«The Punk Syndrome»: «Schliesslich sind wir punk»

Nr. 15 –

Vier Punkrocker mit geistiger Behinderung: Das ist die finnische Band Pertti Kurikan Nimipäivät. Eine Dokumentation über sie hat am Festival Visions du Réel, das am 20. April in Nyon beginnt, ihre internationale Premiere.

«Ich will etwas Respekt und Gleichheit in meinem Leben», fordert Gitarrist Pertti Kurikka (links) in einem seiner Lieder. Kurikka hat der Band den Namen gegeben; zur Band gehören auch Schlagzeuger Toni Välitalo und Bassist Sami Helle. Foto: Marianne Heikkinen

Der Manager mahnt zur Eile. «Toni, es ist Zeit, auf die Bühne zu gehen!» In der offenen Toilettentür erscheint das grinsende Gesicht des Drummers. «Wasch dir die Hände und zieh ab», ermahnt ihn der Betreuer. Toni Välitalo lacht noch immer und drückt die Spülung. Nichts wird ihm heute die Laune verderben, und das Händewaschen schenkt er sich zur Feier des Tages. Mit erhobenen Armen tritt er wieder in den Backstageraum. «Ich war auf Toilette! Und jetzt werden Pertti Kurikan Nimipäivät spielen!» Er zeigt auf das Logo auf seiner Brust. «Auf meinem Shirt steht ‹Perkele› (Gottverdammt)!»

Selbstverständlich haben Pertti Kurikan Nimipäivät (Pertti Kurikkas Namenstag) den Mittelfinger im Gepäck! Die Adressaten: «Politiker, die betrügen», das langweilig-bürgerliche Viertel Helsinkis, in dem Sänger Kari Aalto aufwuchs, und nicht zuletzt: das Behindertenwohnheim! «Ich will etwas Respekt und Gleichheit in meinem Leben», heisst es in einem ihrer Lieder. «Ich will nicht in einer Einrichtung wohnen!» Warum sollten sie auch? Nur weil sie mit einer geistigen Behinderung geboren wurden? Das sehen Schlagzeuger Välitalo, Sänger Kari Aalto, Bassist Sami Helle und Gitarrist Pertti Kurikka, zwischen Ende zwanzig und Mitte fünfzig, ganz anders.

Unterwegs

«The Punk Syndrome» heisst eine Dokumentation über die Band, deren internationale Premiere nächste Woche beim diesjährigen Filmfestival Visions du Réel in Nyon ansteht. In 85 Minuten porträtieren die Regisseure Jukka Kärkkäinen und J-P Passi die Band. Sie begleiten sie bei Proben, Auftritten und auf Tour, im Supermarkt und auf Festen. Herausgekommen ist eine radikal-authentische Collage des Bandlebens. Die Methode? «Einfach nur ‹direct cinema›», so Passi. «Wir liessen die Dinge geschehen und arrangierten so wenig wie möglich.» Also sieht man die Musiker lachen und streiten, sich verlieben und ihr Leben regeln, zwischen Abhängigkeiten und dem Wunsch nach Selbstbestimmung.

Der Titel «The Punk Syndrome» ist der Schlüssel zu diesem Alltag: Die Fusion aus Behinderung und Rebellion ist nicht nur das Konzept der Band, die 2009 in einem Workshop gegründet wurde. Die Reibung, die daraus entsteht, ist auch die Triebfeder des Films. Das ist durchaus provokant, gerade weil der Begriff das Thema «geistige Behinderung» einschliesst und in den letzten Jahren diskursfähig gemacht hat. Ähnlich, wie sich die Mehrheitsgesellschaft an rollstuhlgerechte Busse gewöhnte, nimmt sie inzwischen wohlwollend zur Kenntnis, dass Behinderte «auch» Dinge tun: auch Fussball spielen, auch kreativ sind, auch Sex haben. Aber rebellieren, fluchen und der Fuck-you-Attitüde des Punk frönen?

Mit gönnerhafter Bevormundung haben Pertti Kurikan Nimipäivät keinen Vertrag. «Wir bringen eine andere Perspektive in den Punk», sagt Bassist Helle. Sie zeigt sich im Vorwurf an PolitikerInnen – «sie kümmern sich einen Scheiss um uns Behinderte» –, aber auch im beständigen Widerwillen, mit dem Sänger Aalto sich den verhassten Terminen bei der Fusspflegerin zu entziehen versucht: «Verfluchte Pediküre, Sie sind beschissen!» Wenn er richtig die Schnauze voll hat, vom Leben in der Gruppe und davon, dass man ihn überall gemeinsam mit dem Bassisten hinschickt, kündigt Aalto bei einer Probe an: «Eines Tages jage ich das Wohnheim in die Luft!»

Andererseits, und auch das zeigt der Film, sind Pertti Kurikan Nimipäivät eine Band wie viele andere. Die vermeintliche Exotik löst sich in einer Bandbesetzung auf, die einige Wiedererkennungseffekte birgt: Da ist der sensible Gitarrist Kurikka, ein hochgradig emotionaler Zweifler in Lederjacke mit umso heftigeren Flüchen auf der Bühne. Er ist Komponist, Kopf der Band und gleichzeitig Namensgeber, denn sein häufiger Verweis auf den eigenen Namenstag wurde zum bandinternen Running Gag. Der stoische Riese Helle mit notorischer Baseballkappe, der in bassistentypischer Coolness sein Instrument bedient. Schlagzeuger Välitalo ist der Jüngste, ein freundlicher Spassvogel, der noch bei seinen Eltern wohnt. Und schliesslich der charismatische Sänger Aalto, eloquent und impulsiv.

Privat

Dass der Film tief in die bandinternen Beziehungen eintaucht, liegt in erster Linie an den Protagonisten. «Teils lustig, teils traurig, aber immer unvorhersehbar und voller Emotionen», beschreibt Passi die Musiker. Die enge Verbindung zwischen Filmcrew und Band tut ein Übriges: Jukka Kärkkäinen, der andere Regisseur, spricht von einem Zustand der Verliebtheit, der mit dem ersten Treffen begonnen habe. Seine Initiative, einen Film über die Band zu drehen, geht auf einen TV-Auftritt im Jahr 2009 zurück, den er zufällig sah. Er nahm Kontakt mit dem Manager auf, besuchte die Band, und eine vage Idee nahm Gestalt an.

Ganz neu war das Thema für Kärkkäinen und Passi nicht: 2007 arbeiteten sie zusammen am Dokumentarfilm «All the Best», der einen finnischen Sänger in der Qualifikation zum Eurovisions-Contest der geistig Behinderten porträtierte. Danach steckten sie knapp zwei Jahre in die Dreharbeiten zu «The Punk Syndrome». Die Zuneigung war offenbar gegenseitig: «Am Ende begann es vielleicht etwas langweilig zu werden. Aber weil die ganze Crew so grossartig war, machte das Projekt richtig Spass», erklärt der Bassist Sami Helle gegenüber der WOZ. Mit dem Ergebnis sei die Band «glücklich und zufrieden».

Applaus

In Finnland sieht man dem Kinostart Ende April mit Spannung entgegen. Bei einigen Vorpremieren, sagt Regisseur Passi, habe es Szenenapplaus und Standing Ovations gegeben. «Das ist zumindest hier sehr ungewöhnlich.» Das renommierte Filmfestival in Tampere zeichnete «The Punk Syndrome» mit dem Publikumspreis aus. Auch Zeitungen und TV, so Passi, zeigen einiges Interesse. Direkt nach der internationalen Premiere in Nyon, wo Pertti Kurikan Nimipäivät auch auftreten werden, wird «The Punk Syndrome» auf dem Festival Hot Docs in Toronto gezeigt – dort wird die Band allerdings nicht persönlich anwesend sein.

Die Einschätzung von Sänger Aalto spricht für sich: «Es geht um einen Idioten, der Punk singt, und drei andere Idioten, die Punk spielen.» An das Publikum adressiert er eine recht deutliche Erwartung: «Man sollte den Film ansehen und sich fragen, ob man behinderte Menschen hassen oder sie lieben und respektieren sollte.» So weit die Botschaft. Allzu kuschelig werden Pertti Kurikan Nimipäivät deshalb noch lange nicht. Immerhin sind sie punk. «Es war Sonntag. Ich ging in die Kirche», erzählen sie in einem ihrer Stücke. «Ich trank einen Kaffee. Ich ging kacken.»

«The Punk Syndrome». Regie Jukka Kärkkäinen, J-P Passi. Mouka Filmi 2012.

Vorführung von «The Punk Syndrome» und Auftritt der Band in Nyon am Samstag, 21. April, um 21.30 Uhr im Salle Communale. Weitere Filmvorführung am Sonntag, 22. April 2012, um 
10.15 Uhr im Capitole 1. www.visionsdureel.ch