Auf allen Kanälen: Eine der Mutigsten

Nr. 34 –

Die Reporterin Jelena Kostjutschenko soll in München vom russischen Geheimdienst vergiftet worden sein. Sie hatte hartnäckig über die schwindenden Freiräume in ihrem Land berichtet.

Elena Kostyuchenko

Zeit ihres journalistischen Lebens hat sich Jelena Kostjutschenko mit den Mächtigen angelegt. In den Texten, die sie in ihren siebzehn Jahren für die «Nowaja Gaseta» schrieb, nahm sie nicht nur Mafiosi, Schlägertrupps und Zuhälter ins Visier, sondern auch die Behörden in der Peripherie und den Machtapparat im Zentrum. Dass sich diese Mächtigen solchen Mut nicht gefallen lassen, war leider abzusehen: Laut einem aktuellen Bericht des Investigativmagazins «The Insider» wurde die 35-Jährige letzten Herbst während eines Münchenbesuchs wohl vom russischen Geheimdienst vergiftet. Ähnlich erging es mutmasslich zwei weiteren Regimekritikerinnen: der Reporterin Irina Bablojan in Tiflis und der Aktivistin Natalija Arno in Prag.

Kostjutschenko war letzten Oktober nach München gefahren, um beim ukrainischen Konsulat ein Visum zu beantragen. Auf dem Rückweg fiel ihr der eigene unangenehme Körpergeruch auf, wie sie dem russischen Exilmedium «Meduza» erzählte. «Auf der Zugtoilette merkte ich, wie verschwitzt ich war. Der Schweiss roch stark nach verfaultem Obst.»

In den kommenden Tagen wurden die Symptome immer schlimmer: Kopf- und Bauchschmerzen, Orientierungslosigkeit, Schwellungen an Fingern und im Gesicht, Herzrasen. Als Ärzt:innen den Verdacht äusserten, sie könnte vergiftet worden sein, habe sie mit ihrer Partnerin Witze gemacht: «Klar, wenn du eine russische Journalistin bist, muss es eine Vergiftung sein!» Inzwischen hat die Berliner Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen; Kostjutschenko erholt sich nur langsam.

Eindrückliche Kriegszeugnisse

Der mutmassliche Giftanschlag in München ist nicht das erste Mal, dass Jelena Kostjutschenko aufgrund ihrer Arbeit ins Visier gerät. Nachdem sie sich 2011 gegen Homophobie und Diskriminierung ausgesprochen hatte («Warum ich heute zur Pride gehe»), wurde sie von einem orthodoxen «Aktivisten» auf offener Strasse angegriffen. Für ihren Einsatz für die LGBTIQ+-Community – in einem Land, in dem der Hass auf diese zur Staatsdoktrin gehört – wurde sie mehrfach festgenommen.

In welcher Gefahr sich Kostjutschenko befand, wurde letztes Jahr endgültig klar. Nur einen Tag nachdem das russische Regime seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hatte, reiste sie ins Nachbarland. Sie wollte, dass die Menschen in Russland von den Gräueltaten erfuhren, die in ihrem Namen begangen wurden. Ihre Reportagen gehören zum Eindrücklichsten, was bisher über diesen Krieg erschienen ist: Sie dokumentierte, wie russische Soldaten im besetzten Cherson Zivilist:innen folterten, besuchte das umkämpfte Mikolajiw, fuhr nach Odesa.

Obwohl die «Nowaja Gaseta» zu diesem Zeitpunkt bereits die Arbeit einstellen musste, war die Reporterin Ende März auf dem Weg ins belagerte Mariupol – als sie erfuhr, dass man sie ermorden wollte. «Du musst sofort das Land verlassen», befahl Chefredaktor Dmitri Muratow. Als sie nach einiger Zeit in Westeuropa zurück nach Russland wollte, rief dieser sie erneut an: «Du kannst nicht zurück, sie werden dich töten.» So landete Kostjutschenko in Berlin, wo sie für «Meduza» zu arbeiten begann – und von wo aus sie die verhängnisvolle Reise nach München antrat.

Berühmte Vorbilder

Was Kostjutschenkos Journalismus ausmacht, ist nicht nur die Kampfansage an die Mächtigen – sondern auch die Beschreibung jener Ungerechtigkeiten, mit denen die Wehrhaften kleingehalten werden sollen. Lange vor den Reportagen aus der Ukraine hielt sie fest, wie die Polizei in der kasachischen Ölstadt Schangaösen 2011 auf protestierende Arbeiter schoss. Sie war 2012 dabei, als die drei Künstlerinnen von Pussy Riot für ihr Punkgebet verurteilt wurden, berichtete 2015 über Frauen, die bei der Geiselnahme in Beslan Angehörige verloren hatten.

Kostjutschenko als Chronistin eines Russlands, in dem die Freiräume immer kleiner wurden: Das hat auch mit ihrem Weg in den Beruf zu tun. Nach ersten Erfahrungen bei einer Lokalzeitung in ihrer Heimatstadt Jaroslawl wollte sie zur «Nowaja Gaseta», wo damals eine andere mutige Frau (und Kostjutschenkos Vorbild) beschäftigt war: Anna Politkowskaja. Die Reporterin, die mit ihren Berichten aus dem kriegsversehrten Tschetschenien berühmt wurde, bezahlte ihren Mut kurze Zeit später mit dem Leben. Kostjutschenko zum Schweigen zu bringen, das haben sie glücklicherweise nicht geschafft.