Kurdistan: Im Bann der Gewalt

Nr. 41 –

Der Anschlag, die Verhaftungswelle, die Militärangriffe: Warum der bewaffnete Konflikt zwischen der Türkei und den Kurd:innen wieder zu eskalieren droht.

Sonntag, 1. Oktober, vor dem türkischen Innenministerium in Ankara: Zwei Männer steigen aus einem Kleinwagen, bewaffnet mit einem Gewehr rennt einer der beiden zum Eingang des Gebäudes und sprengt sich in die Luft. Beim folgenden Schusswechsel mit den Sicherheitsdiensten kommt auch der zweite ums Leben. Kurz darauf bekennt sich die im Land als Terrororganisation eingestufte Arbeiter:innenpartei Kurdistans (PKK) zum Attentat: Der Angriff sei als «Warnung» an die türkische Regierung zu verstehen, die «Verbrechen gegen die Menschen Kurdistans» sofort zu beenden. Die Regierung antwortet umgehend: Nur Stunden nach dem Anschlag startet sie landesweite Razzien gegen Kurd:innen und nimmt fast tausend Menschen fest. Parallel zur Verhaftungswelle im Inland fliegt die Türkei zunächst Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak. «Alle Infrastrukturen, die der PKK und den YPG im Irak und in Syrien gehören, sind von nun an legitime Ziele unserer Sicherheitskräfte», lässt Aussenminister Hakan Fidan letzte Woche verlauten.

Erinnerung an 2016

In der Zwischenzeit hat die Türkei ihre Drohung wahrgemacht und zivile Infrastrukturen in Nordsyrien angegriffen: Warenlager, Elektrizitätswerke, Ölförderungs- und Wasserversorgungsanlagen. Auch die Zentrale der Asayîş, eine Art internes Sicherheitsorgan der autonomen Region Rojava, war Ziel der Drohnen. Dabei kamen in der Nacht auf Montag 29 kurdische Sicherheitskräfte ums Leben. Bei weiteren Angriffen sind mindestens 8 Zivilist:innen getötet worden, darunter 2 Kinder.

Die aktuelle türkische Militäroperation ist als eine weitere Episode ihres Krieges gegen die Emanzipationsbestrebungen der Kurd:innen zu verstehen. Nachdem der syrische Ableger der PKK, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), den Nordosten Syriens für sich beanspruchen konnte, hat sich dort eine staatsähnliche Autonomieregion ausgebildet, die der Regierung in Ankara ein Dorn im Auge ist. Bereits 2016 war die türkische Armee mit einer Bodenoffensive in das Gebiet eingerückt und hatte die Region bombardiert. Mit der Militäroperation «Friedensquelle» hatte sie Rojava 2019 abermals zu destabilisieren versucht. Auch danach setzte die Türkei auf versorgungstechnische Operationen, indem sie der Region das Wasser und den Strom verknappte. Von der Nato wurde sie damals noch zur Zurückhaltung gemahnt, galten die YPG doch als loyale Verbündete im komplexen System der Konfliktparteien des Syrienkriegs. Die USA sprachen Rojava mehrmals ihren Rückhalt aus, der nun mehr und mehr wegzubrechen scheint. Wohl auch, weil die Türkei die Allianz mit der Blockade des schwedischen Nato-Beitritts unter Druck zu setzen weiss.

Keine politische Lösung

In der Türkei wurden jene kurdischen Kräfte, die sich vom bewaffneten Kampf abgewendet haben, praktisch mundtot gemacht. Die personell, finanziell und strukturell geschwächte HDP befindet sich in einer Neuausrichtungs- und Findungsphase. Als Yeşil Sol Parti hat sie bei den Parlamentswahlen im Mai fast drei Prozentpunkte verloren, geniesst aber nach wie vor grossen Rückhalt unter den Kurd:innen der Türkei.

Nach der Inhaftierung ihrer Schlüsselfiguren, der heftigen Repression gegenüber ihren Mitgliedern, aber auch wegen eines drohenden Parteiverbots hat sie an Kraft eingebüsst. Dies könnte für eine weitere gewaltvolle Eskalation zwischen der Türkei und den Kurd:innen ausschlaggebend sein – denn die HDP bekennt sich konsequent zu einer politischen Lösung des Konflikts und hatte es geschafft, ihre Anhänger:innen vom gewaltfreien Kurs zu überzeugen. Eine weitere Schwächung der HDP und zusätzliche militärische Angriffe auf kurdische Gebiete könnten eine erneute Zuwendung der Kurd:innen zum bewaffneten Kampf befeuern.