Medizin der Zukunft: Big Doc is watching you

Nr. 14 –

Genug bewegt, richtig gegessen, Puls und Blutdruck okay? Geht es nach den TechnikeuphorikerInnen, lassen wir unseren Körper bald nonstop überwachen.

Neigt sich das goldene Zeitalter der wohlgenährten, vitalen Industriegesellschaft dem Ende zu? Wir sind, glaubt man den Diagnosen der GesundheitswächterInnen, bedroht von Stress, Verfettung und Überzuckerung, und das zu einer Zeit, da eine Krankenversorgung für alle immer teurer und schwieriger wird. Doch es gibt Hoffnung: Ein elektronischer Gesundheitskokon soll uns schon bald auf den Pfad der körperlichen Tugend zurückführen.

Behalten die VisionärInnen der Medizintechnik Recht, werden wir in wenigen Jahren in unseren Wohnungen nicht nur ein Home-Entertainment-Center haben, das uns drahtlos mit Filmen und Musik berieselt. Ein Netzwerk aus Sensoren am Körper, in der Kleidung oder an Möbeln wird uns diskret auf den Zahn fühlen, ohne Unterlass Daten über unser Wohlbefinden sammeln, aufbereiten und im Notfall direkt an eine medizinische Einrichtung senden. «Wir werden sozusagen ganz nebenbei ein verlässliches Bild von unserem Körper bekommen, auch in den 99,9 Prozent unserer Lebenszeit, die wir nicht im Krankenhaus verbringen», sagt Astro Teller, Gründer der Medizintechnikfirma BodyMedia in Pittsburgh. «Das wird die Welt verändern wie etwa das Mikroskop oder das Internet, die uns ebenfalls ganz neue Informationen eröffneten.» Markige Worte, die an die Phrasen der New-Economy-Zeit erinnern. Ein weiterer Hype?

Die Grundbestandteile des künftigen Gesundheitskokons sind bereits Realität: Die Miniaturisierung von Sensoren und Funkchips ist weit vorangeschritten, Technologien für drahtlose Netzwerke stehen zur Verfügung, und neue Software kann den rohen Messdaten einen Sinn geben.

Elektronischer Fitnesseinheizer

Wie das funktioniert, zeigt etwa die Armmanschette von BodyMedia, die mit mehreren Sensoren ausgestattet ist und um den Oberarm geschnallt wird. Ein Beschleunigungsmesser registriert die Bewegungen des Körpers, ein Sensor auf der Innenseite der Manschette den Wärmefluss aus dem Inneren des Körpers. Zwei Stahlelektroden messen, wie sich die elektrische Leitfähigkeit der Haut verändert. Ein Thermometer an den Kanten der Manschette zeichnet kontinuierlich die Hauttemperatur auf. Das geschieht 32-mal in der Sekunde. «Ihr Körper spuckt so in jeder Stunde eine Million Datenpunkte aus», sagt Astro Teller, der an der Carnegie Mellon University in Künstlicher Intelligenz promoviert hat.

Diese Daten werden zunächst in einem Chip in der Manschette gespeichert und bei Bedarf drahtlos an einen PC gesendet. Dieser errechnet ein Profil der körperlichen Aktivität: Wie viele Kalorien wurden verbrannt, wie viele Minuten am Tag hat sich der Träger tatsächlich bewegt, wie viele Schritte hat er gemacht? Für Bewegungsmuffel wird es schwierig, sich etwas vorzumachen. Bislang hat BodyMedia einige tausend Stück des SenseWear-Pro2-Armbands vor allem an medizinische Einrichtungen für Kreislauf- und Gewichtskontrollstudien verkauft; erste AnwenderInnen sollen begeistert sein. In Europa ist Roche Diagnostics Lizenznehmerin. Eine deutlich kleinere Version soll noch in diesem Jahr auf den Markt kommen und alle gesundheitsbewussten BürgerInnen ansprechen.

Für Herzkranke und gestresste Zeitgenossen gibt es seit einigen Monaten den Viport des Hamburger Unternehmens Energy Lab Technologies (ELT) zur Erstellung eines Elektrokardiogramms (EKG). Das handtellergrosse Gerät wird einfach auf die Brust gesetzt. «Auf diese Weise kann man sogar im Büro zwischendurch ein EKG machen», sagt Marc Weitl, Geschäftsführer von ELT. «Man knöpft das Hemd auf, misst einige Minuten, und schon hat man eine Stressmeldung.» 256 Herzschläge genügen als Berechnungsgrundlage für die Software, die das Ergebnis als Grafik in einem kleinen Display darstellt. Weil die reinen Messdaten nicht so einfach zu verstehen sind wie eine Blutdruckmessung, die nur zwei Zahlen ergibt, hat man sich bei ELT um eine intuitiv verständliche Darstellung bemüht.

Grandma’s little helpers

Das herzförmige Diagramm wird nach dem Ampelprinzip eingefärbt: Grün signalisiert «alles o. k.», Gelb «Vorsicht», Rot eine akute Warnung. Zusätzlich wird ein so genannter Stressdeckel eingeblendet, dessen Form und Farbe ebenfalls die momentane Belastung verdeutlichen. «Wesentlich für die künftige Entwicklung solcher Heimsensoren wird nicht mehr die Miniaturisierung sein», betont Weitl. «Es kommt darauf an, dass die Patienten selbst etwas mit den Messdaten anfangen können. Sie dürfen nicht mit einer Blackbox konfrontiert sein.» Vom Herbst an soll die Herz-Mouse, die ihre Daten im Prinzip auch funken kann, in grossen Stückzahlen produziert werden.

Auch im Innern des Körpers könnten sendende Sensoren zum Einsatz kommen. Forschende der University of Michigan haben den Prototyp einer Stentenna vorgestellt. Das ist ein Stützröhrchen - in der Medizin Stent genannt -, das in gereinigten Arterien nach einer Operation eine erneute Verengung verhindert. Herkömmliche Stents sondern auch Wirkstoffe ab, um Ablagerungen zu unterbinden. Solange das Arteriengewebe nach der Operation nicht ganz verheilt sei, brauche man aber eigentlich auch ein kontinuierliches Bild vom Heilungsprozess, sagt Yogesh Gianchandani, der die Stentenna entwickelt hat. In die ist ein Drucksensor eingebaut, der misst, wie viel Blut durch die kranke Stelle in der Arterie rauscht. Diese Information wird nach draussen gefunkt. Auf diese Weise könnte das Risiko eines erneuten, möglicherweise unnötigen Eingriffs gesenkt werden. Gianchandani schätzt, dass die Stentenna in zwei Jahren marktreif sein könnte.

Die Gesundheitsüberwachung mittels Sensoren wird nicht nur aus der Medizintechnik heraus vorangetrieben. Das New Yorker Unternehmen Xanboo hat sich dem Thema vom vernetzten Haus, dem «smart home», her angenähert. Dieselbe Infrastruktur, mit deren Hilfe Heizungen ferngesteuert, elektrische Geräte automatisch abgeschaltet oder Eindringlinge aufgespürt werden sollen, lässt sich auch anders einsetzen. «Unser System überwacht inzwischen auch Alzheimerpatienten und Senioren», erläutert Bill Diamond, einer der Firmengründer. «Wir können erfassen, wann sie aufstehen, essen, ins Bad gehen oder was sie sonst gerade im Haushalt machen.» Kontaktsensoren an der Hausapotheke können signalisieren, ob Medikamente wie vorgeschrieben eingenommen oder vergessen wurden. Möglich wird dies nur dadurch, dass eine Software die Messdaten mit typischen Aktivitätsmustern vergleicht. Ist eine nicht mehr ganz rüstige, aber allein wohnende Grossmutter im Wohnzimmer hingefallen und kommt nicht mehr auf die Beine, könnte das System rechtzeitig eine SMS an Familienangehörige oder Pflegepersonal abschicken.

Datenschutz ungelöst

Beim Chiphersteller Intel, der in Sensoren einen neuen Massenmarkt jenseits der Computerprozessoren ausgemacht hat, will man noch weiter gehen. «Bei den meisten Alzheimerpatienten wird die Krankheit erst dann diagnostiziert, wenn sie sich schon im zweiten oder dritten Jahr befindet», sagt Eric Dishman, der bei Intel die Forschungsgruppe Proactive Health leitet. Ein komplexes Sensornetzwerk in der ganzen Wohnung könnte hingegen feststellen, ob einem Rentner plötzlich das Kochen nicht mehr so leicht von der Hand geht oder ob er immer wieder mal vergisst einzukaufen. «Das könnten Warnzeichen für Alzheimer im Frühstadium sein», sagt Dishman.

Einen vollständigen elektronischen Gesundheitskokon mit einem Heimserver, an den sich all diese Produkte andocken lassen und der die Ergebnisse übers Internet an den Arzt schickt, kann man sich derzeit noch nicht einrichten. Dazu wäre zum einen ein einheitliches Datenformat nötig, in dem die Sensordaten übermittelt werden. «Nur dann kann auch ein Medizingerät etwa von Siemens mit einer Station von Philips kommunizieren», sagt René Dünkler vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, Sprecher des Forschungsprojekts Body Area Network. Einen Kandidaten für ein solches Format gibt es immerhin, das auf dem europäischen Standard Vital (Vital Signs Information Representation) aufbaut. Er wurde seit Mitte der neunziger Jahre wegen der zunehmenden Computerisierung und Vernetzung von klinischen Geräten in Krankenhäusern unter anderem vom Europäischen Komitee für Standardisierung entwickelt.

Ungeklärt ist noch, wie die Sensordaten am besten vor neugierigen LauscherInnen geschützt werden. «Die Verschlüsselung soll nicht im sendenden Sensor erfolgen, sondern in der Basisstation des Heimnetzwerkes», erläutert Dünkler den Ansatz des Body-Area-Network-Projekts. Erst dort werde den Daten auch die für die Auswertung nötige Patientenkennung hinzugefügt. Energy Lab Technologies hingegen will auf eine verschlüsselte Bluetooth-Übertragung für ihre Viports setzen. Die Hamburger sind mit Handyherstellern im Gespräch, um diese Technologie künftig in einigen Modellen anzubieten. Dann könnte der Patient sein Heim-EKG sicher ans Mobiltelefon und von dort an den Arzt weiterleiten.

Daran, dass der elektronische Gesundheitskokon kommen wird, zweifelt keineR der Beteiligten. Die viel diskutierte Überalterung der Gesellschaft, verbunden mit einer wachsenden Zahl von Einpersonenhaushalten, lasse keine andere Wahl. «Es gibt schon jetzt nicht genügend Fachkräfte. Deshalb wird sich das medizinische Monitoring immer stärker in den privaten Bereich ausdehnen», ist sich Eric Thelen, einer der leitenden Forscher im Bereich Personal Health bei Philips, sicher. «Wir wollen mit diesen Systemen allerdings den Arzt nicht ersetzen, sondern nur unterstützen.» Dem stimmt Elizabeth Gravatte von Vivometrics, dem Hersteller einer EKG-Weste, zu: «Ein Praxisbesuch dauert in der Regel nicht länger als fünfzehn Minuten. Da kann ein Arzt nicht viel mehr als einen Schnappschuss vom Zustand seines Patienten machen.» Mit einer kontinuierlichen Gesundheitsdatensammlung im Alltag erhalte dieser jedoch ein viel umfassenderes und klareres Bild.

Die Krankenkasse lauscht mit

Die Auswirkungen auf das Gesundheitswesen werden sich indes nicht auf Telepflege und bessere Diagnosen beschränken. Der elektronische Gesundheitskokon wird der im Streit um die Gesundheitsreform oft beschworenen Vorbeugung von Krankheiten erhebliche Bedeutung geben. Das zeigen schon bestehende Telemedizinprojekte wie Zertiva der deutschen Techniker-Krankenkasse, bei dem es nur um permanente Beratung von HerzinsuffizienzpatientInnen ging. «Klinikaufenthalte konnten vor allem bei den Patienten vermieden werden, die in einem frühen Erkrankungsstadium teilnahmen», sagt TK-Sprecherin Gabriele Baron.

Mit den Messdaten werden die Krankenversicherungen gar einen Beleg für einen vernünftigen Lebenswandel an die Hand bekommen - oder eben auch für einen unvernünftigen. Das könnte dann heissen: Wer patzt, zahlt mehr. Astro Teller von BodyMedia drückt es freundlicher aus: «Machen wir aus der Gesundheitsversorgung eine Meritokratie. Zugang zur besten Behandlung bekommen jene, die nachweislich alles getan haben, um nicht krank zu werden.»