Rekordwerte für die AfD: Die Brandmauer bröckelt

Nr. 27 –

In Deutschland ist die AfD in einigen Umfragen die zweitstärkste politische Kraft. Jetzt stellt sie sogar erstmals einen Bürgermeister. Wie konnte es dazu kommen?

AfD-Fraktion im niedersächsischen Landtag.
Viele Herzen für fossile Heizungen, keines für «fremde» Menschen: AfD-Fraktion im niedersächsischen Landtag. Foto: Julian Stratenschulte, Keystone


Mit der Alternative für Deutschland (AfD) ist es offenbar wie mit einem Horrorfilm. Mit der Zeit geht der Schrecken verloren. In Deutschland scheinen sich viele daran gewöhnt zu haben, dass sich eine rechtsradikale Bewegung etabliert hat. Immer mehr Menschen geben dieser Partei ihre Stimme: Anfang Juli gewann ein AfD-Politiker die Bürgermeisterwahl in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Ende Juni wurde in Thüringen zum ersten Mal ein AfDler zum Landrat gewählt. Bundesweit steht die Partei derzeit in Umfragen bei bis zu zwanzig Prozent – und damit noch vor der SPD, die immerhin den Kanzler stellt.

Journalisten und Politikerinnen erklären das Umfragehoch mit den üblichen Argumenten: Sie führen die Erfolge der AfD wahlweise auf eine angeblich um sich greifende Wokeness, das Gendern, die Migration oder auf die vermeintliche Demokratieunfähigkeit Ostdeutschlands zurück, wo die Partei besonders stark ist. Doch diese monokausalen Erklärungen greifen zu kurz. Denn die aktuelle Stärke der AfD basiert auf einem Bündel anderer Ursachen.

Da ist zunächst die Unzufriedenheit mit der rot-grünen Bundesregierung, die so gross ist wie seit langem nicht mehr. So geben zwei Drittel der AfD-Anhänger:innen an, die Rechtsradikalen deshalb wählen zu wollen, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind. Gleichzeitig gelingt es der CDU/CSU nicht, von der Schwäche der Regierung zu profitieren. Die Union steht zwar momentan auf Platz eins in den Umfragen, stagniert dort aber trotz wachsender Unzufriedenheit mit der Bundesregierung bei knapp dreissig Prozent. Auch deshalb positioniert sich die Union verstärkt gegen gendergerechte Sprache und Cancel Culture als angeblich grösste Bedrohung der Meinungsfreiheit. Damit bestellt sie diskursiv das Feld, das mittel- und langfristig von der AfD abgeerntet wird. Zudem kommt der Rechten zugute, dass nach Jahren der offen ausgetragenen Macht- und Richtungskämpfe in der Partei inzwischen disziplinierter und leiser gestritten wird. So fällt kaum auf, dass die Partei in geopolitischen Fragen gespalten ist. Da sind jene, die eher auf die transatlantische Zusammenarbeit setzen. Sie stehen denen gegenüber, die sich an Russland orientieren.

Schleichende Normalisierung

In der aktuellen Diskussion geht unter, dass sich die Normalisierung der AfD bereits vor einem Jahr angedeutet hat. Zwar konnte die Partei in den vergangenen Wochen in den Umfragen um etwa fünf Prozentpunkte zulegen. Aber eine ähnliche Entwicklung gab es bereits im Sommer 2022. Damals standen die Sorgen vor einer Ausweitung des Kriegs in der Ukraine, vor einer Rezession und vor unbezahlbaren Heizkosten im Mittelpunkt der politischen Debatte.

Der AfD kam das zugute. Erhebungen zufolge schätzt ihre Klientel die eigene ökonomische Situation schlechter ein, als es diejenige anderer Parteien tut. Die Umfragen zeigen auch: Für AfD-Wähler:innen spielt das Thema Einwanderung mit Abstand die grösste Rolle. Den Rechten gelingt es seit Jahren, sozioökonomische Probleme wie Ungleichheit mit Migrationspolitik zu verbinden und aus der sozialen Frage zwischen oben und unten eine zwischen innen und aussen zu machen, wie es AfD-Politiker Björn Höcke schon häufiger ausgedrückt hat.

All das führt dazu, dass die AfD heute mehr denn je als normale Partei wahrgenommen wird. Laut einer aktuellen Umfrage geben inzwischen nur noch 55 Prozent der Befragten an, die AfD unter keinen Umständen wählen zu wollen. Das sind deutlich weniger als 2020, als noch 74 Prozent angaben, diese Partei grundsätzlich nicht wählen zu wollen. 2018 lag dieser Wert bei 66 Prozent. Während heute die Ablehnung gegenüber der AfD so gering ist wie nie, wuchs sie also zwischen 2018 und 2020 an. Die Normalisierung der AfD konnte in diesem Zeitraum gestoppt werden.

Um das zu verstehen, hilft ein Blick auf den Spätsommer und Herbst 2018. Damals stand die AfD schon einmal bei knapp zwanzig Prozent. Die damalige schwarz-rote Bundesregierung hatte ähnlich miese Zustimmungswerte wie die heutige Koalition; ein Streit um die Flüchtlingspolitik innerhalb der Unionsparteien konnte erst beigelegt werden, als Bundeskanzlerin Angela Merkel ankündigte, sich nach der Legislaturperiode zurückzuziehen.

Der vorübergehende Sinkflug der AfD nach dem Herbst 2018 hatte schon zuvor eingesetzt, als ihre Spitzenfunktionär:innen in die Kritik gerieten, weil sie bei einer Demonstration in Chemnitz Schulter an Schulter mit Neonazis marschierten. Danach nahm der Verfassungsschutz die AfD ins Visier. Das hatte zur Folge, dass die parteiinternen Macht- und Richtungskämpfe wieder Fahrt aufnahmen, weil sich die um ein bürgerliches Image bemühten Kräfte zumindest nach aussen hin demonstrativ von rechtsradikalen Tendenzen abgrenzen wollten.

Dass die AfD im Winter 2018/19 schnell wieder in Richtung zehn Prozent Zustimmung sank, ist auch auf die bundesweite Bewegung zurückzuführen, die sich angesichts der Stärke der Rechten formiert hatte: An mehreren Orten in Deutschland fanden sich unter verschiedenen Hashtags Bündnisse zusammen, um diese Entwicklung zu stoppen. In Chemnitz versammelten sich unter dem Motto #wirsindmehr 65 000 Menschen zu einem Konzert gegen rechts, in München demonstrierten bei den #ausgehetzt-Demos regelmässig Zehntausende und konnten damit sogar CSU-Chef Markus Söder dazu bewegen, gegen Ende des Landtagswahlkampfes die AfD frontal zu attackieren. In Berlin gingen bei der #unteilbar-Demo rund eine Viertelmillion Menschen auf die Strasse.

Im EU-Parlament isoliert

Nun zeigt sich, dass die Normalisierung nur vorübergehend aufgehalten werden konnte. Mit einer erfolgreichen rechts des traditionellen Konservatismus etablierten Partei folgt jetzt auch Deutschland dem Trend, der in fast allen Ländern Europas zu beobachten ist. Dennoch scheint die AfD ein Sonderfall zu sein. Denn die meisten Rechtsparteien in Europa haben in den vergangenen Jahren zumindest rhetorisch, oft aber auch programmatisch abgerüstet und sich in Richtung Mitte orientiert. Die AfD aber bewegt sich seit ihrer Gründung vor zehn Jahren kontinuierlich nach rechts und steht inzwischen so weit aussen, dass andere Rechtsparteien in Europa lieber auf Abstand gehen. So spielt sie bei Überlegungen einer geeinten rechten Fraktion im Europaparlament nach den Wahlen im kommenden Jahr kaum eine Rolle. Der Grund: Die AfD steht mit ihrer Forderung nach einem Austritt aus der EU zu weit rechts für Parteien wie Fidesz in Ungarn, die Lega in Italien oder das Rassemblement National in Frankreich.

Der Höhenflug der AfD könnte noch andauern, der Krieg im Osten Europas und die Inflation dürften zu einer Verschärfung materieller Sorgen bei vielen führen. Es gelingt der Partei momentan sehr erfolgreich, diese Nöte direkt anzusprechen, indem sie russisches Gas und Freiheit bei der Heizungswahl verspricht. Ausserdem vermittelt sie erfolgreich das Gefühl, einen gerechtfertigten Kampf gegen Klimaaktivist:innen, Feminismus, Linke und Migration führen zu müssen.

Angst vor Wagenknecht

Mit diesem viele Menschen ansprechenden Rezept könnte die AfD bei anstehenden Wahlen die glänzenden Umfragewerte in grandiose Ergebnisse verwandeln. Das gilt besonders für Sachsen, Brandenburg und Thüringen, wo 2024 abgestimmt wird und wo die AfD jeweils stärkste Kraft werden könnte. Mit einer Regierungsbeteiligung dürfte es trotzdem erst einmal nichts werden, denn die anderen Parteien schliessen eine Zusammenarbeit ausdrücklich aus. Wie lange die sogenannte Brandmauer tatsächlich halten wird, ist schwer abzusehen. Schliesslich gibt es in Ostdeutschland durchaus CDU-Politiker:innen, die einer Tolerierung einer AfD-Regierung durch die CDU aufgeschlossen gegenüberstehen.

Die AfD selbst schaudert es momentan nur vor einem: dem Schreckgespenst einer möglichen Parteigründung um Sahra Wagenknecht. Im Mai ergab eine Umfrage, dass eine Wagenknecht-Partei ein Stimmpotenzial von neunzehn Prozent hätte. Unter den «Die Linke»-Anhänger:innen könnte sich jede:r Zweite vorstellen, eine solche Partei zu wählen. Unter den AfD-Unterstützer:innen sind es sogar sechzig Prozent.