eine Herausforderung.

Landarbeiterinnen in der Nähe von Huelva westlich von Sevilla
Wer zu wenig pflückt, wird bestraft: Landarbeiterinnen in der Nähe von Huelva westlich von Sevilla. Foto: Adri Salido, Getty

Eine Woche lang ist die 37-jährige Marokkanerin Soumia Benelfatmi El Garrab durch die Schweiz gereist und hat über die Arbeitsbedingungen der Erdbeerpflückerinnen auf den Feldern im südspanischen Huelva erzählt. Die Aktivistin der andalusischen Landarbeiter:innengewerkschaft Soc-Sat wurde vom Solifonds eingeladen. Jetzt sitzt sie in Bern auf einem Podium der gewerkschaftsnahen Solidaritätsorganisation und sagt gleich zu Beginn ihrer Ausführungen: «Wir müssen wie die Tiere leben.»

Junge Mütter bevorzugt

In der südspanischen Provinz Huelva, die Teil der Region Andalusien ist, befindet sich das grösste Erdbeeranbaugebiet Europas. Ein Feld nach dem anderen liegt hier unter Plastiktunnels. Zehntausende Erntearbeiter:innen, davon rund 16 000 Frauen aus Marokko, pflücken von Januar bis Juni Hunderttausende Tonnen der roten Früchte, die grösstenteils in andere europäische Staaten exportiert werden.

«Die Pflückerinnen leben unter ständigem Druck, das Mindestsoll zu erfüllen», sagt El Garrab. Die Tagesleistung werde mit einer Farbe bewertet: grün, gelb, rot. Wer zu wenig pflückt, wird bestraft und darf drei Tage lang nicht arbeiten. Bezahlt werde nicht der gesetzliche Mindestlohn von 55,18 Euro pro Tag, sondern meist nur zwischen 40 und 45 Euro. Überstunden würden nicht entgolten. In den Containern, in denen die Arbeiterinnen untergebracht sind, liessen sich die Fenster nicht schliessen. Es gebe Unternehmen, die den Frauen ihre Papiere wegnähmen. Wer mit Gewerkschaften spreche, riskiere, entlassen zu werden. Es herrsche ein Klima der Angst.

Portraitfoto von Soumia Benelfatmi El Garrab, Pflückerin
Soumia Benelfatmi El Garrab, Pflückerin

«Die meisten der marokkanischen Pflückerinnen sind junge Mütter, die ihre Kinder in Marokko zurücklassen müssen», sagt Zaina Issayh von der marokkanischen Landarbeiter:innengewerkschaft FNSA, die El Garrab auf ihrer Tour durch die Schweiz begleitet. Der spanische Staat gebe bevorzugt jungen Müttern eine saisonale Arbeitserlaubnis – so sei gewährleistet, dass sie nach ihrem Arbeitseinsatz in ihre Heimat zurückkehrten.

Im Publikum sitzt an diesem Tag auch Nora Komposch. Die Sozialgeografin der Universität Bern forscht seit zweieinhalb Jahren zu den marokkanischen Erntearbeiterinnen in Huelva. Besonders interessiert sie sich für den Zugang der Erntearbeiterinnen zum Gesundheitssystem. Wie für die Gewerkschaften ist es auch für sie nicht einfach, mit den Arbeiterinnen in Kontakt zu kommen, da diese Angst hätten, von ihren Chefs gesehen zu werden. So hat sie die Frauen etwa während ihrer Einkäufe in Supermärkten angesprochen. Interviewt habe sie sie dann oft in ihrem Auto irgendwo in einem Wald.

«Nicht selten arbeiten die Frauen so lange, bis sie krank werden», sagt Komposch. Alles sei auf eine möglichst hohe Produktivität ausgerichtet. «Wenn Arbeiterinnen aufgrund einer Krankheit oder einer Schwangerschaft nicht mehr die volle Arbeitsleistung erbringen können, werden sie oftmals ohne finanzielle Kompensation nach Marokko zurückgeschickt.»

Die Frauen haben laut Komposch nicht nur wegen der harten körperlichen Arbeit oft gesundheitliche Probleme wie etwa Rückenschmerzen. Viele litten auch unter der schlechten Luft durch die angrenzenden Chemiewerke und die vielen Pestizide, mit denen der Boden und die Pflanzen behandelt würden. Hinzu kommen auch Übergriffe von Vorgesetzten: 2018 gingen mehrere Frauen wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigungen vor Gericht und wurden dabei von der Soc-Sat unterstützt.

Auch El Garrab bekam nach vierzehn Jahren Schuften auf den Erdbeerfeldern schwere gesundheitliche Probleme. Im Spital wurden Allergien und eine Atemwegserkrankung diagnostiziert. «Mein Chef drohte mir, er würde die Polizei rufen, wenn ich Probleme mache», sagt sie. Dann habe er sie entlassen. Ihre Klage dagegen wurde abgeschmettert. Später erhielt El Garrab dann eine Stelle bei der Gewerkschaft.

Inzwischen habe diese ein paar Verbesserungen erreicht: «Wir können nun die Unterkünfte der Arbeiterinnen besichtigen.» Frauen dürfen jetzt auch nach einer gewissen Frist das Unternehmen wechseln. Und die Behörden würden wegen des internationalen Drucks weniger wegschauen und auch mal unangekündigte Inspektionen machen. «Es braucht internationale Solidarität und mehr internationale Zusammenarbeit, um die Unternehmen zu zwingen, die Arbeitsbedingungen und die Wohnverhältnisse der Pflückerinnen zu verbessern», sagt die Gewerkschafterin.

Der Solifonds, der dieses Jahr seinen 40. Geburtstag feiert, unterstützt die Soc-Sat in Huelva seit 2019. Er half, eine Anlaufstelle zu finanzieren, in der sich die Pflückerinnen ungestört mit den Gewerkschafter:innen austauschen können, und finanziert jetzt den Einsatz der marokkanischen Gewerkschafterin Zaina Issayh in Huelva, um die Zusammenarbeit zwischen der FNSA und der Soc-Sat zu verbessern.

Die Schweizer Solidaritätsorganisation leistet vor allem punktuelle Hilfe. Sie sammelt Geld für Bewegungen und Gewerkschaften in der ganzen Welt. «Daneben stellen wir auch Öffentlichkeit her», sagt die Koordinatorin Yvonne Zimmermann. Und sie setzt darauf, dass sich die internationale Solidarität ausweitet und auch stärker von Schweizer Gewerkschaften mitgetragen wird.

Unterstützt werden vom Solifonds meist prekarisierte Beschäftigte – in den Ländern des Südens stellen sie die Mehrheit. «Dort arbeiten bis zu neunzig Prozent im informellen Sektor», sagt Zimmermann. Doch es gibt diese Arbeitsformen auch in der Schweiz. So erzählt die polnische Arbeiterin Bozena Domanska an diesem Tag auf dem Podium in Bern, wie sie in der Schweiz jahrelang als 24-Stunden-Betreuerin arbeitete, schlecht bezahlt wurde und schliesslich ein Burn-out erlitt. Und es spricht die ehemalige Sans-Papiers Dorkas Blanco, die in Genf den Haushalt von zwei Familien besorgte, sich trotzdem keine Wohnung leisten konnte und schwer krank wurde. Für beide war die gewerkschaftliche Organisierung der entscheidende Punkt, um ihre Lage zu verbessern.

Auf dem Podium in Bern sitzen auch Schweizer Gewerkschafter:innen: «Prekarität erkennt sich gegenseitig sofort», sagt Unia-Gewerkschafter Roman Künzler, der die Logistikbranche organisiert. Ein Merkmal der Prekarität sei, dass sie oft von Frauen geprägt sei. «Prekarität wird durch fehlende staatliche Regulierung geschaffen», sagt VPOD-Zentralsekretärin Natascha Wey. Gewerkschaften müssten sich für die Regularisierung der Beschäftigten einsetzen. «Wer nicht legal ist, ist verletzlich und angreifbar.»

«Es sind die Unternehmer, die die Schwarzarbeit organisieren», sagt SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard. Alle sollten zu den gleichen Bedingungen arbeiten; Löhne und Gesamtarbeitsverträge sollten nicht durch Schwarzarbeit unterboten werden. «Es braucht kollektive Aktionen und Öffentlichkeit, um das zu ändern.» Es sei das Herz der Gewerkschaftsarbeit, die Prekären zu organisieren.

In einem globalen Kontext ist diese Organisierung nochmals weit herausfordernder als in einem nationalen. Das zeigt nur schon das Beispiel der marokkanischen Pflückerinnen. «Viele Personen, mit denen ich in Marokko geredet habe, erzählten mir dasselbe», sagt Nora Komposch. «Sie verlieren vor Ort ihre Lebensgrundlage und sehen sich gezwungen zu gehen.»

Wegen der Klimakatastrophe würden immer mehr Leute ihre Arbeit verlieren, gleichzeitig steigen die Nahrungsmittelpreise. In Marokko herrschte vergangenes Jahr eine starke Dürre, auch dieses Jahr hat es viel zu wenig geregnet. Ein Kilo Kartoffeln kostete früher 10 Cents, heute sind es 1,20 Euro. «Viele können von ihrem Lohn nicht mehr leben», sagt auch El Garrab. Landarbeiterinnen verdienen in Marokko 8 Euro pro Tag.

Alles hängt miteinander zusammen. Roman Künzler von der Unia sagt: «Die Welt verändert sich. Die Klimakrise ist der grösste Motor der Prekarisierung.» Menschen würden dadurch vertrieben. Es brauche sichere Routen und Netzwerke. Für Yvonne Zimmermann muss internationale Solidarität vor allem konkreter werden: «Dabei geht es nie nur um die Arbeitsbedingungen, sondern generell um ein würdiges Leben für alle.» Welche Rolle die Gewerkschaften darin spielen, bleibt an diesem Nachmittag allerdings offen.

Für einen Boykott

Dabei ist die Klimakatastrophe ja längst auch in Europa angekommen: Gerade in Spanien herrschen diesen Frühling Dürre und Hitze. «Das macht sich auch auf den Erdbeerfeldern bemerkbar», sagt Sozialgeografin Komposch. Die Pflanzen würden schlechter wachsen, die Erntesaison werde kürzer, letztlich würden dadurch weniger Beschäftigte gebraucht.

Dazu kommt die schleichende Umweltkatastrophe, für die die Erdbeermonokulturen verantwortlich sind. So trocknet der Nationalpark Doñana, der in der Nähe der Plantagen liegt, wegen illegaler Grundwasserbohrungen aus. Der Park hat für die Biodiversität eine hohe Bedeutung, beispielsweise überwintern viele Zugvögel dort. Wasser wird in Südspanien generell immer knapper. Wie unter diesen Umständen längerfristig die Erdbeerproduktion aufrechterhalten werden kann, ist offen, ob sie in der Form überhaupt sinnvoll ist, mehr als fraglich.

Soumia Benelfatmi El Garrab sagt, sie fände es gut, wenn Erdbeeren aus Huelva boykottiert würden. Und weiter: «Ich würde die sowieso nicht essen, da sind viel zu viele Pestizide dran.»