Literatur: Making-of Vincent van Gogh

Nr. 5 –

Eine berauschende Geschichte über unnachgiebige Frauen in der Kunstwelt: Wie Johanna van Gogh-Bonger aus ihrem unbekannten Schwager einen Popstar der Moderne machte.

Statt eines trägen Sommers wartet auf sie ein nervöses Erwachen. Die Ich-Erzählerin Gina, mit der Simone Meier ihren neuen Roman, «Die Entflammten», eröffnet, bezeichnet sich selbst als «faule Frau». Sie besucht ihren Vater in seinem Exil in Italien, einen in Alkohol und Selbstmitleid schwelgenden Schriftsteller, der nach seinem ersten erfolgreichen Roman nichts mehr zu publizieren vermochte.

Und Gina wird von einer Unruhe heimgesucht: «Seit Wochen hatte sich in mir etwas eingenistet und besetzte mich.» Dieses «etwas» ist Johanna van Gogh-Bonger. Die Frau, die dafür sorgte, dass die Gemälde Vincent van Goghs, die bis zu dessen Tod 1890 nicht die geringste Bekanntheit erlangt hatten, heute für zweistellige Millionenbeträge über Auktionstische wandern.

Tempo, Tempo, Tempo

Ganz anders als Vater und Tochter im Roman ist die Autorin und «Watson»-Kulturredaktorin Simone Meier an Produktivität kaum zu überbieten. Sie legt mit «Die Entflammten» nach «Fleisch» (2017), «Kuss» (2019) und «Reiz» (2021) bereits ihren vierten Roman im Verlag Kein & Aber vor. Und der Wahlzürcherin ist erneut eine kraftvolle Erzählung gelungen, die von der ersten kurzweiligen Seite an noch an Tempo zulegt.

Gina beginnt, über Johanna van Gogh-Bonger, die sie Jo nennt, zu schreiben. Fast obsessiv forscht sie deren Lebensgeschichte aus und holt die Frau, von der sie über ein Jahrhundert getrennt ist, mit Zwiegesprächen in die Gegenwart. Ins leicht verlotterte Strandhaus ihres Vaters, in dem Gina nun fiebrig in die Tasten haut. Es ist wahrhaftig ein aussergewöhnliches Leben, in das die Romanfigur eintaucht und das Simone Meier in episodischer Erzählmanier vor ihren Leser:innen auffächert.

Erst 28 Jahre alt ist Johanna van Gogh-Bonger, als sie 1891 zur Witwe wird. Noch keine zwei Jahre war sie mit dem zum Todeszeitpunkt 32-jährigen Galeristen Theo van Gogh verheiratet. Von einer Syphilis dahingerafft, hatte er ihr ein Kind, minimale finanzielle Reserven und eine riesige Anzahl Bilder und Zeichnungen seines Bruders Vincent vermacht, der sich kurz zuvor erschossen hatte. Im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wo das ursprünglich aus den Niederlanden stammende Ehepaar lebte, mag sich kein:e Kunsthändler:in für die Bilder van Goghs erwärmen. Doch Jo ist überzeugt, dass das radikale Werk ihres Schwagers in die Museen gehört.

Meier umreisst die Beharrlichkeit einer Frau, die immer weiterdrängt, von Galerie zu Museum, von Verlag zu Kritiker, und trotz extremer Widerstände einen hervorragenden Geschäftssinn entwickelt, in fliegenden Sätzen: «Wenn einem ihrer Händler ein Coup gelungen ist, erhöht sie sämtliche Preise für alle übrigen Gemälde und Zeichnungen, die zum Verkauf stehen, viele sind das nie, Jo behält die ihr lieben und die besonders begehrten Bilder zurück und macht sie noch begehrenswerter.»

Genauso wie vom zunehmenden Begehren der Kunstwelt nach Vincent van Goghs Bildern erzählt «Die Entflammten» von den Begehren Jos. Meier versteht es äusserst gut, die Liebe und die Sexualität in verschiedensten Nuancen durchzuspielen. Während in ihrem letzten Buch, «Reiz», die fiktive Figur Valerie, eine schlagfertige Zürcher Journalistin, nach der «Apokalypse des Klimakteriums» mit Gelassenheit auf ihre sexuellen Eskapaden zurückblickt, vergnügt sich die historische Protagonistin Jo in «Die Entflammten» mal mit dem niederländischen Maler Isaac Israëls, dessen Œuvre sie abwertend als «gefällig» bezeichnet. Und sie heiratet den Juristen und Künstler Johan Cohen Gosschalk, der ihr in Briefen schreibt, dass er sich «höchstens zur Hälfte» als ihr Mann sehe und «von einem Empfinden berichtet, das zu grossen Teilen ein weibliches sei».

Mata Hari huscht über die Seiten

Und Jo? Sie sehnt sich nach der Londoner Pensionsbesitzerin Miss Gard, die sie in jungen Jahren das Küssen lehrte. Meier findet für ihr Verlangen Beschreibungen wie: «[…] es tut zugleich weh und wohl, es will sie mitten hindurch zerreissen, es schleudert sie im Traum zu Boden und biegt ihr Rückgrat so weit zurück, dass es zu brechen droht.»

Ein lustvolles Spiel mit Fakten und Fiktion treibt die Autorin mit ihren «Entflammten». Und eine erheiternde Leichtigkeit stellt sich beim Lesen des historischen Romans ein, in dem auch mal die niederländische Tänzerin und als Spionin hingerichtete Mata Hari über die Seiten huscht. Die imaginierten Gespräche zwischen der Kunsthistorikerin Gina, die beginnt, ihre eigene Familiengeschichte niederzuschreiben, und der langsam alternden Jo bilden den roten Faden.

An einer Stelle fragt Gina, wie sie mit ihrem pathetischen Vater «als Figur und als Mensch» umgehen solle. Jo erwidert, dass sie ihr die Frage nicht beantworten könne, ergänzt aber: «Ich kann dir nur versichern, dass kein einziger Künstler, den ich gekannt habe, sich angesichts seiner weiblichen Modelle oder Musen jemals diese Frage gestellt hat, keiner.»

Meier schenkt uns nicht nur einen kostbaren Female Gaze auf die funkelnde, männerdominierte Kunstwelt des 19. und 20. Jahrhunderts, sie wendet diesen auch gleich auf den Kunstbetrieb der Gegenwart an.

Buchcover von «Die Entflammten»
Simone Meier: «Die Entflammten». Roman. Verlag Kein & Aber. Zürich 2024. 272 Seiten. 30 Franken.