Antisemitismus in Russland: Ein Abend voller Hass

Nr. 44 –

Am Wochenende stürmte in Dagestan ein Mob auf der Suche nach jüdischen Menschen einen Flugplatz. Der Kreml sieht ukrainische Geheimdienste hinter dem Pogrom. Doch was genau ist in der Kaukasusregion geschehen?

Eines haben die Ereignisse auf dem Flugplatz von Machatschkala, der Hauptstadt der autonomen russischen Republik Dagestan, deutlich vor Augen geführt: Antisemitische Pogrome stellen keineswegs nur ein Phänomen der Vergangenheit dar.

Ein aufgebrachter Mob – das Innenministerium sprach später von 1200 Personen – stürmte am Sonntagabend erst Flughafengebäude und Rollfeld, um sich Zugang zu einer Maschine der russischen Fluggesellschaft Red Wings zu verschaffen, die, aus Tel Aviv kommend, gelandet war. Einige schwenkten palästinensische Fahnen. Die Besatzung und die 45 Passagiere, darunter rund ein Dutzend israelische Staatsangehörige, mussten sich zu ihrem Schutz im Flugzeug verschanzen. Die Angreifenden forderten, anhand der Pässe die Identität der Angekommenen zu überprüfen. Auf einem Foto, das in den sozialen Medien kursierte, war ein Mann zu sehen, der, angeblich auf der Suche nach Israelis, sogar das Triebwerk des Flugzeugs inspizierte.

Der Mob blockierte auch die Zufahrt zum Gelände, kontrollierte Autos, ja sogar Polizeifahrzeuge. Einen Bus, in dem Passagier:innen der Red-Wings-Maschine, auch Kinder, sassen, liess die Menge erst passieren, nachdem sie sich von den russischen Pässen der Mitfahrenden überzeugt hatte. Die Behörden brachten alle Personen mit israelischem Pass in Sicherheit und evakuierten sie per Militärhubschrauber. Was passiert wäre, hätte der Mob Jüd:innen in die Hände bekommen, will man sich nicht ausmalen. Verletzte – insgesamt 22 – gab es nur unter den Protestierenden und den Angehörigen der Polizei.

Völlig unvermittelt

Andernorts im Nordkaukasus war es schon am Vortag zu Angriffen gekommen. Am Samstag verlangten Einwohner:innen der dagestanischen Stadt Chassawjurt Zutritt zu zwei Hotels, in denen sie Israelis vermuteten, die vor der Eskalation geflüchtet waren. Fündig wurden sie nicht. In Tscherkessk forderten rund achtzig Personen vor dem Gebäude der Lokalregierung lauthals die Ausweisung von Jüd:innen. Und in Naltschik, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Kabardino-Balkarien, brannte Sonntag früh ein sich noch im Bau befindliches jüdisches Kulturzentrum nieder.

Der Sicherheitsapparat in Machatschkala schien nicht mit solchen Ausschreitungen gerechnet zu haben. Zwar hatte sich bereits vor der Landung der Maschine aus Tel Aviv Verstärkung eingefunden – doch in viel zu geringem Umfang. Das Versagen der Polizei manifestierte sich nicht zuletzt darin, dass sich die Einsatzkräfte anfangs fast demonstrativ zurückhielten. Insgesamt befinden sich bislang 83 Personen in Gewahrsam, die Behörden ermitteln wegen der «Organisierung von Massenunruhen».

Zu Beginn dürfte der Mob gar mit dem Rückhalt der Polizei gerechnet haben. Zumindest fanden sich auf dem Telegram-Kanal «Utro Dagestan» (Morgen Dagestan) Anweisungen, sich am Flughafen nicht auf Konflikte mit den Einsatzkräften einzulassen: Diese seien zu diesem Zeitpunkt nicht von Interesse. Zur Illustration diente das Foto eines Polizeiwagens mit grossem Palästinaaufkleber – und der Aufschrift «Das Volk Tschetscheniens und Dagestans ist mit dir».

Auf der Suche nach den Ursachen und Hintergründen der erschreckenden Vorfälle stellt sich auch die Frage nach antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung. Über dieses Thema wird in Russland generell wenig gesprochen. Dabei wurde der Antisemitismus seit Beginn des Krieges im Donbas 2014 zunehmend präsenter: Hatte der Propagandaapparat antisemitische Töne zuvor unterdrückt, wurde der Tonfall in der Öffentlichkeit danach immer rauer, auch in den Medien nahm der antiisraelische Grundtenor zu.

Alexander Werchowski plädiert derweil für eine differenzierte Einordnung der Vorkommnisse vom Wochenende. «Es handelt sich nicht um einen Fall von klassischem Antisemitismus», sagt der Direktor des (inzwischen formal aufgelösten) Moskauer Forschungszentrums Sowa, das sich seit Jahren mit rechtsextremer Gewalt in Russland befasst. Zumindest hätten sich in diesem Fall keine bekannten Gedankengebilde wie der Glaube an eine «jüdische Weltverschwörung» gezeigt. «Eher war es die Projektion eines politischen Konflikts, den russische Muslim:innen für gewöhnlich nicht so stark wahrgenommen haben.»

Werchowski erinnert daran, dass es zwar schon früher Solidaritätsbekundungen für Palästina gegeben habe, Strassenproteste jedoch selten. Anders als in Europa sei der Nahostkonflikt hier bislang eher ein Randthema gewesen, die jüngsten Ausschreitungen seien deshalb völlig unvermittelt geschehen. Auch er sagt, das gesellschaftliche Klima sei vor dem Hintergrund des Krieges gegen die Ukraine zunehmend aggressiver geworden.

Mobilisierung über Telegram

Der Kreml sieht hinter den Ausschreitungen in Dagestan ukrainische Geheimdienste am Werk – eine Lesart, die seit Beginn des gross angelegten russischen Angriffskriegs für alles Mögliche herhalten muss. Bekannt ist, dass erste Gerüchte über die Ankunft israelischer Geflüchteter im Nordkaukasus über «Utro Dagestan» gestreut wurden. Anschliessend streuten andere Telegram-Kanäle und soziale Medien die Meldung bereitwillig weiter.

«Utro Dagestan» hatte spätestens im September vor einem Jahr auch über Dagestan hinaus Bekanntheit erlangt. In mehreren Städten der kaukasischen Republik gingen damals Menschen gegen die gerade ausgerufene Teilmobilmachung auf die Strasse – deutlich mehr als in anderen Teilen Russlands. Dass gerade aus Dagestan viele Soldaten für den Krieg gegen die Ukraine rekrutiert wurden, brachte das Fass zum Überlaufen. Der Telegram-Kanal begleitete die Aktionen mit einer effektiven Informationskampagne.

Politiker Ilja Ponomarjow, der von Kyjiw aus oppositionelle Kräfte aller Couleur in Russland unterstützt, gab nun zu, «Utro Dagestan» im letzten Herbst gegründet zu haben – gemeinsam mit islamistischen Kräften. Die Zusammenarbeit habe er jedoch längst aufgekündigt, so der ehemalige Duma-Abgeordnete. Pogrome verurteile er als «überzeugter Linker und Internationalist».

Dass nun ausgerechnet in Dagestan Unmut in Gewalt mündete, dürfte nicht zuletzt mit der desolaten sozialen und politischen Lage in der Republik zu tun haben – einer der ärmsten in Russland. Gouverneur Sergei Melikow, selbst Kriegsveteran, reagiert auf Spannungen für gewöhnlich mit strengen Massnahmen. Die morsche Infrastruktur führt regelmässig zu Stromausfällen – und treibt die Menschen immer wieder auf die Strasse; Konflikte gibt es etwa auch um die Verteilung von Grundstücken. Statt für die vielen Brennpunkte Lösungsansätze anzubieten, konzentriert sich Melikow aber auf die «Eindämmung islamistischer Tendenzen» in der Region.

Islamwissenschaftler Achmet Jarlykapow, der selbst aus Dagestan stammt, verweist in diesem Zusammenhang auf die Zusammensetzung des Mobs in Machatschkala: Islamisten seien dort nicht in der Überzahl gewesen. Eine einfache Erklärung für die Gewalteruption hat allerdings auch er nicht parat. Klar ist nur: Von einem Tag auf den anderen hat sich die Funktion des Nahostkonflikts für Putin gewandelt: von einem Projekt zur aussenpolitischen Profilierung zum destabilisierenden Faktor, der die innenpolitischen Verhältnisse aufmischt.