Massenüberwachung: «Der Heuhaufen, das sind wir alle»

Nr. 3 –

Der Nachrichtendienst des Bundes überschreitet seine Kompetenzen routinemässig. Das bezeugt eine ständig wachsende Liste von Skandalen. Die Online-Kabelaufklärung gehöre deshalb gänzlich verboten, fordert Erik Schönenberger von der Digitalen Gesellschaft.

Symbolbild: Netzwerkkabel und Netzwerkverteiler
Heute überwache der Nachrichtendienst «alle, die online kommunizieren», sagt Erik Schönenberger. Foto: Ursula Häne

WOZ: Erik Schönenberger, 2023 hat der Bundesrat eine Revision des Nachrichtendienstgesetzes (NDG) auf Eis gelegt. Bald soll er einen neuen Anlauf nehmen. In welche Richtung?

Erik Schönenberger: Als Kernelement zeichnet sich ab, dass der NDB, der Nachrichtendienst des Bundes, seine genehmigungspflichtigen Überwachungsmassnahmen – vom gezielten Abhören von Telefonaten bis hin zum Staatstrojaner – künftig auch im Fall von «gewalttätigem Extremismus» anwenden dürfen soll. Grundsätzlich existiert in der Schweiz gegenwärtig noch eine Schranke: Der NDB soll zu Sicherheitszwecken ausländischen Datenverkehr überwachen, aber vom inländischen, politischen Schnüffeln abgehalten werden – auch vor dem Hintergrund des Fichenskandals Ende der achtziger Jahre. Diese Schranke droht zu fallen. Und geht es um «gewalttätigen Extremismus», dann könnten rasch etwa auch Klimakleber:innen oder aktivistische Organisationen in den Fokus rutschen. Letztlich ist es also wie bei bisher jeder NDG-Revision: Es ist kaum Gutes zu erwarten.

Das geltende Gesetz ist seit sieben Jahren in Kraft. Insbesondere vor der darin geregelten Online-Kabelaufklärung warnt die Digitale Gesellschaft schon lange. Nun kam die «Republik» letzte Woche in einer umfangreichen Recherche zum Schluss: «Der Bund überwacht uns alle». Tut er das wirklich?

Ja, das tut er. Zumindest alle, die online kommunizieren. Die Kabelaufklärung ist eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Funk- und späteren Satellitenaufklärung: Um Informationen aus dem Onlinedatenverkehr abzugreifen, wird das internationale Glasfasernetz angezapft. Der zuständige Dienst, das Zentrum für elektronische Operationen (ZEO) beim Verteidigungsdepartement, geht zu diesem Zweck auf die Internetprovider in der Schweiz zu, um bei ihnen die nötige Infrastruktur zu installieren. Auf Basis von Stichwortsuchen, die der NDB in Auftrag gibt, holt das ZEO dann Daten ein, um sie zu filtern und für den NDB aufzubereiten.

Portraitfoto von Erik Schönenberger
Erik Schönenberger

Offiziell betrifft die Überwachung bloss den grenzüberschreitenden Datenverkehr …

… was eine fadenscheinige Behauptung ist. Das Internet funktioniert so, dass selbst die banalste Onlinekommunikation oft Landesgrenzen überquert, weil sie über Server im Ausland läuft. Wir alle haben also internationalen Traffic, der potenziell im ZEO gesammelt und gesichtet werden kann. Im bernischen Zimmerwald, wo sich das ZEO befindet, suchen die Beamt:innen gewissermassen die Nadel im Heuhaufen – und dieser Heuhaufen, das sind wir alle. Teils werden Daten monatelang im ZEO gespeichert, um sogenannte Retrosuchen zu ermöglichen.

Schon 2017 hat die Digitale Gesellschaft gemeinsam mit mehreren Einzelpersonen, darunter zwei WOZ-Redaktor:innen, ein Gesuch zur Unterlassung anhaltsloser Massenüberwachung eingereicht. Wie weit sind Sie damit mittlerweile gekommen?

Nachdem der NDB nicht auf die Forderung eingegangen war, wandten wir uns ans Bundesverwaltungsgericht, das unsere Beschwerde aber ebenfalls nicht inhaltlich behandeln wollte. Ende 2020 hat dann das Bundesgericht das Bundesverwaltungsgericht relativ scharf zurechtgewiesen: Dieses müsse sich sehr wohl substanziell mit unserem Anliegen auseinandersetzen. Das Verfahren ist noch im Bundesverwaltungsgericht hängig.

Unsere Prozessführung ist strategischer Natur, unsere Beschwerdeführer:innen sind auf unterschiedliche Weise potenziell direkt von der Überwachung durch den NDB betroffen – etwa weil dadurch Berufsgeheimnisse oder der Quellenschutz bedroht sind. Der juristische Weg ist sehr aufwendig und lang, er könnte letztlich bis nach Strassburg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führen. Aber wie Sie gesagt haben: Er ist auch erkenntnisreich. Alle involvierten Stellen mussten bereits Fragenkataloge des Bundesverwaltungsgerichts beantworten; zwar konnten wir nur einen Teil davon tatsächlich einsehen, aber in einem der Dokumente räumt der NDB beispielsweise die erwähnte Praxis der Retrosuche ein.

Eine Massenüberwachung werde es nicht geben, haben im Abstimmungskampf 2016 etwa Markus Seiler, der damalige NDB-Chef und heutige Generalsekretär des Aussendepartements, oder Guy Parmelin, damaliger Verteidigungs- und heutiger Wirtschaftsminister, betont. Haben sie gelogen?

Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, vielleicht wussten sie es auch einfach nicht besser. Und letztlich kann man sich immer an der Erzählung des NDB festhalten, der sagt, er arbeite nur mit den gefundenen Nadeln, während er mit dem Heuhaufen nichts zu tun habe. Dabei macht es doch keinen Unterschied, ob der NDB oder das ZEO den Heuhaufen durchstöbert. Vielleicht haben Seiler und Parmelin also nicht direkt gelogen, aber sie haben die Öffentlichkeit sicher hinters Licht geführt.

Trotz vieler bekannter Fälle, in denen der NDB seine Kompetenzen überschritten hat, scheint er sich auf den Rückhalt von Politik und Bevölkerungsmehrheit verlassen zu können.

In der öffentlichen Wahrnehmung kommt es oft so an, als habe der NDB bei seiner Arbeit, die ja immerhin der öffentlichen Sicherheit dienen soll, halt mal wieder über die Stränge geschlagen – und als könne sein Vorgehen nachträglich mit einem legalen Rahmen versehen werden. Und dann schlägt er beim nächsten Mal anderswo über die Stränge. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass ein Geheimdienst, der in einem liberalen, demokratischen und transparenten Staat operiert, eine Art Fremdkörper ist.

Noch in der ersten Jahreshälfte dürfte die Vernehmlassung zur NDG-Revision starten, 2025 könnte der parlamentarische Prozess beginnen. Bietet die Revision auch eine Chance?

Derzeit wird die Massenüberwachung ja wieder etwas breiter problematisiert, sodass man durchaus fordern kann: Wir wollen eine Streichung des kompletten Kapitels zur Kabelaufklärung aus dem NDG. Es wird sich zeigen, wie die Situation aussieht, wenn sich der Staub wieder etwas gelegt hat. Aber grundsätzlich ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die parlamentarische Linke und grosse Teile der SVP, vielleicht auch noch die GLP, hinter dieser Forderung vereinen.

Erik Schönenberger ist Informatiker und Geschäftsleiter des zivilgesellschaftlichen Vereins Digitale Gesellschaft, der sich für die Verteidigung der Grundrechte im digitalen Raum einsetzt.