Apropos Antisemitismus: Wo bleibt die Empathie?

Als sässe man im falschen Film: Was der brutale Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober im Nahen Osten und weltweit ausgelöst hat, ist an dieser Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing zu «christlichem Antisemitismus» bloss kursorische Randnotiz. In und zwischen Referaten entfalten sich hermetische theologische Debatten zur Rolle des Christentums in der Entstehung und Verbreitung des Antisemitismus, die unweigerlich bei den deutschen Landeskirchen und ihrem Verhalten während und nach der Shoah münden. Der Unterton ist apologetisch bis relativierend, eine junge Historikerin benennt es schliesslich deutlich: Schuldig für ihr Verstummen und ihre Passivität bekennen sich die Kirchen weit über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus einzig ihren christlichen Gemeinden, nicht aber den Jüdinnen und Juden gegenüber. Sie spricht von einer aktiv verfolgten Täter-Opfer-Umkehr.

Dass dieses Muster bis heute fortwirkt, zeigt sich auch in den Diskussionen immer wieder. Michael Movchin vom Verband jüdischer Studierender in Bayern berichtet von Aktivitäten zu Empowerment und Engagement gegen Antisemitismus und erwähnt, nur wenige davon seien öffentlich, «weil es für uns Juden keine Räume gibt, die frei von Antisemitismus sind». Sogleich muss er sich den Vorwurf der Abschottung gefallen lassen. Dabei muss sein Verband jede Veranstaltung anmelden und ein verstärktes Sicherheitskonzept vorweisen. Mitunter warne das Landeskriminalamt auch, wenn sie die Türen für ein externes Publikum öffneten, könne man sie nicht ausreichend schützen. «Der Polizeischutz wird uns von aussen auferlegt», sagt Movchin und betont, wie schwierig es sei, Schabbat zu feiern, während vor den Türen Polizisten mit Maschinenpistolen bereitstünden.

Und dann steht der Erziehungswissenschaftler Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden in Deutschland am Mikrofon und stellt die Tagung auf den Kopf (oder vielmehr zurück auf die Füsse der Aktualität): «Mir ist nicht danach, über Bildung zu reden. Ich stecke in einem anderen Film und möchte mit Ihnen darüber reden.» Er beginnt damit, wie er am 7. Oktober in Israel von Sirenen und Explosionen geweckt wurde. Dann: Smartphone checken, Nachrichten einschalten, Verwandte anrufen, die an der Grenze zum Gazastreifen leben. Die Cousine antwortet aus dem Bunker. Minuten zuvor ist ihr Mann ermordet worden.

Zurück in Deutschland, Kiesel spricht von Retraumatisierung, folgt die Erkenntnis: Es existiert keine gemeinsame Gesprächsbasis über die Shoah und was in der deutschen Gesellschaft geschah. Kiesel meint es auch selbstkritisch. «Wir haben versagt. Trotz aller Bildungs- und Vermittlungsarbeit haben wir es nicht geschafft, den Menschen absolut klarzumachen, dass Antisemitismus in dieser Gesellschaft keinen Platz hat.» Er spricht davon, was in den Strassen Frankfurts oder Berlins gerade passiert. Dass jüdische Geschäfte geschlossen bleiben, Eltern ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Aber keine Empathie, nirgends. Keine differenzierte Perspektive auch auf Israel, keine Kritik, die auf die unterschiedlichen politischen, sozialen oder kulturellen Positionen in dieser komplexen Demokratie und Gesellschaft eingehen würden. Israel sei einzig eine Projektionsfläche, und wenn er sich durch die sozialen Medien bewege, werde ihm schlecht. «Alle warten nur darauf, dass Israel in Gaza einmarschiert, um schreien zu können: ‹Seht her, die Juden sind schuld!›»

Die erste Reaktion: Was für Beweise er denn habe für den behaupteten Mangel an Empathie, fragt ein Mann aus dem Publikum. Man möchte ihm einen Spiegel in die Hand drücken.