Skirennsport: The show must go on

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Kaum eine andere Sportart ist so stark von der Klimakrise betroffen wie der Skirennsport. Der Weltverband FIS will zwar «klimapositiv» werden, doch er beschönigt die eigene Umweltbilanz und setzt auf fragwürdige Kompensationsprojekte.

der kroatische Rennfahrer Filip Zubčić im Januar 2023 in Adelboden
Der Skizirkus geht weiter – bis es nicht mehr geht: Der kroatische Rennfahrer Filip Zubčić im Januar 2023 in Adelboden. Foto: Jean-Christophe Bott, Keystone

Die Gondel schwankt bedrohlich. Der Wind pfeift. Im Nebel ist das Klein Matterhorn nicht einmal zu erahnen. Das Seil, an dem die Kabine hängt, verliert sich nach wenigen Metern im Weiss – irgendwo unter uns liegt der Gletscher. Ein paar Leute filmen die Szene mit mulmigem Gefühl – andere wärmen sich mit dem ersten Weisswein des Tages auf und stossen lachend an.

Alle sind sie an diesem Novembersamstag umsonst auf über 3800 Meter über Meer gereist. Denn auch heute wird am Klein Matterhorn kein Skirennen stattfinden. Nicht einmal eine schöne Aussicht entschädigt sie für den Aufwand.

Knapp neunzig Minuten dauert die Fahrt mit vier verschiedenen Seilbahnen vom Dorf bis in den Zielraum der Weltcupabfahrt von Zermatt-Cervinia – so lange wie mit dem Zug von Bern nach Frauenfeld. Rund 1900 Zuschauer:innen könnten pro Tag mit den Bahnen aus Zermatt auf die italienische Seite des Skigebiets transportiert werden. Dorthin, wo Sofia Goggia, Lara Gut-Behrami oder Kajsa Vickhoff Lie in wenigen Stunden durch den Zielbogen rauschen sollten.

Doch die Zuschauer:innentribüne bleibt leer. Der Wind bläst unerbittlich, peitscht den Schnee über die pickelharte Piste und in die Gesichter der Medienleute und Freiwilligen. Wieder muss sich Franz Julen, Präsident des Matterhorn Cervino Speed Opening und Verwaltungsratspräsident der Zermatt Bergbahnen AG, vor die Kameras stellen und die Absage des Rennens erklären – bereits zum dritten Mal in acht Tagen.

Gebetsmühlenartig betont er, dass das Wetter den Organisator:innen einen Strich durch die Rechnung gemacht habe. «Die Natur ist stärker», sagt er. «Das muss man respektieren. Aber wir sind Bergler, wir sind Kämpfer. So schnell geben wir nicht auf.» Einen Tag später fällt auch die zweite geplante Abfahrt der Frauen dem Wind zum Opfer. Und Julen bricht vor laufender Kamera in Tränen aus. Die Natur habe das letzte Wort, sagt er. Aber ist man sich dessen wirklich bewusst?

Seit 2022 soll auf der Gran Becca im Zermatter Hochgebirge jeweils Anfang November die Saison der weltbesten Abfahrer:innen eröffnet werden – mit Rennen der Superlative in Zeiten der Klimakrise. Ein Start auf 3800 Metern über Meer in der Schweiz, eine Fahrt über Gletscher hinüber nach Italien. Immer im Blick: das Matterhorn und etliche weitere Viertausender.

Die Bilanz ist ernüchternd. Von acht geplanten Abfahrten in zwei Wintern – jeweils ein Rennwochenende für die Männer und eines für die Frauen – konnte keine einzige durchgeführt werden. Bisher konnten die Profis lediglich zwei Trainings absolvieren.

Im November 2022 sorgte Schneemangel für einen Totalausfall. Es war der Vorbote eines der schneeärmsten Winter der letzten Jahrzehnte. Als im Januar 2023 in Adelboden der legendäre Slalom am Chuenisbärgli stattfand, gingen Bilder des weissen Schneebands auf grünen Wiesen um die Welt. Anfang November 2023 sind die Vorzeichen vertauscht. Es schneit fast ununterbrochen in Zermatt. Der Wind bläst mit mehr als hundert Kilometern pro Stunde über den Theodulgletscher.

Postkartenwetter fürs Marketing

Zehn Tage zuvor strahlt die Sonne. Das Matterhorn zeigt sich an diesem Mittwoch Anfang November im schönsten Licht. An der Kirchbrücke in Zermatt zücken die wenigen Tourist:innen ihr Smartphone für das obligate Erinnerungsfoto. Sonst ist wenig los. Viele Hotels und Restaurants sind in der Zwischensaison geschlossen. Daran ändern auch die geplanten Rennen nichts. Auf dem Dorfplatz wird noch an der Bühne vor dem Fünfsternehotel Zermatterhof gearbeitet, damit rechtzeitig zur Startnummernzeremonie alles bereit ist. Nur ein paar Werbebanner erinnern daran, dass 2000 Meter weiter oben Aleksander Aamodt Kilde, James Crawford und Marco Schwarz auf dem Gletscher trainieren.

Sie sorgen für kostbare Bilder. Der heutige Prachttag ist für die Organisator:innen, den Skirennzirkus und den Wintertourismus Gold wert. Denn die Rennen vor der Kulisse des Matterhorns sind eine exklusive Gelegenheit, die Wintersaison einzuläuten. Auch Julen gibt zu, dass man die Abfahrten mit «geschäftlichen und touristischen Hintergründen» durchführe. Doch auch sportlich seien diese unumstritten. «Nur wir können zu diesem Zeitpunkt diese Rennen machen.»

Das stimmt nicht. Tatsächlich wird in jenen Tagen viel über den Zeitpunkt und den Rennkalender diskutiert. Ist es wirklich sinnvoll, auf schmelzenden Gletschern in Zermatt oder Sölden mitten im Herbst Rennen zu fahren?

Kaum eine andere Sportart leidet stärker unter der Klimakrise als der Skirennsport. Ohne Klimaschutzmassnahmen werden die Gletscher von Zermatt im Jahr 2100 fast verschwunden sein. «In den letzten fünfzig Jahren wurde die Wintersaison dreissig Tage kürzer», sagt Nicholas Bornstein von Protect Our Winters (POW), einer NGO, in der sich Outdoorsportler:innen für Klimaschutz engagieren. «Die Daten sind da. Man müsste reagieren und kann nicht einfach weitermachen wie bisher.»

Weltcuppiste in Adelboden im Dezember 2022: weisse Streifen auf grünbrauner Wiese
Weisse Streifen auf grünbrauner Wiese: Weltcuppiste in Adelboden im Dezember 2022. Foto: Anthony Anex, Keystone

Weitermachen wie bisher scheint aber die Devise zu sein. Im Sommer bearbeiten in Zermatt, Sölden und Saas-Fee schwere Maschinen die Gletscher, um die Pisten herzurichten. Spalten werden mit Schnee und Gletschereis gefüllt, damit keine Tourist:innen hineinfallen – und damit die Profis und Nachwuchstalente im Sommer in Europa auf Schnee trainieren können.

Das sei auch ein Dienst am Gletscher, wird Franz Julen nicht müde zu betonen: «Es ist seit Jahren erwiesen, dass die Gletscherflächen, die für Pistenzwecke präpariert werden, weniger abschmelzen als die unbearbeiteten Flächen.» Ohnehin ist man in Zermatt um Nachhaltigkeit bemüht. Ein fünfzehnseitiger Bericht gibt Auskunft: Zwei Drittel des Rennens fänden auf bestehenden Pisten statt, zwei Drittel befänden sich zudem auf Gletschern, für die kein technischer Schnee nötig sei. Das Starthaus werde mit Solarstrom versorgt und bestehe aus besonders leichtem Material.

Erst als bekannt wird, dass für die Gran Becca ausserhalb der erlaubten Zone am Gletscher gearbeitet wurde, gerät Julen in Erklärungsnot. Offenbar habe «die touristische Entwicklung weiterhin Vorrang vor dem Erhalt unserer Umwelt», kommentieren die Walliser Grünen. Und Aaron Heinzmann von Mountain Wilderness Schweiz sagt: «Auch für vermeintlich nachhaltige Rennen braucht es enorme Ressourcen, sogar in einer Höhenlage, die schneesicher ist. Das ergibt vielleicht wirtschaftlich Sinn, aber aus der Perspektive des Klimawandels und der Nachhaltigkeit muss dringend ein Umdenken stattfinden.»

An diesem Mittwoch gibt es kein Umdenken. Die Profis trainieren bei schönstem Postkartenwetter. Die Kameras laufen. Der «Mythos Matterhorn» wird in die weite Welt hinausgetragen. 230 Medienschaffende aus etlichen Ländern sind angereist. Allein in den Schweizer Medien erscheinen in den ersten drei Novemberwochen Hunderte Zeitungs-, Radio- und Fernsehbeiträge über die Rennen. Während Wochen dreht sich alles um den Saisonauftakt, die Wetterkapriolen, den Rennkalender, die Bagger auf dem Gletscher. Auch im «Podcast am Pistenrand» von SRF diskutieren die Exprofis Tina Weirather und Marc Berthod wöchentlich über Sinn und Unsinn der Rennen in Zermatt.

Dabei ist Zermatt nur Teil eines Rituals, das seit Jahrzehnten immer gleich abläuft und bereits zwei Wochen zuvor im österreichischen Sölden seinen Auftakt genommen hat. Auf dem dortigen Rettenbachgletscher werden seit 1996 Weltcuprennen gefahren. Sie finden in Tirol statt, weil ein Versuch im Wallis dramatisch scheiterte. In Saas-Fee wollte man 1994 auf dem Feegletscher Rennen veranstalten. Ein berüchtigtes Genuatief brachte zwei Meter Schnee – eine Lawine donnerte noch vor dem Start auf die präparierte Piste nieder.

Das System funktioniert. Jährlich pumpt die Skiindustrie hundert Millionen Euro in den alpinen Rennzirkus. «Die touristische Wintersaison startet, bevor es wirklich winterlich ist», sagt Walter Reusser, CEO Sport von Swiss-Ski. «Darum setzt man früh im Jahr ein Zeichen, um zu signalisieren, dass der Winter kommt.» Und er glaubt: Wer einen frühen und nachhaltigen Saisonstart wolle, komme um Zermatt oder Sölden nicht herum.

Für Bornstein von POW ist das unverständlich. «Der Wintersport wird zu einem Zeitpunkt lanciert, der nicht mit der Klimakrise kompatibel ist», sagt er. «Es ist unbestritten, dass die Temperaturen steigen werden, dass in den Alpen weniger Schnee fällt. Das Festhalten an der Vergangenheit ist nicht zukunftsfähig.»

Kritik von Greenpeace

Treibend hinter diesem System ist der in Oberhofen am Thunersee beheimatete internationale Skiverband FIS. Die FIS organisiert den Rennkalender und stellt Regeln auf. Auf diese Saison hin verbot sie beispielsweise fluorhaltige Skiwachse, weil diese umweltschädlich und womöglich krebserregend sind.

Auch sonst gibt sich die FIS fortschrittlich. Im November 2021 verkündete der Verband stolz, man wolle zum ersten «klimapositiven» internationalen Sportverband werden. Dazu wurde die FIS Rainforest Initiative ins Leben gerufen, mit der die CO₂-Emissionen des Weltcups im peruanischen Amazonasgebiet kompensiert werden sollen. Die Idee: Die Partnerorganisation Cool ­Earth unterstützt indigene Gemeinschaften, damit diese in ihren Gebieten keine Holzschläge erlauben.

Die FIS ist über den Verbandspräsidenten Johan Eliasch an Cool Earth beteiligt: Er hat die Organisation mitgegründet. Auf der Website des Matterhorn Cervino Speed Opening freut sich Eliasch, dass die Rennen in Zermatt dazu beitragen, «dass die FIS ihren CO₂-Fussabdruck reduzieren kann».

Wobei über die Grösse dieses Fussabdrucks gestritten wird. Laut einer im März 2023 von der FIS veröffentlichten Berechnung emittiert der Verband 58 000 Tonnen CO₂ pro Jahr – so viel, wie 4000 in der Schweiz lebende Menschen pro Jahr ausstossen. Eine verdächtig tiefe Zahl, fand Greenpeace und gab eine Plausibilitätsstudie in Auftrag. Das Resultat: Die FIS habe es versäumt, eine transparente und verständliche Bewertung durchzuführen. «Alle Berechnungen, Bewertungen, Ableitungen und Vergleiche deuten auf eine unplausible und unterschätzte Gesamtbewertung der Emissionen hin.» Insbesondere wurde die Anreise der Zuschauer:innen nicht berücksichtigt – obwohl bekannt ist, dass das einer der grössten Emissionsfaktoren ist.

Auch zur Kompensation und zur dadurch behaupteten «Klimapositivität» äussert sich die Studie: «Es liegt die Vermutung nahe, dass mit diesen Projekten keine Emissionen vermindert, sondern nur die Abholzung von Waldgebieten verhindert wird.» Wichtiger wäre es laut der Studie, neue Kohlenstoffsenken voranzutreiben.

Auf diese Unstimmigkeiten angesprochen, reagiert die FIS wenig konkret. «Wir arbeiten an einem Nachhaltigkeitsplan, um in dieser Wintersaison eine möglichst genaue Schätzung des Fussabdrucks der Wettbewerbe zu liefern», schreibt die Nachhaltigkeitsbeauftragte Susanna Sieff. Zudem konzentriere man sich auf jene Emissionen, über die die FIS «volle operative Kontrolle» habe.

Die Frage, ob es konkrete Erfolge im Amazonasgebiet gebe, kann Sieff nicht beantworten. «Wir helfen der Natur definitiv», schreibt sie. «Das Projekt entspricht dem Uno-Rahmen für die Durchführung von Kompensationsmassnahmen, da wir ohne Kompensationen das 1,5-Grad-Ziel nicht erreichen können.» Dass Kompensationen den CO2-Ausstoss netto nicht senken und mit dem Projekt im Amazonas höchstens zusätzliche Emissionen verhindert werden, bleibt unerwähnt.

Die schwammigen Aussagen sind erstaunlich. Bis in sechs Jahren will die FIS ihre Emissionen halbieren und bis 2040 bei netto null angelangt sein. Vorzuweisen hat sie: nichts. Das sieht auch Bornstein von POW so. «Die FIS macht grosse Versprechungen, die sie nicht einlöst», sagt er.

Auch viele Profis sind der Ansicht, dass die FIS zu wenig unternimmt. Seit Februar 2023 unterzeichneten über 400 Athlet:innen einen offenen Brief an die FIS. Nebst Mikaela Shiffrin oder Federica Brignone auch die Schweizer:innen Daniel Yule, Joana Hählen und Sandro Simonet. Sie fordern netto null bei der FIS und allen Rennen bis 2035 und eine transparente Strategie, wie die Reduktionsziele erreicht werden sollen.

POW unterstützte den offenen Brief mit einer Kampagne, die von der FIS als «höchst unattraktiv» bezeichnet wurde. Die FIS setze auf «langfristige, praktische Projekte», die einen «sinnvollen Beitrag für die Zukunft unseres Planeten und für unsere Sportler» leisten würden. Die Kampagne schade jedoch der Zukunft des Skisports und der «Glaubwürdigkeit aller, die sich ernsthaft für den Klimaschutz einsetzen».

Swiss-Ski bemüht sich

Für den Klimaschutz will sich auch Swiss-Ski einsetzen. «Wir werden uns anpassen müssen», sagt Walter Reusser, der nach wie vor an eine Zukunft des Skisports glaubt. Der Verband schätzt aktuell die CO₂-Emissionen der mitorganisierten Rennen. «Wir möchten wissen, wie die Menschen anreisen, wie viel Schnee zusätzlich produziert wird, wie die Infrastrukturen geheizt werden und so weiter», erklärt Reusser. «Uns interessiert, welches die grössten Verursacher sind, damit wir darauf fokussieren können.»

Am Biathlon-Weltcup im Dezember in der Lenzerheide war zum ersten Mal die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln im Ticketpreis inbegriffen. Und Rennen in der südlichen Hemisphäre im Sommer seien für die jüngsten Nachwuchsfahrer:innen verboten, erklärt Reusser. Dass das den Skirennsport wirklich nachhaltig macht, bezweifelt Bornstein von POW. «Der Fussabdruck lässt sich sicherlich verkleinern. Wir begrüssen Initiativen, die die Emissionen des Individualverkehrs verringern. Aber wir müssen auch eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, welche Art von sportlichen Grossanlässen wir in Zeiten der Klimakrise auszurichten bereit sind.»

Auch an jenem strahlenden Novembermittwoch in der letzten Gondel vom Klein Matterhorn ins Tal stellt sich diese Frage. Die müden Profis wollen möglichst schnell ins Hotel. Sie diskutieren über das Material, die Piste, das Wetter und den Sinn dieser Rennen. «The show must go on», sagt ein britischer Trainer. Immerhin müssten die vielen europäischen Athlet:innen dank der Rennen am Klein Matterhorn weniger oft in die USA oder nach Argentinien fliegen. «Das ist doch auch gut fürs Klima.» So schnell wird Zermatt nicht aus dem Weltcup verschwinden.

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