«Oh Boy»: Diese neue Männlichkeit sieht ziemlich alt aus

Nr. 35 –

Der Sammelband «Oh Boy» wurde erst abgefeiert – bis ein Beitrag darin eine Kontroverse nach sich zog. Doch die Probleme des Buches reichen tiefer.

Soll man das Feld von hinten oder von vorn aufrollen? Fangen wir irgendwo im vorderen Drittel an. Da gabs Anfang Juli etwa einen Beitrag im deutschen Fernsehen, im SWR-«Kulturmagazin». Porträtiert wurde der Schriftsteller Valentin Moritz. Auf der Tonspur sang Robert Smith von The Cure «Boys Don’t Cry», und eine Frauenstimme erklärte, dass Moritz sich gerade zum ersten Mal von einem Freund die Haare schneiden lasse, «was bisher immer die Freundinnen gemacht haben». Moritz selber ergänzte, es sei befreiend, wenn körperliche Nähe zu anderen Männern entsexualisiert sei, also niemand sage, du bist schwul, wenn man einem anderen Mann zu nahe komme, was ja «bis heute sanktioniert» werde. Als Zuschauerin fragte man sich leise verwundert, in welchem vergangenen Jahrzehnt man da unversehens gelandet war. Der Song von The Cure, der Moritz’ Dilemma bereits sehr gut auf den Punkt bringt, stammt aus dem Jahr 1979.

Ungefähr zeitgleich mit dem TV-Porträt erschien «Oh Boy», ein Sammelband mit literarischen und essayistischen Beiträgen zum Thema «Männlichkeit*en heute». Valentin Moritz hat das in schreiendem Pink aufgemachte, «sehr persönliche Debattenbuch», wie es im SWR-Beitrag genannt wurde, gemeinsam mit Donat Blum aus der Schweiz herausgegeben, beide haben selber auch eine Geschichte beigesteuert.

«Grillwolke der Männlichkeit»

Das Medienecho war zunächst wohlwollend. Voll des Lobes war etwa die «taz»: «Die Auswahl der Autor:innen ist ein Treffer, verschieden alt, unterschiedlich Mann, unterschiedliche sexuelle Vorlieben …» Und auch der «Tages-Anzeiger» befand, die Texte von «Oh Boy» seien «erste Schritte, der Verschwiegenheit mit Sprache entgegenzutreten. Das ist grossartig.» Die FAZ funkte ironisch dazwischen, beschrieb die Berliner Buchvernissage auf nicht weniger als drei Bühnen knapp maliziös unter dem Titel «Die Grillwolke der Männlichkeit».

Auch in einer grundsätzlich positiven Besprechung von Deutschlandfunk Kultur wurde Kritik laut: Die Lektüre von «Oh Boy» lohne sich vor allem für «Leute ohne Vorwissen». Explizit erwähnt wurde die Geschichte von Valentin Moritz. O-Ton Rezensent: «Er schreibt darüber, dass er selber einen Übergriff begangen hat, die Grenzen einer Frau überschritten hat. Und ich fand, das sei ein sehr eitler Text, weil er sich nur mit sich selber beschäftigt.»

Moritz’ Geschichte war es dann auch, die Mitte August, nachdem eine gekürzte Version davon in der «Annabelle» erschienen war, zu einer heftigen Debatte führte – mit dem vorläufigen Resultat, dass der kleine Kanon-Verlag das Buch heute nicht mehr ausliefert. Eine Frau hatte sich über das Nachrichtenportal «rbb24» und anonym über Instagram mit dem Vorwurf gemeldet, Moritz habe sich mit seinem Text über ihre explizite Willensäusserung hinweggesetzt. Sie habe ihn mehrfach gebeten, weder den Übergriff, dessen Opfer sie gewesen sei, literarisch zu verwenden, noch beim Buchprojekt zum Thema Männlichkeit mitzuarbeiten.

Der Verlag versuchte sich zu wehren und wirkte in zwei sich widersprechenden Statements erratisch. Die Rezeption kippte – für das ganze Buch. Der Bayerische Rundfunk kam nun zum Schluss, das Buch diene «vor allem männlicher Bedürfnisbefriedigung», und eine Besprechung im Blog «54Books» bilanzierte: «Bei vielen Texten in ‹Oh Boy› geht es damit gar nicht zuerst um männliche Selbsthinterfragung, die auch Antworten hervorbringen soll, sondern um emotionale Expressivität, also den Ausdruck von möglichst viel Selbstmitleid oder Schuldgefühlen bis hin zum Kitsch.»

Wer erst heute zum Buch greift, wundert sich tatsächlich etwas über die positiven ersten Rezensionen. Sie haben zum Teil ziemlich unbedarft einen Titel und eine Ansage gefeiert: Hier denken Männer kritisch über sich und ihr Geschlecht nach! Die Qualität der Texte war kaum je Thema.

Banalitäten und Klischees

Wie viel Naivität und Befindlichkeitsprosa frisch von der Leber weg darfs denn sein? Das gilt nicht nur für den Beitrag von Moritz. Gleich mehrere Stücke erschöpfen sich (und uns) in Banalitäten und Klischees: Sprachlosigkeit, Nichtdazugehören, Nabelschau, Hadern mit Vätern. «Krieger oder Loser» heisst eine Geschichte, «Fragen an meinen Vater» eine andere, und eine dritte beklagt seitenlang das Gefühl, «nicht genug ‹Mann› zu sein». Die durchaus umfangreiche, seit den 1970er Jahren existierende Männlichkeitsforschung bleibt hier auf einen kurzen Verweis auf den «Körperpanzer» aus Klaus Theweleits Klassiker «Männerphantasien» im Vorwort beschränkt. Die einzige Frau im Band, die Autorin Mithu Sanyal, schneidet in ihrem Nachwort ein paar weitere Studien an. Aber wäre das nicht besser ein Ausgangs- als ein Schlusspunkt für ein Buch gewesen? Und warum schlägt man nicht mehr Brücken zum Feminismus?

Es lässt sich nur zu gut nachvollziehen, dass die vom Übergriff betroffene Frau vom Buch wie auch von den grossspurigen Vernissagen und der unkritischen Rezeption irritiert war. Im erwähnten TV-Beitrag beschreibt Moritz den eigenen Text, dem er den Titel «Ein glücklicher Mensch» gab, als schmerzhaft: «keine leichte Kost, weder ihn zu lesen noch ihn zu schreiben». Im Text selber steht der Satz: «Und dass ich meine Handlung zwar benennen, zum Schutz von Persönlichkeitsrechten aber nicht in einen Kontext stellen darf, ist eher bedrückend als erleichternd.»

Gegen solche Selbststilisierungen des Autors zum Opfer wollte die Frau ihr Mitspracherecht am erlebten Übergriff behaupten. Wurde doch mit dem publizierten Text ihre Gewalterfahrung veröffentlicht, vervielfältigt, verbreitet – und dabei einzig durch den Täter definiert, der sich nun auch noch mit Attributen wie «selbstkritisch» und «nachdenklich» schmücken darf.

Kein tragfähiges Mittel

Es geht also um eine zweifach überschrittene Grenze; um die öffentliche Erwähnung eines Übergriffs, und dies zum Zweck männlicher Selbstfindung, Befreiung, Glückssuche (ein grosser Teil des Texts handelt vom Glück des Frisbeespielens mit Freund Jan). Doch letztlich geht es um ein insgesamt unterreflektiertes Buch, das nun implodiert. Der autofiktionale Ansatz vieler Texte im Band – wie gehts mir, wo drückt mein Schuh? – ist schlicht kein tragfähiges Mittel, um einem so komplexen, diffusen Gebilde wie Männlichkeit relevante und vor allem selbstkritische Konturen zu geben.

Dass mit der Selbstreflexion und -hinterfragung dieser «kritischen Männlichkeit» etwas nicht stimmt, zeigt auch ein Interview, das Donat Blum letzte Woche den Tamedia-Publikationen gab. Blum erklärt darin, Moritz «benutze» in seinem Text den Vorfall gar nicht, sagt weiter, wenn Moritz «sich als Täter eines sexualisierten Übergriffs bezeichnen» wolle, dann müsse er «das doch dürfen». Weder Moritz als Autor noch sie beide als Herausgeber hätten je ein «Nein» der Frau nicht akzeptiert. Für autofiktional schreibende Menschen sei es fundamental, «dass meine Geschichte mir gehört». Der Satz «Ich habe einen sexualisierten Übergriff begangen» in Valentin Moritz’ Text soll demnach autofiktional wahr sein und zugleich doch nichts mit einer realen Frau zu tun haben. Es geht also – einmal mehr – nur um ihn.