Guatemala: Müllhalde des Grauens

Nr. 35 –

Lange wurde das Polizeiarchiv von der Regierung geheim gehalten. Jetzt werden Millionen von Akten gesäubert, geordnet, gescannt und aufbereitet - zumindest bis zu den Wahlen vom 9. September.

Das gesamte Rechtssystem von Guatemala ist auf Papier aufgebaut. Selbst in Gerichtsverfahren haben die Behörden lange nur Papierberge hin und her geschoben, um zu einem Urteil zu kommen. Erst seit kurzem kennt man die mündliche Verhandlung, und wer in Guatemala einmal in Berührung mit der Bürokratie kam, weiss, dass für alles und jedes Akten erstellt, Formulare ausgefüllt, Fingerabdrücke genommen, Passbilder aufgeklebt werden.

Man fragt sich, was mit all diesen Akten passiert, und stellt sich ein grosses Haus vor, in dem bis unters Dach Tonnen von Papier gestapelt werden. Genau so sieht das historische Archiv der Nationalpolizei von Guatemala aus: ein zweigeschossiger Zweckbau aus Beton in der heruntergekommenen Zone 6 der Hauptstadt. In der Nachbarschaft haben sich Handwerks- und kleinere Industriebetriebe in ein Wohnviertel gemischt, direkt daneben ein Schrottplatz für Autos. Nie hat sich jemand um das Gebäude gekümmert. Das Dach ist im Lauf der Jahre undicht geworden. Es gibt kein Licht und keine Ventilation. Es riecht nach Staub, Moder und Verwesung.

Die Räume sind vollgestapelt mit Papier; manchmal in Regalen, aber auch einfach so auf dem Boden. Ratten und andere Insekten fressen sich durch die Aktenberge. An der Decke hängen Fledermäuse. Ihr Kot ist klebrig und ätzend. Wenn er trocknet, wird er hart wie Beton. Damit verschmutzte Akten können nie mehr gesäubert werden. In diesem Zustand wurde das Archiv am 5. Juli 2005 «entdeckt», und teilweise sieht es noch heute so aus. Nur das Dach wurde abgedichtet, und die Kammerjäger vernichteten das Ungeziefer. Ein paar Fledermäuse sind geblieben.

Von der Gründung bis zur Auflösung der Nationalpolizei 1997 war das Archiv in Betrieb. 117 Jahre in Akten. Manchmal wurden sie in geschnürten Bündeln angeliefert, manchmal einfach von einem Kleinlaster vor die Tür gekippt. Im Polizeijargon hiess das Haus «el vertedero», die Müllhalde. Die dort arbeitenden Frauen waren strafversetzt worden. Eine Anordnung verbot die Verwendung der Akten als Klopapier. Die Frauen ordneten die angelieferten Schriftstücke bestenfalls nach Jahr und Polizeieinheit. Dann kamen sie auf die hohen Stapel. Ein Antrag auf einen Führerschein liegt auf der Akte über den Fund einer Leiche mit Folterspuren, Listen mit den Namen später ermordeter OppositionspolitikerInnen vermischen sich mit Rapporten von Viehdiebstahl.

Eine Zufallsentdeckung

Natürlich wussten Regierung, Justizbehörden und Polizei von diesem Archiv. Aber als 1997 die Wahrheitskommission zur Aufklärung der in 36 Jahren Bürgerkrieg verübten Verbrechen nach einem Polizeiarchiv fragte, sagte der damalige Präsident Álvaro Arzú, so etwas gebe es nicht. Dass es acht Jahre später entdeckt wurde und seither aufgearbeitet wird, war ein Zufall.

Zwei Monate zuvor war mitten in Guatemala-Stadt ein Waffenlager der Armee explodiert. Um weitere derartige Unfälle zu vermeiden, inspizierten MitarbeiterInnen des Büros des staatlichen Menschenrechtsbeauftragten alle Einrichtungen in der Stadt, in denen Waffenlager und Sprengstoff vermutet wurden; darunter die Räume der Einheit zur Beseitigung von Sprengstoffen, die unmittelbar neben dem Polizeiarchiv liegen. Der Mitarbeiter der Menschenrechtsbehörde sah durch ein Fenster die hohen Papierstapel und fragte eine Polizistin, was das denn sei. Die antwortete arglos: das Archiv der Nationalpolizei. Sofort meldete der Mitarbeiter in seiner Zentrale: Ich bin soeben auf einen versteckten Schatz gestossen.

«Zum ersten Mal können wir schwere Verbrechen des Bürgerkriegs mit den Dokumenten der Täter rekonstruieren», sagt Alberto Fuentes, der das Archiv betreut. Diese Arbeit beginnt langsam. Zunächst musste die Menschenrechtsbehörde per Gerichtsbeschluss durchsetzen, dass sie überhaupt in den Papieren ermitteln darf. Dann musste Personal gesucht und geschult werden. «Wir hatten keine Ahnung, wie man ein Archiv aufarbeiten und nutzen kann», sagt Fuentes. Und das Gebäude musste abgesichert werden. Sechzehn Videokameras wurden installiert, private Sicherheitsleute wachen rund um die Uhr. Die Polizei darf nur die weitere Umgebung beobachten.

Trotzdem flog schon ein Molotowcocktail über die Umzäunung. Der Vorsitzende der Veteranenvereinigung der Armee drohte dem Menschenrechtsbeauftragten offen mit Anschlägen auf seine MitarbeiterInnen. Er weiss, dass in den Papieren Brisantes zu finden ist.

Puzzleteile

«Die ganz spektakulären Dokumente, in denen zum Beispiel Morde angeordnet werden, findet man nicht», sagt Fuentes. «Zu verstehen, wie das damals funktioniert hat, ist wie das Zusammensetzen eines Puzzles. Man muss Befehlsketten verfolgen, die internen Beziehungen der Polizei rekonstruieren, herausfinden, wer mit wem gesprochen hat.» Ein paar Fälle wurden schon geklärt. So konnten durch den Abgleich von Polizeiakten über aufgefundene Leichen mit Listen von Verschwundenen, Daten aus der Personalausweis-abteilung und Archiven von Menschenrechtsorganisationen vierzig Tote identifiziert werden, die in den achtziger Jahren auf dem Armenfriedhof von Guatemala-Stadt anonym begraben worden waren. Man hat herausgefunden, wer die mutmasslichen Mörder von acht jungen Männern waren, deren Leichen 1982 in der Zone 5 der Hauptstadt gefunden wurden: Im Archiv fand sich eine Akte, wonach sie zwei Monate zuvor von der Polizei verhaftet worden waren. Und es gibt eine Akte über die Verhaftung einer neunköpfigen Familie, vom einjährigen Baby bis zur 73-jährigen Grossmutter, weil sie angeblich der Guerilla angehörte. Bislang galt diese Familie einfach als verschwunden. «Es gibt 45 000 Familien in Guatemala, die noch immer nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist», sagt Fuentes. «Sie haben ihnen nicht nur das Recht auf Leben, sondern auch das Recht auf den Tod geraubt.»

Archiv in der Schweiz

Sechs Millionen der geschätzten achtzig Millionen Akten wurden bislang gesäubert und vorgeordnet. Männer und Frauen mit Mundschutz und Handschuhen trennen die oft zusammengeklebten Blätter voneinander, entfernen Metallklammern und bewahren jeden einzelnen Fall in einem Umschlag auf. Der wird beschriftet und nach Datum und Polizeieinheit abgelegt. 3,5 Millionen dieser vorsortierten Akten wurden bereits gescannt. Die Daten liegen mit Stichworten versehen auf einem Server im Archiv und auf einem zweiten in der staatlichen Menschenrechtsbehörde. Mit der Schweizer Botschaft wurde vor kurzem ein Abkommen unterzeichnet, das die Installation eines dritten Servers in der Schweiz vorsieht. Man weiss ja nie: «Die Schweiz ist politisch einfach stabiler», sagt Fuentes. Zwanzig Jahre werde es dauern, alle Papiere zu erfassen und zu ordnen, glaubt er. Und um sie auszuwerten? Er lacht: «Zum Glück haben wir Enkel.»

Die Menschenrechtsbehörde beschäftigt 206 MitarbeiterInnen im Archiv. Rechte PolitikerInnen kritisieren diesen Aufwand. Man gebe viel Geld für wenig Ergebnisse aus. Fuentes widerspricht. Als Stichprobe wurden 18 000 Akten untersucht, um aus dem Ergebnis auf den gesamten Inhalt des Archivs schliessen zu können. «Fünfzehn Prozent der Akten haben mit schweren Menschenrechtsverletzungen zu tun.» Armee und Polizei wissen, warum sie das Archiv am liebsten für immer schliessen würden.

Nicht nur wegen der Akten. Das Haus birgt einen verwinkelten Trakt mit vielen Kämmerchen ohne Fenster. Fuentes wird ernst, als er ihn betritt. «Als wir das erste Mal hier hereinkamen, lagen vergammelte Matratzen auf dem Boden, Reste von Drogen und Medikamenten und Exkremente.» Es ist bekannt, dass die Polizei irgendwo in Guatemala-Stadt ein geheimes Folterzentrum unterhielt, das man «la isla», die Insel, nannte. Fuentes zeichnet einen Plan in den Notizblock. Der Trakt liegt wie eine Insel mitten im Gebäude. «Ich bin sicher, dass dies die Insel ist», sagt er. «Aber ich habe keine Beweise.»

Es besteht die Gefahr, dass die Insel und die sie umgebenden Akten für Fuentes bald nicht mehr zugänglich sein werden. Für die Präsidentschaftswahl vom 9. September gehört mit Otto Pérez Molina ein ehemaliger General zu den Favoriten, der alles andere als eine weisse Weste hat. «Wenn er gewinnt», sagt der Archivar, «werden wir alle am nächsten Tag dieses Haus verlassen müssen.»

Unterwegs zum Narko-Staat

Wenn am 9. September im Guatemala der oder die PräsidentIn, das Parlament und die BürgermeisterInnen gewählt werden, sind mehr als vierzig der ursprünglichen KandidatInnen nicht mehr dabei. Sie wurden in den vergangenen Wochen ermordet. Álvaro Colóm, einer der beiden Favoriten für das Präsidentenamt, bewegt sich nur im Helikopter zu seinen wenigen Auftritten und hat stets einen Arzt an der Seite, der auf Schusswunden spezialisiert ist. Die politische Auseinandersetzung spielt sich vorwiegend auf Plakatwänden ab. Der Wahlkampf ist still und gewalttätig.

Worüber sollte man auch debattieren? Programme gibt es nicht. Colóm, der laut letzten Umfragen 22 Prozent der Stimmen erwarten darf, präsentierte eine mehr als 10 000 Seiten starke Textsammlung und damit eigentlich nichts. Otto Pérez Molina, der auf rund 17 Prozent kommen dürfte, hat nur einen einzigen Punkt: «Harte Hand» gegen die überbordende Gewalt. Der Textilunternehmer Colóm wird gemeinhin als Mitte-links-Kandidat bezeichnet, obwohl er bei seinen drei vergeblichen Versuchen, ins Präsidentenamt zu kommen, viel Flexibilität gezeigt und sich PartnerInnen mal in der ehemaligen Guerilla und mal tief im konservativen Lager gesucht hat. Auch der ehemalige General Pérez Molina ist eine schillernde Figur. Während des Bürgerkriegs war seine Einheit für mehrere Massaker verantwortlich, später wurde er Chef des berüchtigten militärischen Geheimdiensts. Aber er unterzeichnete auch als einziger Offizier die Friedensverträge mit der Guerilla. Sollte er - wie allgemein erwartet wird - zusammen mit Colóm in eine Stichwahl kommen, werden ihm durchaus Chancen auf den Sieg eingeräumt.

Mit Rigoberta Menchú, der Friedensnobelpreis-Trägerin von 1992, tritt zum ersten Mal eine Vertreterin der indigenen Bevölkerung an. Sie dürfte aber kaum fünf Prozent der Stimmen bekommen. Das liegt daran, dass sie die letzten Jahre vor allem ausserhalb des Landes verbrachte und kaum mehr Kontakt zur Bevölkerung hat. Ihre Kandidatur ist der Versuch, sich wieder im Land zu verankern und so bei späteren Wahlen Aussichten zu haben.

Parteien spielen bei den Wahlen nur eine untergeordnete Rolle. In Guatemala sind es nicht die Parteien, die KandidatInnen küren, sondern die Kandidat-Innen, die ihre Familie, Freunde und Unterstützerinnen in einer Partei um sich versammeln. Spenden sind willkommen: Wer Geld hat, darf sich gerne einkaufen. Und das tut derzeit die Mafia aus DrogenhändlerInnen, Militärs und korrupten PolizistInnen. So gut wie alle Parteien sind mehr oder weniger unterwandert. Das organisierte Verbrechen gewinnt politischen Boden. KandidatInnen, die dabei im Weg stehen, werden einfach umgebracht. Nach dem 9. September, schätzen Menschenrechtsorganisationen, werden mindes-tens zwanzig Prozent der gewählten VertreterInnen von der Drogenmafia kontrolliert sein.

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