Game: Sweatshops auf der Paradiesinsel

Nr. 6 –

Schiffbrüchige stranden in einer Tropenlandschaft – und finden sich bald schon auf Sklavenjagd wieder. Das Survivalgame «Palworld» animiert gerade Millionen weltweit, in einer knallbunten Welt einen grausamen Inhalt durchzuspielen.

Bizarre Strandszene aus dem Computerspiel «Palworld»
Herzige Wesen bei der Akkordarbeit am Fliessband: Bizarre Strandszene aus «Palworld». Still: Pocketpair

Der Überlebenskampf in freier Wildbahn ist ein Publikumsmagnet, ob als Realityshow oder Film. Eben erst verfolgten Millionen das Finale von Staffel drei der Onlineserie «7 vs. Wild» («das ‹Dschungelcamp›, aber in krass», heisst es vonseiten der Produktionsfirma). Zugleich zählt auf Netflix «La sociedad de la nieve» (Die Schneegesellschaft), ein oscarnominiertes Drama über die Überlebenden eines Flugzeugabsturzes in den eiskalten Anden, zu den momentan beliebtesten Titeln. Vor allem aber um ein Videospiel ist ein weltweiter Hype entstanden: Das Survivalgame «Palworld» hat seit seiner Veröffentlichung Mitte Januar plattformübergreifend fast zwanzig Millionen Spieler:innen erreicht.

Gerechnet hatte mit diesem Erfolg niemand. Das Spiel wird von einem kleinen Indiestudio namens Pocketpair in Tokio entwickelt, dessen Veröffentlichungen bislang kaum beachtet wurden. Zudem ist das Game nur in einer unfertigen Vorabversion verfügbar. Trotzdem ist es nun in aller Munde.

Im Vergleich zu den eher unappetitlichen Passionsgeschichten, die Filme wie «Into the Wild», «The Revenant» oder eben «Die Schneegesellschaft» erzählen, bietet «Palworld» ein geradezu paradiesisches Setting. Als Schiffbrüchige landet die Spielerin – entweder allein oder mit anderen – auf den fiktiven Palpagos Islands. Auf dem Archipel ist zum Glück gerade Sommer, und die Welt erstrahlt in grellen Farben. Viel Zeit, das malerische Panorama zu geniessen, bleibt jedoch nicht: Es gilt, Rohstoffe wie Holz oder Steine zu sammeln, um daraus Werkzeuge zu basteln, mit denen sich wiederum weitere Ressourcen beschaffen und Einrichtungsgegenstände – eine Werkbank, Vorratskisten, ein Bett – für ein erstes provisorisches Lager herstellen lassen. Eine Story gibt es derzeit höchstens rudimentär.

Viel Betrieb im Steinbruch

Damit ist «Palworld» zunächst ein Survivalgame wie zahllose andere auch: In Videospielen wird seit langem immer wieder aufs Neue ums Überleben in unberührter Natur gerungen. Das galt schon für den Bauklötzesimulator «Minecraft», dem das Medium insgesamt viele wegweisende Ideen verdankt. Der Clou von «Palworld» – und der Grund für die enorme Resonanz, auf die das Spiel stösst – liegt dagegen in einer besonderen Mechanik: Fast überall auf den Inseln wuseln niedliche Wesen herum, sogenannte «Pals». Das kann mal ein Schaf oder ein Wildschwein sein, mal auch ein Fabelwesen. Wie unbeschwert deren Dasein bislang war, lässt sich daran ablesen, dass sie bei Sonnenuntergang an Ort und Stelle zu Boden sinken, um schnurstracks einzuschlummern. Dumm nur, dass es mit dem Frieden bald vorbei ist.

Traktiert man die Tierlein nämlich lang genug mit einem Knüppel, kann man sie einfangen. Derart domestiziert, dienen die Pals dann entweder als Sidekicks in weiteren Kämpfen gegen Exemplare grösserer Gattungen oder als Arbeitskräfte im Wirtschaftsbetrieb der Spielerin. Nach und nach lassen sich auch Felder anlegen, Viehzucht betreiben und Steinbrüche oder Hochöfen konstruieren, um weitere Gegenstände herzustellen.

Technisch ist das trotz Vorabversion bereits jetzt gut umgesetzt. Schon nach wenigen Augenblicken wird gut kalkuliert der Sammel-, Jagd- und Basteltrieb aktiviert. Ebenso schnell springt allerdings ins Auge, dass es sich bei den Pals recht unzweifelhaft um ein Pokémon-Plagiat handelt, also im Einzelfall sogar nur minimale Variationen der kleinen Wesen, um die sich ein inzwischen fast dreissig Jahre altes Markenimperium des Videospielherstellers Nintendo dreht. Das milliardenschwere Franchise startete ursprünglich ebenfalls als Game, bei dem man die kleinen Monster einfangen, trainieren und gegeneinander antreten lassen musste, erstreckt sich aber längst auch auf andere Medien. Es gibt Pokémon-Zeichentrickserien, Filme, Mangas oder Sammelkarten. Ende der Neunziger brachte Volkswagen sogar ein knallgelbes Pokémon-Auto auf den Markt.

Nintendo dürfte also vermutlich der Hype um «Palworld» wenig begeistern, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass noch ein Rechtsstreit folgt. Pocketpair hat sich aber auch ansonsten munter bedient. Viel erinnert beispielsweise an Games wie das Wikingerabenteuer «Valheim». Spaziert man ein wenig über die Inseln, drängt sich zudem der Eindruck auf, dass selbst das düstere Fantasyrollenspiel «Elden Ring» mit seinen mächtig in den Himmel ragenden Gesteinsformationen beim Weltdesign Pate stand. Es sei gar nicht so einfach zu sagen, konstatierte ein britischer Rezensent, was «Palworld» eigentlich nicht irgendwo anders abgekupfert habe.

Koloniale Machtfantasie

Empörungspotenzial birgt aber vor allem ein anderer Aspekt. Bei Pokémon kam schon vor Jahren die Kritik auf, dass das Spiel Tierquälerei normalisiere, weil es sich dabei um eine Art digitale Variante von Hahnen- oder Hundekämpfen handle. Das konnte man noch als arg gesuchten Einwand abtun. Bei «Palworld» allerdings erreicht das Gamedesign in Sachen Zynismus eine neue Qualität. Ein auf exotischen Inseln Gestrandeter, der sich postwendend an die Ausplünderung lokaler Bodenschätze und auf die Jagd nach heimischen Arbeitskräften macht, um diese dann in der Landwirtschaft für sich schuften zu lassen? Eine augenfälligere koloniale Machtfantasie wird man wohl lange suchen müssen. Fast könnte man meinen, hier wäre bewusst ein Hybride aus Sklavenjagdsimulator und Plantagenmanager entwickelt worden, um damit über die schmutzige Wirklichkeit kapitalistischer Reichtumsakkumulation aufzuklären: in der Frühzeit der Moderne wie heute in der globalen Peripherie.

Alles schön poppig

Schon das ebenfalls sehr farbenfrohe «Fortnite», eines der erfolgreichsten Spiele der vergangenen Jahre, war unter der leuchtenden Oberfläche eine eher dubiose Angelegenheit. Bei dem Survivalshooter handelt es sich um eine etwas entschärfte Adaption des japanischen Skandalfilms «Battle Royal»: Der Racheporno für entnervte Lehrkräfte extrapolierte das marktwirtschaftliche Leistungsprinzip ins Extrem, indem er eine Klasse naseweiser Schüler:innen auf einer abgelegenen Insel zum Kampf auf Leben und Tode antreten liess. Inzwischen ist «Battle Royal» der Name eines ganzen Videospielgenres.

Bei «Palworld» wie bei «Fortnite» stösst man auf ein explosives Gemisch aus niedlicher Optik und grausamem Inhalt. Womöglich sind gerade die angesagtesten Games nicht die schlechtesten Chiffren für die ganz reale Welt: Solange alles schön poppig funkelt, gerät ja auch dort die Hölle jenseits der Wohlfühlzonen rasch mal aus dem Blick.

«Palworld» (Pocketpair). Für PC und Xbox. 33.50 Franken (PC).