Debatte: Man hat nach Diversity gerufen, und es kommen Menschen

Nr. 48 –

Der Krieg im Nahen Osten hat auch Folgen für den Kulturbetrieb. Werden nun Ausstellungen und andere Veranstaltungen abgesagt, spielt das meist den Falschen in die Hände.

Der Befund klingt alarmierend. «Der Kulturbetrieb droht zu zerbrechen», so war jüngst ein Gastbeitrag des Kunstwissenschaftlers Wolfgang Ullrich im «Tagesspiegel» überschrieben. Ob Klimakatastrophe oder sogenannte Flüchtlingskrise, Pandemie oder Krieg gegen die Ukraine: Festivals, Museen und andere Kulturhäuser hätten die Herausforderungen der letzten Jahre «ziemlich gut bewältigt», wie Ullrich etwas pauschal schreibt. «Sie liessen sich nicht spalten, waren jeweils klar und einheitlich auf der Seite der Schwachen, von Minderheiten und Diskriminierten.»

Angesichts der Eskalation im Nahen Osten, wo allein schon der Begriff der Minderheit seit jeher an seine Grenzen stösst, sei das nun vorbei, so Ullrich: Künstler:innen oder Intellektuelle, die bislang «für dieselben Ziele eintraten», fänden sich «plötzlich auf entgegengesetzten Seiten wieder». Die Folgen: ein allseitiges Misstrauen innerhalb des Kulturbetriebs, ein Klima des Verdachts, das um sich greift – aber auch verstärkter Druck von aussen.

Prüfung per Suchfunktion

Letzteres war zuletzt auch in der Schweiz zu beobachten, namentlich bei zwei mittelgrossen subventionierten Kulturhäusern. In der Regel bleibt das mediale und politische Interesse überschaubar, wenn die Kunsthallen in Bern oder Basel eine neue Leitung bekannt geben. Vor dem Hintergrund des Kriegs im Nahen Osten war das diesmal anders – auch deshalb, weil im Netz eine ganze Reihe von offenen Briefen bereit liegt, die sich, auch wenn sie dazu nicht wirklich taugen, nach Belieben für eine Gesinnungsprüfung instrumentalisieren lassen.

Lokalmedien in Bern und Basel konnten also mühelos per Suchfunktion nachprüfen: Wie über 8000 Kunstschaffende aus aller Welt hat auch die designierte neue Leiterin der Kunsthalle Bern, die Griechin Iliana Fokianaki, den kontroversen Brief unterschrieben, mit dem die internationale Kunstzeitschrift «Artforum» am 19. Oktober 2023 zur Solidarität mit Palästina aufrief – wobei das Massaker der Hamas in einer ersten Fassung nicht erwähnt, geschweige denn verurteilt wurde. Unterzeichnet hatte den Brief auch der designierte neue Leiter der Kunsthalle Basel, der Genfer Mohamed Almusibli, der zudem auch noch einen offenen Brief von «Artists for Palestine UK» unterschrieben hat. Die Basler SVP reagierte prompt: Mittlerweile fordert sie den Regierungsrat auf, die Fördergelder für die Kunsthalle für 2024 zu sistieren. Dies, obwohl Almusibli zuvor auf Anfrage der «Basler Zeitung» beteuert hatte, dass er «entschieden gegen jede Form von Antisemitismus» einstehe.

Für Almusibli und Fokianaki blieb der politische und mediale Druck bislang ohne Konsequenzen. Anderswo kann es derzeit sehr schnell gehen. Bei «Artforum» in New York wurde Chefredaktor David Velasco nur eine Woche nach Veröffentlichung des Briefs entlassen. In Deutschland, wo aus historischen Gründen zu Recht eine besonders hohe Sensibilität gegenüber potenziell antisemitischen Äusserungen herrscht, werden derweil reihenweise Veranstaltungen abgesagt. Letzte Woche strich das Saarlandmuseum eine für 2024 geplante Ausstellung der jüdischen, in Berlin lebenden Südafrikanerin Candice Breitz – ohne Rücksprache mit der Künstlerin, wegen «kontroverser Äusserungen» zum Gazakrieg, die ihr das Museum aufgrund von Medienberichten vorwarf. Zuvor war bereits eine von Breitz mitkuratierte Konferenz zum Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus abgesagt worden, die im November in Berlin hätte stattfinden sollen.

Lieber wieder einheimisch?

Ebenfalls letzte Woche folgte die kurzfristige Absage der städteübergreifenden Fotobiennale in Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen. Der Fotograf Shahidul Alam, der die Fotoschau im März 2024 als Gastkurator hätte eröffnen sollen, wurde per sofort freigestellt. Alam habe nach dem 7. Oktober in verschiedenen Facebook-Posts «antisemitisch lesbaren und antisemitischen Inhalten eine Plattform gegeben», heisst es in der Absage. Man habe ihn auf seine «gegen die israelische Zivilbevölkerung gerichtete terroristische Bildsprache» angesprochen, doch der Künstler aus Bangladesch sei uneinsichtig geblieben und habe weitere Posts ähnlicher Art publiziert. Eine Absage sei deshalb unumgänglich gewesen.

Merkwürdig daran: Alam ist seit Jahrzehnten offen und lautstark als antiisraelischer und antiimperialistischer Aktivist unterwegs – warum sah man stillschweigend darüber hinweg, als man ihn zum leitenden Kurator ernannte? Und noch eine andere Frage müssen sich die Veranstalter gefallen lassen. Elke Buhr, Chefredaktorin des Kunstmagazins «Monopol», stellte sie kürzlich pointiert auf dem Sender Deutschlandradio Kultur: Ist es nicht vielleicht eine falsch verstandene Idee von Globalisierung, einen aktivistischen Kurator aus Bangladesch in die Leitung einer Fotobiennale in Süddeutschland zu berufen?

Diese Frage rührt an das Selbstverständnis von sich als progressiv verstehenden Kunstinstitutionen. In den letzten Jahren wurden auffallend oft Menschen aus dem Globalen Süden in Leitungspositionen gewählt. Das bisher aufsehenerregendste Beispiel war die letztjährige Documenta 15 in Kassel, wo man die künstlerische Gesamtverantwortung einem Kollektiv aus Indonesien übertrug – der Antisemitismusskandal, der kurz nach der Eröffnung explodierte, ist bis heute nicht ausgestanden.

Die Vermutung liegt nahe, dass das auch der Preis für eine Abkürzung ist: Nachdem Perspektiven aus dem Globalen Süden jahrzehntelang höchstens eine Nebenrolle gespielt hatten, wollen diese Institutionen sich mit solchen Personalentscheiden auf einfachem und direktem Weg internationaler, welthaltiger und kulturell vielfältiger machen. Anders gesagt: Man ruft nach Diversity – scheint aber gleichzeitig auffallend unwillig oder unfähig, sich mit der real ankommenden Vielfalt an Stimmen und den teils auch problematischen Haltungen ernsthaft auseinanderzusetzen.

Rassismus und Antisemitismus sind in keiner Weise zu tolerieren, das gilt für Kunstbiennalen wie auch überall sonst. Aber überstürzte Entlassungen, Absagen und Ausladungen aufgrund von vage fragwürdigen Bekundungen verschärfen nur die Polarisierung. Problematisch sind nicht nur einseitige Solidaritätsbriefe und teils fehlgeleitete politische Bekenntnisse von Exponent:innen der Kunstwelt. Problematisch ist auch der inquisitorische Backlash, der bereits eingesetzt hat, wobei jeder fragwürdige Like und jeder Name unter einem umstrittenen Brief strategisch als Zertifikat für eine angeblich antisemitische Haltung skandalisiert werden – oft verbunden mit dem Ruf nach Entlassungen, Subventionskürzungen und Schliessungen. Das befördert letztlich nur die rechte Agenda derer, die ein Interesse daran haben, den Kunstbetrieb zu entglobalisieren, ihn wieder «einheimischer», weisser und unpolitischer zu machen.

In dem diskursiven Nahostkonflikt zweiter Ordnung, der hier tobt, ist das die grosse Herausforderung für die Kunsthallen und Biennalen und vielleicht für den Kulturbetrieb ganz allgemein: Es muss darum gehen, die Offenheit der Kunst zu gewährleisten, ohne dabei im Namen postkolonialer Debatten Antisemitismus eine Plattform zu bieten. Umso entscheidender wäre es, die unterschiedlichen Ebenen von Realität und Diskurs wieder klarer auseinanderzuhalten. Denn wie es der Philosoph Daniel-Pascal Zorn formuliert hat: Zu kritisieren, wie über die Verbrechen im Nahen Osten gesprochen wird, bedeute nicht, diese Verbrechen zu relativieren. Einen Diskurs zu problematisieren, das muss in einer offenen Gesellschaft immer möglich sein.

Stätten der Unvernunft

Eine radikal aufgeklärte Position ist hilfreich gegen falsche Abkürzungen. Mit dem alten Voltaire im Hinterkopf: Es gilt, sich vehement dafür einzusetzen, dass Menschen auch fehlgeleitete Briefe unterschreiben dürfen, ohne deswegen gleich ihren Job zu verlieren. Aber gleichzeitig muss eine moderierte öffentliche Debatte über diese Themen und Haltungen stattfinden – und zwar abseits von Social Media und anderen Stätten der Unvernunft.

Und wer einer verbalen Konfrontation vorläufig lieber aus dem Weg geht, kann es auch mit Kunst versuchen. Nicht zuletzt deshalb ist es fast immer der falsche Weg, Veranstaltungen und Ausstellungen abzusagen. Denn wo, wenn nicht in künstlerischen und kulturellen Zusammenhängen, könnte dieser Konflikt zweiter Ordnung wieder in eine Debatte, ein Gespräch, eine Zusammenarbeit, eine Anerkennung der gegenseitigen Menschlichkeit überführt werden?