Judith Hofmann: «Ich will mich nicht von der Angst leiten lassen»

Nr. 22 –

Oft musste sie sich wehren: Das Arbeitsklima am Theater sei besser geworden, sagt die Schauspielerin Judith Hofmann – aber von allein und ohne öffentlichen Druck ändere sich wenig.

Judith Hofmann sitzt mit einem Kaffee in der Hand im Freien
Das Klischee von der freundlichen Schweiz? «Das ist vorbei», sagt Judith Hofmann, die nach Jahrzehnten im Ausland wieder hier lebt.

WOZ: Judith Hofmann, nach über dreissig Jahren in Wien, München, Hamburg und Berlin leben Sie jetzt wieder in der Schweiz: Beschreiben Sie den Kulturschock, bitte.

Judith Hofmann: Sicher hat sich das Land verändert, seit ich es 1989 verlassen habe. Zürich ist viel voller geworden. Aber als ich heute durch Berlin gelaufen bin, weil ich im Deutschen Theater noch einzelne Sachen spiele, dachte ich: Wahnsinn, wie sich die Städte überall zu ähneln beginnen. Ein paar Klischees sind so auch verschwunden, etwa das Bild der freundlichen Schweiz. In jungen Jahren erschrak ich nach einem Besuch in der Heimat jeweils, wenn ich nach Berlin oder Wien zurückging, weil der Ton da wirklich rauer war. Das ist vorbei, als hätte die Schweiz aufgeholt. Vor dem Zug oder dem Theater sehe ich heute eine Skiliftmentalität: Man schaut sich nicht an und drängelt vor (lacht).

Sie haben 2019 den Schweizer Filmpreis für Ihre Rolle in «Der Unschuldige» bekommen. Für «Alle reden übers Wetter», einen Erstlingsfilm, der an der Berlinale gezeigt wurde, gab es viel Aufmerksamkeit in Deutschland – in der Schweiz hatte er nicht einmal einen Verleih. Komplett getrennte Welten?

Nicht ganz: Für «Der Unschuldige» wurde ich auch für den Deutschen Schauspielpreis nominiert. Und umgekehrt werden Schweizer Produktionen auch mit deutschen Schauspieler:innen besetzt. Es gibt schon Vermischungen, aber auch Grenzen, stimmt. Ich war erstaunt, dass «Alle reden übers Wetter» in der Schweiz keinen Verleih fand. Und zum Schweizer Filmpreis: «Der Unschuldige» hat sehr gute Kritiken bekommen, ist im Kino aber nicht gut gelaufen, dafür auf Festivals. Beruflich hatte er für mich bisher aber keine Auswirkung.

An den besten Häusern

Die gebürtige Zürcherin Judith Hofmann (57) studierte ab 1989 in Wien am Max-Reinhardt-Seminar Schauspiel. Zuletzt war sie dreizehn Jahre am Deutschen Theater in Berlin, wo von Reinhardt, dem jüdischen Theaterinnovator des frühen 20. Jahrhunderts, eine Büste auf dem Vorplatz steht. Dazwischen spielte Hofmann stets in den Ensembles der besten Häuser im deutschsprachigen Raum, erst in München am Residenztheater, dann in Wien am Burgtheater.

Nach ihrer Zeit in Wien begann eine lange Arbeitsbeziehung mit dem Intendanten Ulrich Khuon (der nun für die Spielzeit 2024/25 interimistisch das Schauspielhaus Zürich leiten wird). Khuon holte Hofmann 2001 ans Hamburger Thalia-Theater, 2009 zog sie mit ans Deutsche Theater in Berlin. Ein Jahr vor Khuons Abschied verliess Hofmann das Ensemble und zog 2022 nach über dreissig Jahren zurück in die Schweiz, der sie über die Jahre auch durch viele Filme verbunden geblieben ist, etwa in der Hauptrolle in Simon Jaquemets «Der Unschuldige» (2018), für die sie den Schweizer Filmpreis erhielt.

Ihr Arbeitsmittelpunkt waren die grossen Theaterhäuser in sehr unterschiedlichen Städten. Gab es da Kulturschocks?

In Wien und München lieben die Leute ihr Theater, sie kämpfen dafür. Entgegen dem kühlen nordischen Klischee ist das übrigens auch in Hamburg so, wo ich bei Ulrich Khuon am Thalia-Theater war und wir alle eine gute und erfolgreiche Zeit hatten. Der Schock kam, als ich 2009 mit Khuon nach Berlin ans Deutsche Theater ging. Die Kritiken waren enorm harsch, das Publikum distanziert. Wir mussten uns die Gunst erobern. Wir hatten einmal ein Projekt mit der Regisseurin Jette Steckel, das in Hamburg auf Gastspielreise Standing Ovations erhalten hat. Zu Hause in Berlin: halb leer. Der Kulturschock, das war Berlin.

Das wurde bald viel besser. Ulrich Khuons Intendanz geht nun nach vierzehn Jahren zu Ende, und die Rückblicke sind alle wohlwollend. Sie spielen noch ein paar Inszenierungen zu Ende, haben das Ensemble aber schon letztes Jahr verlassen. Warum?

Mein Vater ist gestorben, und meine Mutter leidet an Demenz und kann nicht mehr alleine wohnen. Da wollte ich nicht so weit weg sein. Sie half mir wahnsinnig viel mit meinen beiden Kindern, sonst hätte ich diesen Beruf nicht machen können. Bei den Endproben, in den letzten zwei Wochen vor der Premiere, kam sie oft angereist und hat sich um die Kinder gekümmert. Und nun braucht sie halt Hilfe. Aber ich will auch so immer wieder weg. Noch nie war ich so lange an einem Ort gewesen wie diese dreizehn Jahre in Berlin. Und klar kommt nun hinzu, dass die Rollenangebote für Frauen in meinem Alter dünner werden. Gleich viele Frauen, weniger gute Rollen: schwierig.

Das heisst, selbst das öffentlich subventionierte Stadttheater hat Mühe mit älteren Spielerinnen?

Ja, absolut! Meine Entscheidung, wegzugehen, liegt aber auch an der abnehmenden Geduld, wenn man älter wird. Dass man nicht immer Lust hat, ständig auf Abruf zu sein, nicht planen zu können, zwischen Probe und Vorstellung hin und her zu rennen, Wünsche zu erfüllen und dabei darauf angewiesen zu sein, was andere mit einem «vorhaben». Im Moment komme ich auch mit weniger Einnahmen eine Weile durch, und das möchte ich jetzt einfach mal probieren.

Das Problem ist bekannt: Frauen erhalten weniger gute Rollen als alternde Männer. Wo ist das schlimmer, im Theater oder im Film?

In meiner Erfahrung eindeutig im Film.

Warum?

Weil es viel mehr ums Geld geht. Arthouse-Filme besetzen zwar oft nicht so geschlechterstereotyp. Aber die subventionierten Theater können sich mehr erlauben: Frauen in Männerrollen oder Überschreibungen von Klassikern etwa. Das gilt noch nicht einmal als besonders experimentell. Ich erinnere mich an «Das Käthchen von Heilbronn» in der Regie von Andreas Kriegenburg von 2011, als wir alle Texte des Käthchens sprachen, aber auch von Graf Wetter vom Strahl. Oder daran, wie wir mit dem Schweizer Regisseur Rafael Sanchez, auch im Deutschen Theater in Berlin, Shakespeares «Coriolanus» ausschliesslich mit Frauen spielten. Die Rollen derart gegen den Strich zu besetzen, ist im Film viel seltener.

Nun hat sich einiges verändert, was Gleichstellung angeht. Es gibt mehr wichtige Regisseurinnen als nur schon vor fünfzehn Jahren. Das Berliner Theatertreffen hat sogar eine Frauenquote von fünfzig Prozent in der Regie eingeführt.

Das finde ich grossartig! Allerdings: Nicht lange vor der Pandemie habe ich auf den drei Bühnen des Deutschen Theaters nachgezählt: Auf der grössten Bühne waren zehn Inszenierungen von Männern und eine von einer Frau, auf der mittleren waren es noch immer mehr Männer, und in der kleinen Box war es ausgeglichen. Das haben wir im Haus angesprochen. Wir stiessen damit auf Verständnis, aber auch auf viel Widerstand. Theoretisch: alles okay. Praktisch nicht mehr so. Solche Veränderungen geschehen nicht ohne öffentlichen Druck, von allein und von innen heraus passiert wenig. Es stimmt, es inszenieren nun mehr Frauen als früher. Und die Quote beim Theatertreffen hat bestimmt einige Häuser dazu verleitet, mehr Frauen inszenieren zu lassen, weil damit auch die Chancen stiegen, zu diesem renommierten Festival eingeladen zu werden. Meine ersten Begegnungen sowohl im Theater als auch im Film waren allerdings mit Frauen. Amélie Niermeyer hat mich im Theater als Anfängerin sehr gefördert, und bei Sabine Boss und Bettina Oberli habe ich jeweils in ihren ersten Langfilmen mitgemacht. Auch danach habe ich mit vielen Frauen arbeiten können, zum Beispiel mit Petra Volpe, Barbara Kulcsar oder Katalin Gödrös.

Am Tag dieses Interviews stehen Sie abends auf der Bühne in «Einsame Menschen», in der Regie von Daniela Löffner. Und Annika Pinska hat den Film «Alle reden übers Wetter» gemacht, in dem Sie eine übergriffige Professorin spielen. Inszenieren Frauen anders, gerade was Themen wie Intimität oder Machtmissbrauch angeht?

Ich glaube, das ist keine Frage des Geschlechts, sondern der Sensibilität und der Empathie. In Löffners aktualisierter Version von Gerhart Hauptmanns «Einsame Menschen» gibt es Nacktheit und eine Sexszene zwischen zwei Männern. Sie ging sehr behutsam an diese Szene heran und wusste genau, was sie damit erzählen möchte. Ich habe die Szene nie gesehen, da ich mich währenddessen in der Garderobe umziehen muss. Ich möchte sie aber auch nicht sehen, weil ich Nacktheit auf der Bühne je länger, je weniger mag. Auch Annika Pinska, die Regisseurin von «Alle reden übers Wetter», geht sehr fein vor und vermeidet die billigen Effekte, auch bei Themen wie Machtmissbrauch.

Weil sie Frauen sind?

Marcel Gisler ist im Film «Rosie», in dem es auch Sex und Nacktheit gibt, genauso umsichtig damit umgegangen. Aber jetzt nenne ich nur die Feinen beim Namen, natürlich gibt es auch andere.

Und was macht man als Schauspielerin, wenn es hart wird oder grenzwertig oder unangenehm?

Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr merke ich, in wie vielen Situationen ich mich wehren musste und es auch getan habe. Damit meine ich nicht sexuelle Übergriffe, sondern dass ich mich für meine Rechte einsetzen musste, dafür, dass ich nicht kleingemacht oder manipuliert wurde. Das ging früh los, in der Schulzeit und auch während der Schauspielschule, und setzte sich im Theater fort. Ich setze mich auch ein, wenn ich Ungerechtigkeit bemerke, die in meiner Gegenwart geschieht. Diese Aufmüpfigkeit und das Glück, mit vielen sensiblen, kollegialen Regisseur:innen zu tun gehabt zu haben, haben mich heil bis ins Heute gebracht. Vielleicht hatte ich auch das Glück, nicht so dem Typ Frau entsprochen zu haben, zu der man gleich sagte: «Hey, komm doch mal mit aufs Zimmer.»

Karrieren sind dadurch zerstört worden, das wissen wir ja heute …

Ja, ich kenne solche Fälle persönlich, im Zusammenhang mit dem verstorbenen Fernsehfilmregisseur Dieter Wedel. Es gibt aber auch Beispiele, die nicht mit sexuellen Übergriffen zu tun haben, die das damalige Klima beschreiben. Als ich Mitte der neunziger Jahre in München am Residenztheater war, wurde die Schauspielerin Juliane Köhler vom Intendanten Eberhard Witt rausgeschmissen, weil sie wegen der Dreharbeiten zu «Aimée & Jaguar» in seinen Augen vertragsbrüchig geworden war. Zusammen mit einem Kollegen habe ich eine Unterschriftensammlung im Theater gestartet, mit nur einem Satz: «Wir finden es schade, dass Juliane Köhler gehen muss.»

Und was passierte dann?

Aus Angst wurde die interne Unterschriftensammlung dem Intendanten nicht persönlich übergeben. Sie wurde im Haus aufgehängt und war sehr lang, Köhler wurde trotzdem entlassen und kam erst beim nächsten Intendanzwechsel zurück ins Ensemble. Ich kann mich auch an Gehaltsverhandlungen in München erinnern, als ich anlässlich einer Vertragsverlängerung um eine Erhöhung bat. Da wurde ich zusammengeschrien, ich würde niemals auf dem Niveau der Kollegin XY spielen können. Na gut, dachte ich, dann will ich nicht zwei weitere Jahre bleiben, sondern nur eins. Nach einigen Wochen bot mir der Intendant sogar mehr an als von mir erfragt. Ich habe natürlich nicht Nein gesagt, fands aber saublöd, erst so behandelt werden zu müssen, und nahm kurz darauf ein Angebot vom Wiener Burgtheater an.

Das ist eine privilegierte Situation. Viele Kolleginnen konnten sich ihre Aufmüpfigkeit bestimmt nicht leisten …

«Ich will mich nicht von der Angst leiten lassen», dieser Satz ist für mich ganz wichtig. Und ich gehe damit manchmal ein grosses Risiko ein, denn so viel hat sich in den Strukturen noch nicht geändert. Sehen Sie, ich hätte hier am Deutschen Theater eventuell die Chance gehabt, unkündbar zu werden, falls mich die neue Intendantin, die im Sommer anfängt, in ihr Ensemble übernommen hätte. Aber ich bin gegangen, bevor diese Entscheidung fällig wurde, ohne berufliche Absicherung. Manchmal wird mir auch ganz mulmig (lacht).

Während der Pandemie wurde im Theater über Machtmissbrauch gesprochen wie noch nie, über Hierarchien, auch über Verträge. Was hat das bewirkt?

Schon vor Corona haben wir hier ein Ensemblebündnis gegründet, aus dem Wunsch, dass sich die Berliner Schauspieler:innen besser vernetzen. Als die Pandemie losging, wollten wir das Netzwerk nutzen, um uns für die Gäste starkzumachen, die nicht fest angestellten Kolleg:innen. Wir organisierten einen runden Tisch mit den Leitungen der Berliner Häuser, dem Bühnenverein und der Berliner Kulturpolitik. Wir hatten keinen kurzfristigen Erfolg, aber unsere Solidarität zeigte dennoch Wirkung. Ausserdem gibt es jetzt «Fairstage», eine Initiative, die bei der Kulturverwaltung des Landes Berlin angesiedelt ist.

Das sind Instrumente, um die Situation zu verbessern. Hat sie sich verbessert?

Ja, Machtmissbrauch anzusprechen, ist viel einfacher geworden, man wird gehört. Es kippt schon fast eher, dass manche abwinken und denken: Ach, nicht schon wieder.

Der Backlash …

Meine Erfahrung und mein Gefühl: Jene, die schon immer grenzwertig unterwegs waren, finden andere Wege, ihr Machtbedürfnis auszuleben. Die kann man nicht retten. Es passiert aber viel bei denen, die sich bislang eher unbewusst danebenbenommen haben und nun gewillt sind, zu lernen. Die einen verstecken es halt besser, aber noch mehr sind mittlerweile wirklich sensibilisiert. Es geht aber nicht nur um Missbrauch, sondern um Arbeitsbedingungen und anständige Bezahlung. Da gibt es, jedenfalls an den deutschen Theatern, noch viel Luft nach oben. Auf der Bühne «predigen» und daneben Missstände durchwinken ist heuchlerisch. Ob sich die Dinge wie mit dem Fliegen in der Pandemie entwickeln – erst denken alle: Super, geht ja; dann ist wieder fast alles wie davor –, werden wir sehen.