Literatur: Tessiner Abgründe

Nr. 35 –

Mit einem empathischen und analytischen Blick erfasste Aline Valangin in den vierziger Jahren den Kosmos eines Tessiner Dorfes.

Aline Valangin, hier mit Wladimir Rosenbaum
Kompromissloser Blick auf eine vermeintliche Idylle: Aline Valangin, hier mit Wladimir Rosenbaum (undatierte Aufnahme). Foto: Nachlass von Valangin/Rosenbaum, Limmat Verlag

Schauplatz von Aline Valangins Tessiner Geschichten ist immer ein namenloses Dorf zuhinterst in einem engen Tal direkt an der italienischen Grenze. Hier, erzählt in zwei Romanen und einer Reihe von Erzählungen, ringen der Gutsbesitzer und seine Schwestern um die Macht im Haus, die Wirtin grämt sich über ihren ungeratenen Sohn, der Pfarrer versucht, die Moral zu erhalten. Das ergibt zunächst ein altbekanntes Sittengemälde, das jedoch Risse aufweist. So irritiert, dass einer der Stammgäste im Wirtshaus «Frauchen» genannt wird, zu Hause Röcke trägt und seine Einsamkeit nur mit einer Kuh teilt. Dass die Männer auf dem Gut seit Generationen Patriarchen wider Willen sind, sich der Tradition fügen – oder davor fliehen. Und dass auch der letzte dann doch zurückkehrt und die Macht ausnutzt, bis hin zum sexuellen Übergriff auf seine hübsche Tochter.

Von der Mutter erpresst

Nein, es ist keine harmlose Idylle, die Aline Valangin in ihren Texten vorstellt. Als ausgebildete Psychoanalytikerin warf die Schriftstellerin einen liebevollen, aber kühl analysierenden Blick auf den Kosmos des Tessiner Dorfes, das ihr zweiter Wohnsitz war. Geboren wurde sie als Aline Ducommun 1889 in Vevey. Das Pseudonym als Schriftstellerin wählte sie nach dem neuenburgischen Dorf, in dem ihre hugenottischen Vorfahren während der Glaubenskriege Zuflucht gefunden hatten. Aline begann eine Ausbildung zur Konzertpianistin in Lausanne, wurde aber von ihrer besitzergreifenden Mutter immer wieder nach Hause beordert, sogar mit erpresserischen Mitteln wie dem – unbegründeten – Telegramm «Mutter sterbend. Komme sofort». In ihrer kleinen Schrift «Mutter» hat Aline Valangin nach dem Tod der Mutter 1921 diese schwierige Beziehung geschildert.

1917 heiratete Aline Ducommun den Jurastudenten Wladimir Rosenbaum. Er war im Alter von acht Jahren mit seiner Mutter und seiner Schwester vor antisemitischen Pogromen in Belarus in die Schweiz geflohen. Nach fünf Jahren übergab ihn seine Mutter einer Schweizer Familie und kehrte nach Minsk zu ihrem Mann zurück. Aline Valangin schrieb später, dass sie gespürt hatte, dass der Mann keinen Boden unter den Füssen hatte und jemanden brauchte.

Reiche Exot:innen aus Zürich

Das Paar lebte in Zürich, Wladimir Rosenbaum begann – bald sehr erfolgreich –, als Anwalt zu arbeiten. Valangin musste ihre Karriere als Pianistin indes wegen einer Handverletzung abbrechen. Beide liessen sich vom Psychoanalytiker und Jung-Schüler Herbert Oczeret therapieren. Oczeret empfahl seinen Patient:innen und Schüler:innen die freie Liebe, wobei er sich gerne als «Übungsobjekt» anbot. Valangin wies ihn zurück und nahm lieber den Vorwurf der «Zicke» in Kauf. Später wurde sie seine Assistentin. Ein paar Jahre später wurde Oczeret wegen Missbrauch angeklagt und floh aus der Schweiz.

Die Erfahrung von Unterdrückung und Übergriffen schlug sich in den Texten von Aline Valangin nieder. Sie debütierte 1936 mit Gedichten auf Französisch, 1937 erschien ihr erster Prosaband auf Deutsch: «Die Leute vom Tal». Damit hatte sie Ort und Schauplatz ihres Schreibens gefunden: Comologno im Onsernonetal. 1929 hatten Wladimir Rosenbaum und Aline dort den Palazzo «La Barca» erworben und verbrachten ihre Sommer von da an im Tessin. Wie in ihrem grossen Haus in Zürich boten sie auch hier vielen Menschen Zuflucht, die aus den faschistischen Ländern geflohen waren, unter ihnen Elias Canetti, Max Ernst, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Ignazio Silone. Die faszinierende Geschichte dieses Paares ist nachzulesen in Peter Kambers «Geschichte zweier Leben – Wladimir Rosenbaum & Aline Valangin».

Die Barca wurde renoviert, auf der Terrasse ein Schwimmbecken gebaut, und wenn die Rosenbaums in ihrem Cabrio die enge Strasse hochfuhren, liefen die Kinder zusammen, um sie zu bestaunen. Diese Reichen aus Zürich waren Exot:innen für die arme Talbevölkerung. In ihren «Tessiner Erzählungen» macht Aline Valangin ihre besondere Stellung im Dorf transparent: Sie ist einerseits die Signora, die «Sciora», andererseits aber zunehmend die Vertraute mancher Frauen, da sie oft auch allein in der Barca weilte. Daher hatte sie tieferen Einblick in das Leben der Bewohner:innen, als gewöhnliche Sommergäste das gehabt hätten. Neben amüsanten Geschichten über kleine Betrügereien finden sich in dem Band auch Texte, die wie tragische Fallstudien einer Psychoanalytikerin anmuten. Etwa die Erzählung über Stella, deren Vater sie einsperrt und sie kein eigenes Leben beginnen lässt. Andere, wie «Missverständnisse», sind ein Stück Sozialgeschichte und berichten vom Versuch, durch das Spinnen von Wolle den Frauen im Tal Arbeit und einen Verdienst zu besorgen. Torpediert wird das Experiment von den Ehemännern, die ihre Stellung als Alleinverdiener gefährdet sehen.

Das Dorf im Krieg

1944 erschien in der Büchergilde Gutenberg Aline Valangins Roman «Die Bargada». Er erhielt von der Presse viel Aufmerksamkeit, auch wenn der schwermütige Grundton moniert wurde und die Missbrauchsgeschichte vor allem männlichen Kritikern nicht gefiel. Heute beeindruckt diese feministische Familiengeschichte, die differenziert und ohne voreilige Schuldzuweisungen die patriarchalen Strukturen deutlich macht. Als Fortsetzung schrieb Aline Valangin «Dorf an der Grenze», die Geschichte des ganzen Dorfes während des Zweiten Weltkriegs. Die Büchergilde Gutenberg lehnte den Text ab mit der Begründung, er sei eine «Provokation», wie sich die Autorin viel später erinnerte.

Das kann wenig überraschen, denn die lebendig und originell geschilderte Dorfgemeinschaft zeigt sich im Krieg nicht von ihrer besten Seite. Als die ersten jüdischen Italiener:innen über die Berge in die Schweiz fliehen, sind die Menschen mitleidig und hilfsbereit. Als der Grenzwächter von Bern die Weisung erhält, alle Flüchtlinge an der Grenze zurückzuschicken, protestieren sie zunächst heftig, werden aber bald abgelenkt. Denn nun kommen die Schmuggler. Zuerst bringen sie Reis, dann auch Kleider, Schmuck, Haushaltswaren – und das Dorf, das sich am Handel mit geschmuggeltem Reis bereichert hat, gönnt sich diesen kleinen Luxus gerne. Dass zwischen den Schmugglern auch zwei Widerstandskämpfer über die Berge gekommen sind, merken nur wenige – und nur eine hilft ihnen. Es ist die Besitzerin der «Bargada», die zum Ende mit ihnen weggeht. Und sich damit von der unheilvollen Tradition des Gutshofs (aus dem Vorgängerroman) befreit.

Aline Valangin beschreibt die Vorgänge klar und kompromisslos in knapper Sprache. Sie verbrachte den ersten Kriegswinter in Comologno mit ihrem neuen Lebenspartner Wladimir Vogel, dem als Geflüchtetem in der Schweiz die Internierung drohte. So hatte sie miterlebt, wie schwankend die Haltung der Dorfbewohner:innen war und dass Solidarität bald dem Profit zuliebe aufgegeben wurde. Als am Kriegsende Gefechte zwischen den faschistischen Soldaten und den Partisanen bis über die Grenze drangen und unter den Toten auch Menschen aus dem Dorf waren, trat die grosse Erschütterung ein. «Wir sind alle stumpf gewesen wie Rindvieh», fasst der Lehrer zusammen. «Wir haben uns mit Kniffen und Kurzweil durch die schwere Zeit geschmuggelt und gedacht, wenns nur gut geht, für den Rest … me ne frego, ist mir wurst. Etwa nicht?»

Aline Valangin: «Die Bargada». Roman. Limmat Verlag. Zürich 2022. 224 Seiten. 30 Franken.

«Dorf an der Grenze». Roman. Limmat Verlag. Zürich 2023. 224 Seiten. 30 Franken

«Tessiner Erzählungen». Limmat Verlag. Zürich 2018. 320 Seiten. 37 Franken.