Kost & Logis: Lieber keine bleichen Poulets im Heim

Nr. 38 –

Ruth Wysseier über die Hürden der Inklusion

Neulich war ich im Theater, man gab das Stück «Pour un monde meilleur» in der Salle communale im bernjurassischen Tavannes, vor 200 Leuten. Ich war da wegen Kelly, meinem Patenkind, die wochenlang von den Proben erzählt hatte.

Kelly ist in die Arbeitswelt integriert mit ihrer Trisomie 21, sie ist Hilfshauswartin. Im Stück tritt sie als Concierge im Laden des Glücks auf, ihre Textzeile lautet: «Wieder ein schöner Tag, um zu putzen!» Auch die vierzehn anderen Schauspieler:innen leben mit einer kognitiven Behinderung. Es gab natürlich stürmischen Applaus trotz kleiner Pannen und Patzer. Gemeinsam hatten sie das Stück erarbeitet, in dem die Menschen zuerst separiert leben, sortiert nach Eigenschaften: im Museum der Furcht, im Garten der Trauer, im Saal des Zorns und im Laden des Glücks. Am Ende schliessen sie sich zusammen und erleben, dass es die Verschiedenheit braucht, um sich gegenseitig unterstützen zu können und voranzukommen. Eine Parabel über die Inklusion. Es war ein gelungener Anlass, und dennoch fühlte ich einen kleinen Stich: Das Publikum setzte sich vorwiegend aus Familienangehörigen und Mitgliedern der jurassischen Insieme-Organisation zusammen. Wir waren eine «geschlossene» Gesellschaft von Betroffenen.

Auch wegen Kelly ging ich Ende April nach Bern zur Lancierung der Inklusionsinitiative. Der Vorplatz des «Progr» war voller Menschen, viele im Rollstuhl. Islam Alijaj, Buchautor und SP-Politiker mit Zerebralparese, hielt eine kämpferische Rede. Olga Manfredi von Inclusion Handicap forderte, dass allen Menschen mit Behinderung die nötigen Hilfsmittel garantiert werden, damit sie selber bestimmen können, wie sie wohnen und leben. Sie wolle nicht in ein Heim und chlorgebleichte Poulets aus Brasilien essen müssen, sagt sie mir nach der Veranstaltung. Selbstbestimmt leben zu können: Mit diesem Anliegen will die Initiative auch die ältere Bevölkerung erreichen und so ihre Schlagkraft verstärken. Schliesslich werden die meisten von uns irgendwann behindert, wenn wir nur lange genug leben.

Die Initiative erfährt viel Sympathie, einige bekannte grüne Politiker:innen schauten kurz auf ein Selfie vorbei. Inklusion – da sind ja alle dafür, auch der Arbeitgeberverband fordert, man müsse Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen im Arbeitsmarkt halten. Doch die Umsetzung harzt. Laut einer Umfrage des Bundesamts für Sozialversicherungen haben 87 Prozent der Firmen die Frage «Haben Sie in den letzten drei Jahren beeinträchtigte Personen oder IV-Renten-Bezüger, die nie vorher bei Ihnen gearbeitet hatten, in Ihrem Unternehmen eingestellt?» mit Nein beantwortet.

Gleichberechtigt dazugehören, nicht diskriminiert werden, Diversität feiern: Wenn ich die laute, selbstbewusste LGBTQIA+-Community höre und sehe, denke ich mir einfach auch noch die Menschen mit Behinderung dazu. Und alle zusammen tanzen im Laden des Glücks.

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee. Sie hofft, dass im Oktober viele Menschen mit Behinderung ins Parlament gewählt werden.