Bärengraben: Berns grosse Liebe

Nr. 13 –

Ein enges Gehege, darin zwei träge Pelztiere. Was ist das für eine Beziehung zwischen dem Berner und dem Bär, fragen sich Touristinnen und Nichtberner. Treu ist sie - und teuer. Bald wird sie noch mehr kosten.

Am Freitag, 16. März 2007, wurde der dreissigjährige Bär Urs im Berner Bärengraben eingeschläfert. Er litt seit einigen Monaten an Arthrose, in den letzten Wochen kamen weitere Beschwerden hinzu. Der Tierarzt konnte nicht mehr helfen. Urs war der letzte Bärengrabenbär, der von Hand aufgezogen wurde. Die Fahnen beim Bärengraben wurden auf Halbmast gesetzt.

«Ihre Bären sollten Stufen kriegen», sagt Frau Munifa aus Malaysia, lacht und richtet das gelbe Kopftuch zurecht. Sie sitzt auf einer Parkbank beim Bärengraben. Die Altstadt liegt in unaufdringlichem Sandstein zu ihren Füssen. Die Aare funkelt in ihrer Schlaufe, und über die Pflastersteine der Nydeggbrücke rattert gemächlich der Zwölferbus. Wie eine ahnungslose Statistin sitzt Frau Munifa in der Altstadt, diesem Unesco-Weltkulturerbe, dessen Anblick so manch kritische BernerIn mit peinlichem Stolz erfüllt. Sie schielt in die nahe gelegene Betongrube. Dort drehen zwei Bären schweigend ihre Runden.

Aufgeschichtete, rechteckige Sandsteinquader liegen auf dem Kiesdrainageboden des grossen Grabens. Ein Schwimmbecken ist mit trübem Wasser gefüllt. Eine verdorrte Rottanne - ein Geschenk der Burgergemeinde Tavannes - ragt in die Höhe. Das «Schlössli», ein zinnenbekröntes Mauerstück von zweifelhafter Schönheit trennt den grossen Graben von einem kleineren. Dort hockte bis vor wenigen Wochen Urs, der alte, an Arthrose leidende Bär - Fleisch gewordenes Wappentier der Stadt. Die Anlage gilt als Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung.

24 BärInnen im Graben

«Den Bären ist doch langweilig. Sie brauchen mehr Spielmöglichkeiten», bemerkt Frau Munifa. Bärenwärter Stefan Steuri verkauft Futtertüten für je drei Franken. Eltern halten ihre Kinder über die Brüstung des Grabens, sodass diese die Tiere mit Karottenstücken bewerfen können. Hin und wieder machen die BärInnen Männchen. «Das ist herzig, aber im Grunde genommen traurig», sagt Steuri. Pauline, eine junge Frau aus Lausanne, ist entsetzt über die Haltung der BärInnen. Ihre Freundin Camille sagt: «Den Bärengraben braucht es nicht. Er bedeutet den Bernern mehr als den Touristen.»

Tatsächlich ist der Bärengraben für viele junge BernerInnen Teil des Sozialisationsprozesses: «Zu meiner Erziehung gehörte mindestens dreimal Bärengraben pro Jahr», sagt etwa der in Bern geborene Rockchansonnier Stephan Eicher. Zwar beklagen auch viele BernerInnen das bejammernswerte Dasein der Tiere. Dennoch pilgern sie mit ausländischen FreundInnen oft als erstes zum Bärengraben. Diese seltsame Beziehung zum Graben und den darin lebenden Tieren hat eine lange Tradition. Laut der Sage bestimmte Herzog Berchtold von Zähringen 1191, das Erste, in den umliegenden Wäldern erlegte Tier, solle der neuen Stadt ihren Namen geben. Die Haltung von BärInnen in Gräben geht auf das 15. Jahrhundert zurück. 1857 wurde der heutige Graben eingeweiht. Darin standen sich bis vor dem Ersten Weltkrieg vierundzwanzig Tiere gegenseitig auf den Tatzen. Nach dem Tod von Urs sind es heute nur noch zwei: die pyrenäischen Zwillinge Pedro und Tana, geboren im Zoo von Barcelona.

«Die Einstellung der Gesellschaft gegenüber Tierhaltung hat sich geändert», sagt Bernd Schildger, der für den Bärengraben verantwortliche Direktor des Tierparks Dählhölzli. In seinem Büro reihen sich rote Bundesordner mit Beschwerdebriefen von BesucherInnen aus aller Welt. Draussen lärmen die Flamingos. Es ist Frühling.

Nicht nur Touristen sind besorgt über das Wohl der Bären. Der Schweizer Tierschutz fordert seit Jahren ein artgerechtes mindestens 10000 Quadratmeter grosses Bärengehege. 2011 tritt voraussichtlich die neue Tierschutzverordnung in Kraft, die den Bärengraben verbietet. Sollte man den Bärengraben nicht einfach schliessen? «Das gäbe einen Volksaufstand», vermutet Bruno Jordi. Der junge Berner zeigt seinem deutschen Freund den Bärengraben und fügt an: «Das wäre das Gleiche, wie wenn man den Bären im Wappen durch einen Hasen ersetzen würde.»

16 Stunden eingesperrt

Es wird nicht so weit kommen. Ab 2009 sollen Pedro und Tana ein 6500 Quadratmeter grosses Freiluftgehege am Aarehang unterhalb des Bärengrabens erhalten. Die Pläne dafür haben die LandschaftsarchitektInnen Beatrice Friedli und Hans Klötzli gezeichnet. Die Tiere sollen im Wald herumstreifen, Beeren suchen, Höhlen bauen und in einem grossen Schwimmbecken planschen können. Wilde BärInnen mitten in der Hauptstadt gebe es nirgendwo auf der Welt, versichert Tierparkdirektor Schildger. Doch ihm und den Bärenwärtern geht es in erster Linie um das Wohl der Bären: «Auf dem Naturboden ist die Gefahr einer Arthrose weniger gross», erklärt Schildger. «Und sie können 24 Stunden draussen sein. Heute sind sie 16 Stunden eingesperrt.»

Statt die BärInnen drei Minuten im Graben anzuglotzen, sollen die TouristInnen sie drei Stunden im Gehege suchen. Mittels Ferngläsern und guter Information soll die Bärensuche zum Teil des persönlichen Erlebnisses werden: «Es ist nicht garantiert, dass man die Bären im Park noch sieht», sagt Tierparkdirektor Schildger.

Die Räumlichkeiten beim Bärengraben, das «Schlössli» und die unterirdischen Stallungen sollen als Betriebsräume weiter genutzt werden. Der grosse Bärengraben wird den Bären weiterhin zugänglich sein, ein unterirdischer Gang den Graben und die Stallungen mit dem Park verbinden. Werden die alten BärInnen nicht aus Gewohnheit immer wieder zurück in den Graben kehren und den Park gar nicht nutzen? «Das ist möglich», sagt Schildger, «doch der Bär ist, wie der Mensch, ein gnadenloser Opportunist. Er geht dahin, wo das Futter ist.» Zudem soll der grosse Graben künftig für kommerzielle Zwecke genutzt werden: «Zum Beispiel für einen Firmenapéro der zehn besten Kadermitarbeiter», sagt Schildger. Zusammen mit den Bären? «Nein, natürlich nicht», antwortet der Tierparkdirektor.

FDP-Gemeinderätin Barbara Hayoz, die treibende Kraft hinter dem Projekt, will den grossen Graben weiterhin für den Kurzzeittourismus nutzen: «Es wird fixe Zeiten geben, in denen die Bären im Graben sind. Die Reisebusse können rasch parken, die Touristen die Bären anschauen und dann schnell weiterreisen.»

Die BärInnen werden also weiterhin zwischendurch den Affen machen. «Aber der Bärenpark wird für die Tiere eine grosse Verbesserung bringen», sagt Bärenwärter Steuri. Den BernerInnen ist es wichtig, dass es ihren BärInnen gutgeht. Die Empörung ist gross, wenn Tiere krank werden, weil sie Dinge essen, die BesucherInnen achtlos in den Graben geworfen haben. Und sie ergreifen Partei für die BärInnen, wenn diese wieder einmal mit Menschen konfrontiert werden, die in den Graben gefallen sind.

1998 stieg ein betrunkener Arzt über das Geländer, bewarf die BärInnen mit Schneebällen und fiel hinein. Er stellte sich tot, die inzwischen ebenfalls verstorbene Bärin Selma zerrte ihn in ihre Box. Der Bärenwärter konnte den Trunkenbold in letzter Minute retten. Die regionalen Medien hätten damals sehr vernünftig berichtet, erinnert sich Schildger. Nur ein deutscher Privatsender habe gefordert, die Bärin zu erschiessen. Daraufhin wurde Schildger mit Briefen aus der Bevölkerung überhäuft. Ein 75-jähriger Mann schrieb, er werde vor dem Erlacherhof - dem Sitz der Stadtregierung - demonstrieren, falls Selma auch nur ein Haar gekrümmt werde, erzählt der Tierparkdirektor.

Derart heftige Reaktionen rühren daher, dass der Bärengraben für viele BewohnerInnen Teil ihrer Identifikation mit der Stadt ist. Das fällt auch auswärtigen BesucherInnen auf. So schreibt Francisco Umbral, Träger des «Premio Cervantes», des grössten spanischen Literaturpreises: «Ich habe Bern als städtischen Bärengraben in Erinnerung, mit tiefen Gassen, die sich dem Mittelalter annähern.»

Der grösste Feind des Bären

Es ist bemerkenswert, dass sich in Bern für alte BärInnen knapp zehn Millionen Franken sammeln lassen (vgl. unten). Aber braucht es den Bärenpark überhaupt? Können die Bären aus dem Graben nicht zu jenen umziehen, die bereits heute in einem grossen Gehege im Dählhölzli gehalten werden? Braucht Bern überhaupt zwei Bärengehege? «Wir müssen schon darauf achten, dass sich die beiden Bärenhaltungen nicht kopieren», sagt Tierparkdirektor Schildger und fügt an: «Klar, ich baue mir meine eigene Konkurrenz. Aber ich bin auch ein leitender Mitarbeiter der Stadt.» Und diese Stadt will den Park.

Den BärInnen gelingt es, eine Konkordanz der politischen Lager herbeizuführen: Die linken Parteien bringen tierschützerische Argumente auf den Tisch, die Bürgerlichen wollen dem Wahrzeichen der Stadt eine Zukunft geben. Nur Daniele Jenni, der Stadtrat der Grünen Partei, teilt den Bärenenthusiasmus nicht: «Eine Haltung von Bären ist in keiner Anlage tiergerecht», sagt er und plädiert dafür, die Bärengefangenschaft ersatzlos zu beenden. In der freien Wildbahn aber wäre ein Bär wie Urs nicht an Altersschwäche gestorben, sondern von einem jüngeren Bären gefressen worden. «Der grösste Feind des Bären ist er selbst», sagt Tierparkdirektor Schildger und blickt nachdenklich aus dem Fenster. «Ist es draussen in der freien Wildbahn wirklich besser?»

Am Bärengraben ist Ruhe eingekehrt. Es ist kühl geworden, die Dämmerung hängt über der Stadt. Frau Munifa ist längst weitergereist. Die Bären sind in den Stallungen verschwunden. Man stelle sich die Tiere in Berns freier Wildbahn vor. Vielleicht würden sie unter einem Laubenbogen sitzen, wie Paddington, mit einem beschrifteten Schild um den Hals: «Bitte kümmert euch um diese Bären.» Das wäre den BernerInnen vermutlich dann doch zu viel.

Der Bärenpark

Die geplante «Erlebniszone mit dem Thema Bär» kostet 9,7 Millionen Franken. FDP-Gemeinderätin Barbara Hayoz redimensionierte ein älteres deutlich teureres Projekt und versicherte gleichzeitig, Geld bei Mäzenen und Donatorinnen zu sammeln. Die Stadt muss nur die Projektierungskosten von 900 000 Franken übernehmen. Hayoz gelang es tatsächlich, das Geld aufzutreiben. Die grossen GönnerInnen der BärInnen sind die Mobiliarversicherung, die 2,5 Millionen Franken spendet, und die Burgergemeinde Bern mit 500 000 Franken. Geld kommt auch vom bernischen Lotteriefonds und dem Kanton Bern. Die BKW, eines der grossen Energieunternehmen der Schweiz, steuert eine halbe Million Franken bei. Mehrheitsaktionär des Unternehmens ist der Kanton Bern. Eine weitere halbe Million Franken spendet das städtische Versorgungsunternehmen EWB, in dessen Verwaltungsrat Hayoz sitzt. Sie ärgert sich über den Vorwurf, ein grosser Teil der Gelder seien aus Steuern, Zwangsabgaben und überhöhten Monopolgebühren finanziert: «Das BKW ist ein börsenkotiertes Unternehmen. Und das EWB ist steuerbefreit. Es ist richtig, dass sie sich in städtischen Belangen engagieren.» Ein Geben und Nehmen? «Genau so», sagt die Gemeinderätin. Am letzten Donnerstag hat die Berner Bevölkerung in einem Sponsorenlauf mehr als 100000 Franken gesammelt. Stimmt sie im Juni 2007 dem Projekt zu, kann ab November gebaut werden. Die Eröffnung des Bärenparks ist für 2009 vorgesehen.