Kost und Logis: Weinverriss à la Dürrenmatt

Nr. 28 –

Ruth Wysseier hat ein Hühnchen zu rupfen

«Das Gesöff hat einen aus den Schuhen gehauen.» Das hielt Friedrich Dürrenmatt einst über den Wein aus unserer Gegend fest. Der erste Sommer, den er mit seiner Frau Lotti in Schernelz verlebte, keine 500 Meter entfernt von der Stelle, wo ich dies schreibe, jener Sommer also sei eine Einübung in die Sintflut gewesen, es habe ununterbrochen geregnet, der Wein sei gotteslästerlich ausgefallen.

Mit einem solchen Auftakt gerät dieser Text kaum in den Verdacht der Schleichwerbung, der ja naheliegend wäre, wenn eine Winzerin vom Bielersee über ihre Gegend schreibt.

Es kommt noch schlimmer: In Dürrenmatts 1949 entstandenem Stück «Romulus der Grosse», bei dem das Morgenessen die Hauptrolle spielt und der Zerfall des Römischen Reichs eher beiläufig abgehandelt wird, gibt es dauernd «Spargelwein». Spargelwein? Meint er damit etwa unseren Chasselas? Ein Beleg dafür, dass es sich um mehr als eine historische Fiktion handelt, ist laut Wikipedia bislang nicht aufgetaucht. Dürrenmatts Erläuterung im Programmheft zur Uraufführung 1949, «Spargelwein wurde aus Spargelwurzeln gewonnen», sei ironisch gemeint. Und wie sollen wir uns einen solchen Wein vorstellen? Es steigt einem unweigerlich der Geruch von Urin nach Spargelgenuss in die Nase. Vielen Dank auch!

Dürrenmatts Fehler: Er war zu spät nach Schernelz gezügelt. Über den Jahrgang 1947 ist bekannt, dass der Sommer heiss und trocken war – es war das heisseste Jahr seit Beginn der Temperaturmessungen – und grossartige, fruchtige, sehr körperreiche Weine hervorbrachte. Die alten Leute erzählen, es sei ein Witwenjahrgang gewesen, die Männer hätten sich daran zu Tode gesoffen. Also war der 47er nach Dürrenmatts Zuzug wohl ausgetrunken, und er machte Bekanntschaft mit dem 48er aus einem kalten, nassen, regenreichen Sommer.

Dürrenmatt liess in seinen Stücken gern auserlesene Weine auftreten, in der «Panne» etwa den Château Margaux oder den Pichon-Longueville, und im «Romulus» rühmt der Kaiser – weil man in der heutigen Zeit das Beste trinken müsse – den Falerner, den schon der Dichter Horaz besungen hatte. Aber in Dürrenmatts Schernelzer Jahren lagen Luxusweine nicht im Budget. Die junge Familie, mausarm, wohnte mit dem ersten Kind bei der Schwiegermutter im Dorf und zog dann auf die Festi, den Standort einer ehemaligen Burg. Dort konnte er schliesslich für den «Beobachter» zwei Fortsetzungsromane schreiben: «Der Richter und sein Henker» und «Der Verdacht».

Im Sommer 2016 wurde auf dem Festi-Weingut «Der Richter und sein Henker», das in der Gegend spielt, als Freilichttheater aufgeführt. Diesen Sommer werden wir «Romulus der Grosse» sehen. Die Bühne wird im Rebberg aufgebaut, die Hauptrollen spielen professionelle Schauspieler:innen, und die Festi-Hühner proben schon ihren Auftritt in diesem hühnerreichen Stück. Und danach werden wir auf Friedrich den Grossen anstossen; der 2022er, so hört man in der Gegend, soll ausgezeichnet sein.

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee und Germanistin. Sie fand in ihrer Bibliothek eine «Romulus»-Fassung von 1964 mit Dürrenmatts Anmerkungen, was die wahre Grösse dieses kaiserlichen Hühnerzüchters und als Narr verkleideten Weltenrichters ausmache. www.romulusdergrosse.ch