Krieg gegen die Ukraine: Der Tod kam bei der Trauerfeier

Nr. 48 –

Anfang Oktober tötete eine russische Rakete im Oblast Charkiw 59 Zivilist:innen. Die ukrainischen Behörden machen dafür auch zwei Dorfbewohner verantwortlich: Sie sollen den Angreifern die Koordinaten verraten haben.

auf dem Friedhof von Hrosa liegen Blumenkränze bei den Gräbern
Ein Fünftel der Bewohner:innen auf einmal getötet: Auf dem Friedhof von Hrosa.

Im dichten Nebel und vor den spätherbstlichen Feldern, deren Erde vom Novemberregen aufgeweicht und schlammig ist, wirken die bunten Plastikblumen auf dem Friedhof noch greller. Die Kränze aus Rosen und Nelken liegen dicht an dicht – so wie die frischen Gräber auch. Dutzende Menschen sind vor kurzem hier in Hrosa begraben worden. Männer, Frauen, ein achtjähriger Junge. Das Todesdatum ist immer dasselbe.

Anfang Oktober wurden im 300-Seelen-Dorf Hrosa im Oblast Charkiw bei einem russischen Angriff 59 Zivilist:innen getötet, die an einer Trauerfeier für den Soldaten Andrij Kozyr teilnahmen. Kozyr war bereits im vergangenen Jahr an der Front im Osten gefallen und sollte endlich in seinem Heimatort begraben werden. Die russische Iskander-Rakete, die am frühen Nachmittag des 5. Oktober das Dorfcafé traf, in dem sich die Angehörigen zusammenfanden, löschte beinahe seine ganze Familie aus. Sie tötete Kozyrs Sohn, seine Frau, die Mutter und die Schwiegereltern.

Als er die Explosion von weitem hörte, sei er sofort von der Arbeit auf dem Feld zurück ins Dorf gefahren, erzählt Wassyl Pletinka, der mit seiner Frau Ljubow dem Café gegenüber wohnt. Mehr als ein Monat ist seit dem Anschlag vergangen, doch vor dem einstöckigen Gebäude, das in Schutt und Asche gelegt wurde, liegen noch immer Verbandsmaterial und Kleidung herum. Ein weisser Sneaker, eine Jacke, die verwelkten Blumen der Trauerfeier.

Szenen wie aus einem Horrorfilm

Pletinka sitzt auf der Parkbank vor seinem Haus – seit der Explosion hat es keine Fenster mehr, stattdessen sollen Spanplatten vor der Kälte schützen. Starr blickt er auf die Trümmer. Eine unbefestigte Strasse trennt sein Haus von der Caféruine. Die Rakete hätte auch ihn und seine Frau töten können. «Wir haben versucht, die Menschen zu retten, bis Feuerwehr und Polizei aus den Nachbarorten kamen», sagt der 64-Jährige. «Wir kannten alle, die gestorben sind. Wir sind ein kleines Dorf.» Jeden Tag, wenn er das Haus verlasse, müsse er an diesen Moment denken.

Seine Frau Ljubow Pletinka erzählt, dass ihre Cousins und Freund:innen gestorben seien. «Das sind die Menschen, mit denen wir unser ganzes Leben lang zusammengelebt haben.» Die 62-Jährige übernimmt das Gespräch, während ihr Ehemann auf einem alten Fahrrad zum Verteilpunkt für humanitäre Hilfsgüter fährt. «Jeder hier ist mittlerweile auf diese Unterstützung angewiesen», sagt Pletinka.

Das Dorfcafé sei zugleich ein kleiner Supermarkt gewesen, sagt die Frau. Jetzt gebe es in Hrosa nur noch einen kleinen Kiosk, doch der habe meist geschlossen. Es habe mal eine Zeit gegeben, da seien die Menschen in Hrosa glücklich und freundlich gewesen. Die Gemüsegärten reichten vielen zur Selbstversorgung. Der Boden in der Gegend ist fruchtbar und brachte Arbeit. «Heute gehen die Leute nicht mehr viel raus. Sie verlassen ihre Häuser nicht, weil sie Angst haben», klagt Pletinka.

Der Anschlag auf Hrosa ist einer der grausamsten seit langem in diesem Krieg, landesweit hat er für grosses Entsetzen gesorgt. Laut dem ukrainischen Innenminister Ihor Klymenko ist jede Familie im Dorf betroffen, hat jemanden verloren oder zumindest jemanden gekannt, der getötet wurde. Journalistinnen und andere Augenzeugen, die anschliessend vor Ort waren, beschreiben Szenen wie aus einem Horrorfilm, berichten von Gliedmassen, die überall verteilt lagen, von dem Schock und der Schwierigkeit, die Überreste zu bergen und die Opfer zu identifizieren. Mehr als einen Monat später erzählt Ljubow Pletinka von ihrer grossen Wut auf die russischen Angreifer, die das Dorf im vergangenen Jahr mehrere Monate lang besetzt hatten. Doch verantwortlich für die Tat macht sie – so wie die Staatsanwaltschaft Charkiw und der ukrainische Geheimdienst (SBU) auch – nicht nur Russland.

Ein Netz von Informant:innen?

Hrosa war einer jener Orte, die nach Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 besetzt und im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive im vergangenen September befreit wurden. «Ich hätte mir nie vorstellen können, dass die Menschen hier so gespalten sind», sagt Ljubow Pletinka. Sie schätzt, dass die Hälfte der Bewohner:innen von Hrosa die Russen unterstützt oder ihnen durch die Versorgung mit Lebensmitteln geholfen haben. Und dann soll es noch jene gegeben haben, die direkt mit ihnen zusammengearbeitet hätten. Darunter der 30-jährige Wladimir Mamon und sein jüngerer Bruder, der 23-jährige Dmitri, die noch am Vorabend der Befreiung mit ihren Familien nach Russland geflohen sein sollen. Gegen die beiden Männer, die vor dem Krieg in der Gegend als Polizisten gearbeitet hatten, laufen aufgrund ihrer Kollaboration schon seit Monaten Ermittlungen. Sie sollen unter anderem gemeinsam mit den Besatzern in den Strassen patrouilliert haben.

Laut einer Stellungnahme der Behörden auf Facebook sollen die Männer auch nach ihrer Flucht in das nur rund sechzig Kilometer Luftlinie entfernte Russland mit den Dorfbewohner:innen freundschaftliche Beziehungen gepflegt haben. Der SBU spricht von einem Informant:innennetz, über das die beiden Stellungen und Aktivitäten der ukrainischen Armee in Erfahrung brachten. «Die Bewohner:innen begriffen nicht, dass die Brüder unter dem Deckmantel unauffälliger Gespräche in Wirklichkeit subversive Aktivitäten gegen die Ukraine durchführten», teilte die Charkiwer Staatsanwaltschaft mit. Durch diese Methoden sollen sie auch von Zeitpunkt und Ort der Trauerfeier erfahren und die Koordinaten an die Angreifer weitergegeben haben.

Vielleicht, so spekulieren Beobachter:innen, sei die Annahme gewesen, dass viele Soldat:innen bei der Trauerfeier anwesend sein könnten. Solche Treffen oder Ehrungen werden schliesslich immer wieder angegriffen. Erst Anfang November starben im Oblast Saporischschja 19 Soldat:innen der 128. Gebirgsjägerbrigade während einer Ehrung nahe der Front. Der neue ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow teilte vor kurzem mit, die Tragödie hätte verhindert werden können, wären nicht alle Regeln der Tarnung ignoriert worden: «Mehr als zehn Autos waren in der Nähe geparkt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich eine russische Aufklärungsdrohne am Himmel», so Umjerow auf Facebook. Am Ort der Preisverleihung seien keine zentralen Sicherheitsmassnahmen ergriffen worden.

Kürzlich veröffentlichte Chatprotokolle zwischen den Mamon-Brüdern und Dorfbewohner:innen sollen derweil beweisen, dass die beiden Männer von der Anwesenheit der Zivilist:innen bei der Trauerfeier in Hrosa wussten. Die Charkiwer Staatsanwaltschaft weist in ihrer Stellungnahme zwar auf die für die beiden Männer geltende Unschuldsvermutung hin. Doch bereits wenige Tage nach dem Anschlag tauchten in Hrosa und den umliegenden Ortschaften Plakate mit dem Gesicht und dem vollen Namen von Wladimir Mamon auf. «Mörder haben einen Namen», steht darüber. Eines hängt sogar an einer ehemaligen Bushaltestelle nahe eines militärischen Checkpoints, von denen es in dieser Gegend viele gibt. Wer die Plakate veranlasst, gedruckt und aufgehängt hat, ist unklar.

Düstere Perspektiven

Auf mehrere Anfragen der WOZ zu den Plakaten sowie zum Stand der Ermittlungen reagiert die Staatsanwaltschaft Charkiw nicht. Auch die Bewohner:innen von Hrosa sagen, sie wüssten nicht, woher die Plakate stammten. Nur dass eines auch im Zentrum des Dorfes aufgetaucht sei und bereits in der ersten Nacht von Unbekannten wieder heruntergerissen worden sei, berichtet eine freiwillige Helferin. Die Frau, die sich als Dina vorstellt, zeigt auf die Stelle an der Aussenmauer des Gebäudes, in dem sie Lebensmittel verteilt.

Mit der Genauigkeit einer Beamtin sortiert Dina die Lebensmittel in Kartonschachteln für die Bewohner:innen um und trägt die Anzahl der Menschen, die an diesem Tag Pasta, Brot oder Waschmittel abgeholt haben, handschriftlich in ihre Liste ein. Sie zeigt auf die Malfarben, die auf ihrem Schreibtisch liegen, und auf verpackte Schokoriegel. Laut Dina leben in Hrosa noch immer mehr als vierzig Kinder und Jugendliche. So wie viele, die an diesem Tag im November vor Ort sind, hat auch sie Angst vor weiteren Angriffen und bittet darum, weder ihre persönlichen Daten noch eine genaue Beschreibung oder die Adresse des Gebäudes, in dem sie arbeitet, zu veröffentlichen.

Eine der Bewohner:innen, die an diesem Tag Lebensmittel abholen, ist Ljuba Kozyr, die mit dem gefallenen Soldaten Andrij Kozyr zwar den Nachnamen teilt, aber nicht direkt mit ihm verwandt ist. Die 55-Jährige erzählt, dass beim Anschlag ihre eigene Tochter, der Schwiegersohn, die Schwiegereltern sowie die Eltern des Schwiegersohns und drei Freund:innen getötet wurden. Sie selbst war mit ihrem Mann zum Zeitpunkt der Trauerfeier zu Hause. «Wir alle hier kennen die Mamon-Brüder», sagt sie. Die Wut und die Trauer seien gross, sie selbst habe viele Fragen. «Ich kann einfach nicht glauben, dass jemand, der hier aufgewachsen ist, absichtlich Informationen weitergegeben hat.» Persönlich kannte Ljuba Kozyr nur den älteren Bruder, Wladimir, über den die Menschen im Dorf erzählen, dass er ein grausamer Mensch sei. Einer, der die Bewohner:innen während der Besatzung verspottete. Doch egal, wie sie sich fühle, sagt Kozyr, nichts und niemand werde ihre Familie zurückbringen.

Die humanitäre Unterstützung aus anderen Landesteilen habe zum Glück nicht nachgelassen, sagen die Menschen in Hrosa. Doch die Perspektive für die Menschen an einem Ort wie diesem – keine vierzig Kilometer Luftlinie von der Front entfernt, in einer Gegend, in der man an diesem Tag neben der Landstrasse Dutzende Soldat:innen bei der Minenräumung beobachten kann – ist düster. Es gebe kein richtiges Zusammenleben mehr im Dorf, sagt Ljuba Kozyr. Der Alltag sei beängstigend, vor allem dann, wenn die Sirenen heulten. «Ich schlafe nachts nicht gut. Wir hoffen, dass die Russen nicht zurückkommen. Unsere Armee macht einen guten Job und hält ihre Positionen.»

Ljubow Pletinka klammert sich an die Hoffnung, dass die Mamon-Brüder irgendwann gefasst werden. Der SBU teilte vor kurzem mit, dass «umfassende Massnahmen ergriffen werden», um die Männer in Russland ausfindig zu machen und zu bestrafen. Doch je länger der Krieg dauert, desto klarer wird auch, wie gross die Anzahl von Fällen der Kollaboration überall im Land ist.