Jenische: Kuhschweizer machen

Nr. 45 –

Michael Herzigs «Landstrassenkind» erzählt von einem zerstörerischen Hilfswerk und der Entfremdung zwischen Christian und Mariella Mehr.

Christian Mehr und Mutter Mariella 1982
Sich und einander abhandengekommen: Christian Mehr und Mutter Mariella 1982 in Bern. Foto: Aus dem besprochenen Band

«Sie hat geschrieben. Ich rede.» So endet das erste Kapitel des Buches «Landstrassenkind». «Sie», das ist die im letzten Jahr verstorbene jenische Autorin Mariella Mehr. Sie schrieb literarisch herausragende Texte, die sich um Gewalt, Diffamierung und das Fremdsein drehen. Schreiben bedeutete für sie Überleben: «Wenn ich als junge Mariella nicht geschrieben hätte, hätte ich mich umgebracht», sagte sie einmal.

Das «Ich» ist Mariellas Sohn Christian Mehr. Ihn hält das Reden am Leben. Und was für ein Leben: «Ich war in mehr als einer Pflegefamilie, in Heimen, in der Psychiatrie, in der Punkszene, im thailändischen Dschungel, in den Drogen», erzählt der 57-Jährige im neuen Buch von Michael Herzig, das die Geschichte von Christian und Mariella Mehr erzählt. Und auch wenn Christian im Zentrum des Buches steht: Seine Geschichte ist nicht ohne die seiner Mutter zu erzählen. Denn sowohl er wie auch seine Mutter und seine Grossmutter wurden vom 1926 von Pro Juventute gegründeten «Hilfswerk» «Kinder der Landstrasse» ihren Familien entrissen und in Pflegefamilien und Heime gesteckt, um sie, wie Christian zynisch sagt, «zu Kuhschweizern zu machen».

Halbjährig in die Pflegefamilie

Ihren Sohn bringt Mariella Mehr im Frauengefängnis Hindelbank zur Welt. Ihr Vergehen: Sie ist unverheiratet schwanger. Man nimmt ihr den nur halbjährigen Christian weg und steckt ihn in eine Pflegefamilie. Erst Jahrzehnte später wird er aus den Pro-Juventute-Akten erfahren, dass sein Vater, ein vor Mussolini nach Frankreich geflohener Rom, um ihn gekämpft hatte. Erfolglos: «Mein Vater hat Mussolini überlebt, den Krieg, die Nazis. Gegen die Schweizer Fürsorgebürokratie ist er nicht angekommen.» Das Verhältnis von Christian zu seiner Mutter ist bis zu deren Tod schwierig: Beide sind süchtig, sie nach Alkohol, er lange nach Heroin, beide sind stur und inkonsequent, sie lieben sich, aber sie halten sich nicht aus. Die Stiftung hat ihr Ziel erreicht: Mariella und Christian sind sich und einander abhandengekommen.

Michael Herzig, früher Drogenbeauftragter der Stadt Zürich, heute unterrichtet er Soziale Arbeit, hat vor fünfzehn Jahren eine gesellschaftskritische Krimireihe geschrieben. Auch «Landstrassenkind» war ursprünglich ein Romanprojekt, wie Herzig im Nachwort schreibt, doch: «Die Realität wirkt so fantastisch, dass sie in fiktionalisierter Form unglaubwürdig erscheinen könnte.» Schliesslich entschied er sich fürs «Vermischen von Subjektivem mit Objektivierbarem».

Es sollte Pflichtlektüre sein

Das ist ein Glücksfall: Das nur 160 Seiten umfassende Buch ist reichhaltig und vielschichtig, und trotz inhaltlicher Schwere liest es sich leicht. Kapitel mit persönlichen Erzählungen von Christian wechseln sich ab mit solchen, in denen Herzig aus Akten zitiert, die Familiengeschichte erzählt und einen historisch fundierten Überblick über das Programm «Kinder der Landstrasse» gibt.

Er zeigt auch auf, auf welch rassistischem Gedankengut dieses Assimilierungsprojekt aufgebaut war, das bis 1973 rund 600 jenische Kinder ihren Eltern weggenommen hat (vgl. «Hat Bundesrätin Keller-Sutter geantwortet?»).

«Landstrassenkind» sollte Pflichtlektüre in Schulen sein. Und Mitarbeiter:innen von öffentlichen Ämtern, Heimen und Kliniken müssten es lesen. Es könnte ihnen helfen, Patient:innen und Klient:innen mit ähnlichen Geschichten besser zu verstehen.

Der Autor spricht am Samstag, 11. November 2023, um 18 Uhr mit der Autorin Melinda Nadj Abonji in Thun am Literaturfestival Literaare (www.literaare.ch). Die Vernissage findet am Montag, 13. November 2023, um 19.30 Uhr im Sphères in Zürich statt.

Buchcover von «Landstrassenkind. Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr»
Michael Herzig: «Landstrassenkind. Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr». Limmat Verlag. Zürich 2023. 160 Seiten. 36 Franken.