Holy Shit

Le Monde diplomatique –

Wieso wir dringend eine Sanitärwende brauchen

Die Kanalisation gilt als eine der größten Errungenschaften der Moderne. In London entstand sie ab 1858 in der unvorstellbar kurzen Bauzeit von nur acht Jahren, nachdem das Parlament im Eilverfahren die damals gigantische Summe von 3 Millionen Pfund für das Vorhaben bewilligt hatte. Der bestialische Gestank der Themse in jenem ungewöhnlich heißen Sommer, der als The Great Stink in die Geschichte eingegangen ist, und die Angst vor der Cholera, die in mehreren Wellen die rasch wachsende Metropole heimsuchte, bewegten die Parlamentarier zu ihrer Entscheidung.1

Das Londoner Abwassersystem wurde zum Vorbild für ganz Europa und Nordamerika. Doch das gesamte Abwasser durch ein einziges Rohrsystem abzutransportieren, erwies sich im Nachhinein als fatal. In den Rohren mischen sich Kot und Urin mit Putzmitteln, Pillen und Kosmetikresten, Schwermetallen aus der Industrie sowie Mikroplastik aus Reifenabrieb. Dazu entsorgen Leute alles Mögliche ins WC – Katzenstreu, Farbreste oder Zigarettenkippen.

Mittels Filtern, biologischen Klärbecken und Chemiekeulen wird versucht, das mit vielfältigen Stoffen belastete Wasser zu reinigen. Dass dabei extrem viel Strom und Frischwasser verbraucht wird, gilt in der sich selbst als Umwelttechnik verstehenden Branche als unhinterfragbare Notwendigkeit.

Zurzeit diskutiert die EU über eine vierte Klärstufe, die Medikamentenreste und Mikroplastik aus dem Abwasser entfernen soll.2 770 Arzneimittelwirkstoffe wurden bereits in Oberflächengewässern und zum Teil sogar im Grundwasser nachgewiesen. Die Folgen sind nur punktuell bekannt. Antidepressiva verändern das Verhalten und die Körperfunktionen von Amphibien. Geringe Mengen eines Verhütungsmittels können ganze Ökosysteme zum Kippen bringen. Und Mikroplastik wurde schon in menschlichen Gehirnen und Plazentas gefunden.

In Milliarden von Jahren hat die Natur Wasser immer und immer wieder genutzt – und es blieb stets sauber. Heute ist es durch menschliche Aktivitäten weltweit verschmutzt. Zwar gelang es mit Hilfe der Kanalisation, die Cholera aus Europas Städten zu verbannen. Doch alle Schadstoffe zu vermischen, war keine schlaue Idee.

Mit immer neuen Techniken sollen die Folgen nun gemindert werden. Infrastruktur und Betrieb sind extrem teuer und können schon deshalb kein Vorbild für die ganze Welt sein. Außerdem benötigen Schwemmkanalisationen viel Wasser für den Transport. In Zeiten, in denen fast 1,5 Milliarden Menschen in Gebieten mit hoher Wasserunsicherheit leben und es auch in Europa immer trockener wird (siehe den Artikel «Schaut auf diesen Fluss»), erscheint es geradezu absurd, Fäkalien mit Trinkwasser wegzuspülen.

Dass es grundlegender Veränderungen bedarf, wird bislang jedoch nicht diskutiert. Schließlich ist das Thema unappetitlich und die Kanalisation die

aufwendigste unterirdische Infrastruktur der Industrieländer. Allein in Deutschland wird ihr Wert auf über 630 Milliarden Euro geschätzt. Hinzu kommt die Technik in den knapp 9000 kommunalen Kläranlagen.

Generationen von Ingenieur:innen haben an Verbesserungen gearbeitet, neue Studien- und Ausbildungsgänge sind entstanden, Industriezweige, Kontrollinstanzen, Gesetze und Grenzwerte. All das wirkt wie ein Fundament aus sehr stabilem Beton für den einmal eingeschlagenen Entwicklungspfad, der mit der Zeit immer breiter geworden ist.

Dabei gibt es neben der Wasserverschmutzung einen weiteren, ebenso wichtigen Grund, warum unser Umgang mit unseren Ausscheidungen nicht zukunftsfähig ist. Indem wir sie im WC versenken, entschwinden nämlich auch die darin enthaltenen Nährstoffe.

Vor allem Urin enthält viel Phosphor und Stickstoff – Substanzen, die die Landwirtschaft dringend braucht. Keine Pflanze und kein Tier kann ohne Phosphor wachsen. Und auch Stickstoff ist essenziell, um Eiweiß, Enzyme und Hormone zu bilden. Mit den Ernten gelangen die Nährstoffe von den Feldern über kurz oder lang auf unsere Teller. Danach aber kehren sie nicht aufs Land zurück, sondern enden im Klärschlamm. Und der wird heute zum Großteil verbrannt.

Die natürlichen Stickstoff- und Phosphorkreisläufe zu unterbrechen war nur möglich durch die Einführung von Kunstdünger. Chemiefabriken beliefern die Bauern mit den nötigen Substanzen, was allerdings erneut mit vielen Nebenwirkungen verbunden ist.

Die Stickstoffproduktion braucht extrem viel Energie. Außerdem zielen die Mineraldünger aus der Chemiefabrik darauf ab, die Pflanzen direkt zu ernähren, statt das Bodenleben zu fördern, wie es beim Einsatz von Kompost und Mist der Fall ist. Deshalb schrumpft auf industriell bewirtschafteten Äckern der Humusgehalt und die natürliche Fruchtbarkeit und Wasserhaltefähigkeit nehmen ab.

Vor allem durch die Kunstdüngerproduktion und die damit ermöglichte Massentierhaltung hat sich die Stickstoffmenge binnen eines Jahrhunderts verdoppelt. Ein erheblicher Teil der in Chemiekügelchen und Gülle enthaltenen Nährstoffe werden vom Regen weggeschwemmt oder sickern ins Grundwasser. In Niedersachsen mussten deshalb bereits zahlreiche Brunnen geschlossen werden, auch Seen und Flüsse sind überdüngt. Zugleich verteilt sich der Stickstoff über die Luft. Ökosysteme wie Magerwiesen verschwinden, und auch Wälder werden instabiler, weil Pilze aussterben und Baumwurzeln sich durch die Stickstoffmengen weniger verzweigen.

Phosphor als anderer zentraler Düngerbestandteil stammt dagegen aus Bergwerken. Die EU zählt ihn seit 2014 zu den kritischen Rohstoffen. Deshalb sollen ihn deutsche Kläranlagenbetreiber zurückgewinnen. Gerade entwickelt sich eine neue Branche der Recyclingindustrie, die das Problem durch riesige Monoverbrennungsanlagen zu lösen verspricht. Diese Öfen verarbeiten ausschließlich Klärschlamm zu Asche, aus der der Phosphor später mit viel Chemie herausgelöst werden soll. Damit erreicht die Kaskade des ewigen Reparaturbetriebs eine weitere Stufe – und sie wird ganz bestimmt nicht die letzte sein.

Im 19. Jahrhundert hat die Menschheit eine Richtung eingeschlagen, die sie zunehmend in Konfrontation zur Natur brachte. Die damit verbundenen Kollateralschäden gefährden inzwischen unser Überleben. Um die Risiken einzuschätzen, hat das Stockholm Resilience Center mit einem Team internationaler Wissenschaftler:innen das Modell der planetaren Belastungsgrenzen entwickelt. Es berechnet, bis zu welchem Punkt die natürlichen Systeme die menschlichen Einflüsse ausgleichen können, ohne dass es zu irreversiblen Veränderungen kommt. Im September 2023 wurde das Modell erneut aktualisiert und alle neun Prozesse quantifiziert, die die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Erdsystems regulieren.3

Während die Öffentlichkeit Klimaerhitzung und Biodiversitätsverlust inzwischen als Gefahren wahrnimmt, erfahren die durch Kanalisation und Kunstdünger völlig aus dem Ruder gelaufenen Stickstoff- und Phosphor-Kreisläufe bislang kaum Aufmerksamkeit. Dabei sieht die Forschung die planetaren Grenzen hier mindestens so weit überschritten wie bei der Belastung der Atmosphäre durch klimaschädliche Gase. Liegt das Thema im toten Winkel, weil es mit dem intimen Akt zu tun hat, den wir auf dem Klo verrichten?

Doch die gestörten Stickstoff- und Phosphorkreisläufe, Klimaerwärmung, Artensterben, Wassermangel – alles hängt miteinander zusammen und verstärkt sich gegenseitig. Notwendig sind deshalb integrierte Lösungsansätze, die systemisch vorgehen, statt auf punktuelle Verbesserungen abzuzielen. Es braucht nicht nur eine Energiewende und ein massives Umsteuern in der Landwirtschaft. Ebenso wichtig ist eine Sanitär- und Nährstoffwende.

Die gute Nachricht: Es gibt Menschen, die längst daran arbeiten. Im November trafen sich engagierte Expert:innen aus sieben Ländern in Dübendorf bei Zürich zum ersten internationalen Kongress unter dem Titel „Connect the Networks“. Das Ganze erinnert an die Anfangszeit der Erneuerbare-Energien-Bewegung vor 40 Jahren. Pionier:innen bauen Trockentrennklos und betreiben sie auf Festivals und im öffentlichen Raum, andere forschen zur Vererdung von Fäkalien und deren Düngekraft. Sie tüfteln an vernetzten Lösungen, formulieren Gesetzesvorschläge und entwickeln Systeme, die auch in großen Wohnanlagen und Siedlungen funktionieren.

Eröffnet wurde der Kongress von Tove Larsen, die gerade in Rente gegangen ist. Als junger Ingenieurin am Schweizer Wasserforschungsinstitut Eawag war ihr bei einer Veranstaltung über Abfallrecycling die Frage in den Sinn gekommen, die ihr gesamtes Forscherinnenleben bestimmen sollte: Warum trennen wir nicht auch beim Abwasser die verschiedenen Stoffe?

Die Separation von Urin schien ihr dabei am dringlichsten: Über den Urin werden 85 Prozent des Stickstoffs und 65 Prozent des Phosphors in die Kanalisation eingeleitet, der damit den meisten Aufwand bei der biologischen Reinigung verursacht. Würde es gelingen, den Harn aus dem System herauszuhalten, könnten Kläranlagen zwei Drittel kleiner ausfallen, so Larsens Kalkulation. Dass damit auch die Kunstdüngerproduktion enorm schrumpfen könnte, wurde ihr erst später klar.

Seit fast drei Jahrzehnten beschäftigt sich die Eawag nun schon damit, wie sich Urin separieren lässt. Ziel aller Anstrengungen ist es, neue Lösungen für große Städte zu entwickeln. Obwohl der Stoff weltweit in Hülle und Fülle vorhanden ist, war es am Anfang schwierig, seiner habhaft zu werden. Eine Trockentrenntoilette aus Schweden, die dort in Ferienhäusern eingebaut wurde, ohne Wasser auskommt und Urin und Kot in zwei Behältern sammelt, machte vor gut 25 Jahren den Anfang. Später wurden alle Toiletten im Eawag-Gebäude mit Schüsseln ausgestattet, bei denen sich im vorderen Teil eine Abflussklappe öffnet, wenn sich jemand auf die Brille setzt.

Inzwischen hat die renommierte Sanitärfirma Laufen eine Toilettenschüssel auf den Markt gebracht, die sich beim ersten Blick kaum von einem normalen WC unterscheidet und doch in der Lage ist, mit Hilfe des sogenannten Teekanneneffekts den Urin vorne scharf um die Ecke zu leiten. Im Keller der Eawag produziert die kleine Firma Vuna daraus den Mineraldünger Aurin. Weil der Harn hier unverdünnt ankommt, reicht ein relativ kleiner Membranfilter, um Medikamentenreste zu entfernen.

Die Techniken sind entwickelt. Nun geht es darum, sie zu verbreiten. Eine neue Siedlung bei Paris und auch das sanierte Hauptgebäude der Europäischen Weltraumbehörde ESA sollen bald damit ausgestattet werden, ebenso wie ein genossenschaftliches Wohnprojekt in Hannover und mehrere neue Wohnviertel in der Schweiz.

Derweil produziert die Firma Finizio in Eberswalde einen hygienischen Kompost aus den festen Hinterlassenschaften von Festivalbesucher:innen. In einem Container findet zunächst ein einwöchiger Hygienisierungsprozess statt, der dank aktiver Mikroorganismen kaum Energie benötigt. Anschließend wird der Kot mit Stroh, Pflanzenkohle und einigen anderen natürlichen Zuschlagstoffen vermischt. Innerhalb von acht Wochen wird das Ganze zu einem humusreichen Bodenverbesserer.

Noch darf das Substrat nur im Rahmen von Forschungsvorhaben auf Felder ausgebracht werden. Doch vieles spricht dafür, dass der Finizio-Kompost in Kombination mit Urindünger dem Boden alles zurückgeben kann, was ihm durch die Ernte entzogen wurde. Gleichzeitig fördert er das Bodenleben und die natürliche Fruchtbarkeit. Das legen auch Versuche der Wirtschaftsingenieurin Ariane Krause nahe, die in Tansania im Rahmen ihrer Dissertation Feldversuche gemacht hat, bei denen der Nährstoffkreislauf aus Essen, Ausscheiden und Düngen vollständig geschlossen wurde.4 Durch Hygienisierung der Exkremente stellte sie sicher, dass keine gefährlichen Krankheitskeime in die Nahrung gelangten.

Aus einer ganz anderen Richtung gehen die Landschaftsplanerin Grit Bürgow von der TU Berlin und ihr interdisziplinäres Team an die Fragen heran. Sie nutzen Abwasser aus Haushalten als Ressource, um damit Nahrung zu produzieren. Angesiedelt ist die Roof-Water-Farm in einem Kreuzberger Gebäudekomplex, das mit doppelten Abwasserleitungen ausgestattet ist.

Das Dusch- und Waschmaschinenwasser aus den 106 Wohnungen wird mit Hilfe von Bakterien und Filtern aufbereitet. Ein Teil dreht eine zweite Runde durch die Toiletten und senkt den Wasserverbrauch der Haushalte um ein Drittel. Der andere Teil dient der erdlosen Salat-, Mangold- und Kräuterproduktion. Dafür entwickelte das Forschungsteam einen Flüssigdünger aus dem Toilettenwasser, der alle EU-Grenzwerte einhält. Doch genau wie Aurin ist er in Deutschland bisher nicht zugelassen.

Einige Jahre lang kombinierte das Berliner Team den Gemüseanbau auch mit Fischzucht. Die Exkremente der Tiere düngen die Pflanzen, die Pflanzen reinigen das Wasser und reichern es mit Sauerstoff an. Der Aufwand lohnt sich allerdings nur bei größeren Mengen. Im Prinzip ist das Potenzial riesig: Hochgerechnet auf alle geeigneten Berliner Dächer ließen sich im Stadtgebiet 50 bis 100 Kilo Frischgemüse pro Kopf und Jahr erzeugen. Auch über 10 000 Tonnen Fisch könnten in Berlin gezüchtet werden.

Voraussetzung dafür wäre der Einbau doppelter Abwasserleitungen. In Neubauten verursachen sie nur geringe Kosten, bei Strangsanierungen ließen sie sich auch in Bestandsgebäude integrieren. Möglich sind auch Rohr-in-Rohr-Lösungen, an denen das Bauhaus-Institut für zukunftsweisende Infrastruktursysteme in Weimar arbeitet.

Um die gestörten Stickstoff- und Phosphorkreisläufe zu schließen und das Wasser nicht immer weiter zu verschmutzen, braucht es Mitspielende an vielen Hebeln. In Genf treibt die Wohnungsbaugenossenschaft Equilibre die Entwicklung voran. Sie hat ihre Häuser von der Kanalisation getrennt, reinigt das Wasser selbst, nutzt es mehrfach und erforscht mit jedem Projekt neue Wege. Die öffentliche Verwaltung steht dem offen gegenüber – auch weil die Stadt wächst und der Bau weiterer Kläranlagenkapazitäten teuer ist.

In Bangalore warnte das Indische Institut für Wissenschaft schon vor einigen Jahren, dass viele Metropolen aufgrund von Wasserproblemen über kurz oder lang unbewohnbar würden.5 In der 12-Millionen-Stadt reicht das Wasser aus einem hundert Kilometer entfernten Fluss längst nicht mehr, um Bevölkerung und Industrie zu versorgen. Privatfirmen zapfen unreguliert Brunnen an und befüllen damit Tankwagen; der Grundwasserspiegel sinkt dramatisch. 2004 ordnete die Stadtregierung an, dass in allen neuen Wohnblöcken dezentrale Kläranlagen eingebaut werden müssen. Seither entwickelt sich in Bangalore ein schwunghafter Handel mit aufbereitetem Abwasser.

In unseren Breitengraden dagegen dämmert vielen erst langsam, dass wir zunehmend Probleme mit Trockenheit und Böden bekommen. Die funktionierende Infrastruktur scheint tiefgreifende Innovationen überflüssig zu machen. Doch bei der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig – wo in mehreren Pavillons Trenntoiletten standen – stellte auch Bundesbauministerin Klara Geywitz die Frage, ob es Sinn macht, Klos mit Trinkwasser zu spülen. Hoffentlich denkt sie weiter darüber nach.

1 Siehe Maggie Black, „Klos für die Welt“, LMd, Februar 2010.

2 Siehe Deutscher Naturschutzring, „EU-News: Umweltrat positioniert sich zu Abwasser“, 19. Oktober 2023.

3 Siehe „The planetary boundaries concept presents a set of nine planetary boundaries within which humanity can continue to develop and thrive for generations to come“, Stockholm Resilience Center, September 2023.

4 Siehe Ariane Krause, „Valuing Waste – A Multi-method Analysis of the Use of Household Refuse from Cooking and Sanitation for Soil Fertility Management in Tanzanian Smallholdings“, Springer Link, November 2020.

5 Siehe Samanth Subramanian, „India’s Silicon Valley Is Dying of Thirst. Your City May Be Next“, Wired, 2. Mai 2017.

Annette Jensen ist freie Journalistin und Autorin, zuletzt erschien von ihr (parallel zum gleichnamigen Film) „Holy Shit – Der Wert unserer Hinterlassenschaften“, Freiburg im Breisgau (Orange-Press) 2023. Die Recherche wurde von der Riff freie Medien gGmbH gefördert.

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