Sachbuch: Im Müll gewühlt

Nr. 48 –

Von Lumpen über Fäkalien zum Elektroschrott: Die «Globalgeschichte des Mülls» hält von den Komposthaufen des Neolithikums bis zu den hypermaskulinen Müllmännern so manche Überraschung bereit.

historisches Foto: Müllabfuhr in London, 1930
Das neuste Modell für den Güsel: Müllabfuhr in London, 1930. Foto: agk images

Womöglich spiegelt sich der gegenwärtige Kapitalismus nirgends deutlicher als in den hundert Millionen Tonnen Abfall, die in den Müllstrudeln der Weltmeere treiben. Diese Umweltverschmutzung, diese Verschwendung, diese Ungerechtigkeit! Aber eben auch: diese Effizienz! Tatsächlich schaffen erst eine hochgetrimmte Logistik, umfassender Technologieeinsatz und globale Arbeitsteilung die Grundlage für massenhaftes Wegwerfen: Wo alles billig produziert wird und günstig zu haben ist, da ist dem Produzenten und der Verbraucherin nichts mehr teuer; wo dagegen Güter knapp sind, da ist alles kostbar, da ist kein Platz fürs Nichtnutzen.

So jedenfalls formuliert es der Historiker Roman Köster in der Einleitung seines Werks «Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit». Der Gedanke, den der Autor nicht als Systemapologetik verstanden wissen will, führt direkt zur Leitidee der Untersuchung: Müll ist immer mehr als Müll – das Wühlen im Müll verspricht, so Köster, Einblicke in die Wirtschaftsweise, die Konsumgewohnheiten und Ideenwelten vergangener Epochen. Er hat sich für sein Buch ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Unzählige geschichtswissenschaftliche Einzelstudien sollen hier zu einer umfassenden «Globalgeschichte des Mülls» zusammengeführt werden.

Nase – Körper – Umwelt

Köster teilt die Geschichte des Mülls in drei Epochen. Die Abfälle der Vormoderne waren ein alltagspraktisches Problem: Sie «lagen rum, rochen schlecht und behinderten den Verkehr», schreibt er. Im Industriezeitalter wiederum trägt der Müll in den Städten zur Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie Cholera oder Typhus bei und wird zur Herausforderung für Hygienebemühungen. In den fünfziger Jahren erreicht der Müll dann eine weitere Epochenschwelle und mutiert im Zeitalter des Massenkonsums zum Gift für die Umwelt.

Fiel in der Vormoderne nur wenig Müll an, wächst die Abfallmenge im Zeitalter des Massenkonsums exponentiell. Auch die chemische Komplexität und Diversität des Mülls nehmen im Laufe der Zeit zu: Glich der vormoderne Müll aufgrund seiner organischen Zusammensetzung einer schlammig-feuchten Brühe, erscheint der heutige Hausmüll mit all seinen Kunststoffen täuschend clean. Köster spannt diese Beobachtungen jedoch nicht in ein Verfalls- oder Fortschrittsnarrativ ein. Vor einer Verklärung der Vormoderne warnt er ausdrücklich: Zwar hätte man sich damals mit umfassenden Recyclingpraktiken – das Sammeln von alten Lumpen für die Produktion von Papier ist nur eines der unzähligen Beispiele – dem Ideal von «Zero Waste» angenähert. Dies sei aber nicht auf ein hohes Umweltbewusstsein zurückzuführen, sondern auf die herrschende Knappheit.

Wenn sich in Roman Kösters Werk überhaupt eine Geschichtsphilosophie findet, dann eine Dialektik des technologischen Fortschritts: Die im Industriezeitalter gebauten Kanalisationen lösten zwar das vormoderne «Drama» der Fäkalienentleerung, aber ihr Abwasser verseuchte die Flüsse und liess Flora und Fauna absterben. Die Müllverbrennungsanlagen wiederum beseitigten zwar den Gestank und die Rattenplagen der Deponien, dunkelten aber ganze Stadtteile in schwarzen Rauch ein. Und wo eigentlich landen die hochgiftigen Filter moderner Verbrennungsanlagen?

Hygiene als Unterwerfungsideologie

Oft, aber nicht immer hält der Autor, was er verspricht. Eine «Konsumgeschichte von unten» kündigt er einleitend an – doch die Unterschichten bleiben vorwiegend gesichts- und geschichtslos. Nur als fleissige Abfallverwerter:innen an den Rändern der Müllberge tauchen sie an einigen Stellen auf. Auch die angekündigte Globalgeschichte bleibt allzu oft in der summarischen Aufzählung von weltweiten Ereignissen samt Nennung von Jahreszahlen stecken.

Dass eine Verflechtungsgeschichte viel Potenzial hätte, zeigt das Kapitel zum Kolonialismus: Im 19. Jahrhundert wird Hygiene laut Köster zum «Modernisierungsideal» und zum «Gradmesser von Zivilisation» – und damit zugleich zur Unterwerfungsideologie. Der Verweis auf angeblich schmutzige Bevölkerungsgruppen legitimierte deren Enteignung und Unterdrückung. Die Eliten der kolonisierten Länder adaptierten ihrerseits die Hygienediskurse und zogen damit neue oder verstärkten alte Linien der sozialen Spaltung.

Mit einem Blick in die Gegenwart schliesst Köster seine leicht zu lesende Tour de Force, in der von den Komposthaufen des Neolithikums bis hin zur Hypermaskulinität der Müllmänner, die sich in den Nachkriegsjahrzehnten über die raue Arbeitskultur und den Berufsstolz konstituierte, kaum ein Aspekt der Müllgeschichte unterbelichtet bleibt. Eine individualistische Verbrauchererziehung verwirft er als Lösung für eine zunehmend im Müll versinkende Gesellschaft; systemische Veränderungen, die die Wirtschaftsweise als solche betreffen, seien zu favorisieren. Mit der Hypothese, dass das Leben dadurch wohl «teurer, langsamer, unbequemer» werden könnte, berührt er eine drängende Frage der Gegenwart. Auch wenn Köster keine konkreten Antworten bereithält: Sein Buch schärft den historischen Tiefenblick für die Müllproblematik.

Buchcover von «Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit»
Roman Köster: «Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit». Verlag C. H. Beck. München 2023. 422 Seiten. 42 Franken.