Volkskultur: Kunst im Ballenberg

Nr. 15 –

Seit letztem Jahr will die Pro Helvetia auch die Auseinandersetzung mit Folklore unterstützen. Das hat politische Gründe, ist aber nicht einfach blöd. Ein Augenschein im Berner Oberland.

Im Ballenberg tragen die Kühe noch Hörner, und die ausgestellten Werkzeuge sind meistens aus Holz. Die Bauernhäuser und Scheunen liegen locker übers waldige Gelände verteilt: hier das Zentrale Mittelland, dort die Ostschweiz, vorne das Wallis, hinten der Jura, ganz zuunterst das Tessin. An diesem Morgen im frühen April hat das Freilichtmuseum Winterpause. Die Tore sind weit geöffnet, niemand wartet an der Kasse. Neben den Bauernhäusern parken moderne Autos und Lieferwagen, sie gehören den Handwerksleuten, die sich aus dem Inneren der Gebäude mit Bohrmaschinen und Hämmern bemerkbar machen. Über einem Backhaus steigt dichter Rauch in den Himmel. Die Anlage wird gerade in Betrieb genommen. In ein paar Tagen feiert der Ballenberg den jährlichen Saisonstart. Hühner gackern, Truthähne plustern sich. Vor einem Speicher aus schwarzem Holz steht ein grosser Stier mit gewaltigem Gehörn, der schon fast an einen nepalesischen Yak erinnert. Der Stier scheint sehr alt zu sein, denn er bewegt sich kaum. Ab und zu öffnet er das Maul, um es gleich wieder zu schliessen. Sicher gehört er einer sehr seltenen Schweizer Braunviehrasse an, und wir können froh sein, dass es ihn hier noch gibt.

Freizeitpark und F/A-18

Das Freilichtmuseum Ballenberg wurde 1968 als Stiftung gegründet und 1978 eingeweiht. Damals standen erst wenige Bauernhäuser auf dem 66 Hektaren grossen Areal. In verschiedenen Schweizer Landesgegenden waren sie abgebrochen worden; Stein für Stein, Brett für Brett hatte man sie hierher transportiert, um sie in Waldlichtungen zwischen den Dörfern Brienzwiler und Hofstetten wieder aufzubauen. Heute umfasst der Ballenberg im Berner Oberland mehr als hundert alte Gebäulichkeiten. Die Museums-leitung findet, das seien jetzt genug.

Wer seit den achtziger Jahren in der Schweiz aufwuchs, kennt den Ballenberg als heimatkundliche Attrak-tion und als Freizeitpark für Schulreisen oder Familienausflüge. Wer früher aufwuchs und keine Kinder hat, ist eventuell noch gar nie auf dem Ballenberg gewesen, macht sich aber trotzdem ein klares Bild davon: Städtische Schweizer-Innen setzen den Begriff «Ballenberg» sehr oft synonym mit Rückwärtsgewandtheit und Nostalgie. Ballenberg, glauben sie, sei ein Ort, wo man Altes bloss restauriert, um es dann ins Museum zu stellen. Wo man Häuser angafft, nur weil sie alt sind. Wo ein Brauchtum gepflegt wird, das niemand mehr braucht; und wo krampfhaft am Mythos einer ländlich-idyllischen Schweiz gebastelt wird.

An diesem regnerischen Morgen im April 2007 jedoch fangen die Hänge im Ballenberg plötzlich an zu dröhnen. Die Felswände grollen, die Wälder werden laut, bis die Ohren unerträglich schmerzen. Wer nicht von hier ist, mag an eine Katastrophe denken, an einen Bergsturz oder dass die Erde sich öffnet, um das Land zu verschlingen. Dann tauchen aus den Baumwipfeln zwei F/A-18-Abfangjäger auf. Routinemässig sind sie vom nahen Flugplatz Meiringen gestartet und steigen jetzt langsam Richtung Brienzer Rothorn empor. Man sieht, wie Kerosindampf aus Triebwerken spritzt. Der alte Stier öffnet das Maul und schliesst es wieder. Im antiken Gasthaus «Degen», Sektor Zentralschweiz, wird in wenigen Minuten eine Pressekonferenz stattfinden: Zusammen mit dem Freilichtmuseum Ballenberg stellt die Schweizerische Kulturstiftung Pro Helvetia dort ihr aktuelles Programm vor. Dieses -heisst «echos» und widmet sich der Volkskultur. Es geht um Tradition und Innovation.

Frische Trachten

«So wie die Gletscher unseres Alpenlandes sich Jahr für Jahr zurückziehen», schrieb 1939 Professor Ernst Laur, einer der Erfinder der schweizerischen Volkskultur, «so hat der Atem unserer gleichmachenden Zeit auch das bäuerliche Eigenwesen eingeschmolzen und zum Verschwinden gebracht.» Ernst Laur war als Direktor des Bauernverbandes von 1898 bis 1939 der einflussreichste Schweizer Agrar- und Kulturpolitiker. Ideologisch vertrat er ein ständestaatliches Konzept, ihm schwebte vor, dass der Bauernstand sich sowohl vom städtischen Bürgertum als auch vom Proletariat politisch klar unterscheiden müsse. Weil aber viele Bäuerinnen und Bauern während der Industrialisierung ihr landwirtschaftliches «Eigenwesen» abgelegt hatten, in die Fabriken gegangen waren oder Heimarbeit verrichteten, statt die Traditionen zu bewahren, musste das zur bäurischen Ideologie gehörige Brauchtum erst wieder geschaffen werden.

In den zwanziger und dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts liess Ernst Laur beispielsweise die Schweizer Bauerntrachten neu erfinden, die im 19. Jahrhundert praktisch verschwunden waren. Er hat sie - als Präsident der 1926 gegründeten Schweizerischen Trachtenvereinigung sowie als Mitbegründer des Schweizerischen Heimatwerks 1930 - kurzerhand von Textildesignern für jede Landesgegend frisch entwerfen lassen, und es war, wie Laur in einer Publikation zur Landi 1939 beteuerte, eine mühselige, viel «Zeit und Geld raubende Arbeit», bis die an billige Arbeitsklamotten gewöhnte Bauernsame das Tragen kostbarer Folkloreanzüge wieder halbwegs annahm und estimierte.

Hanspeter Seiler ist ein Politiker in der Tradition von Ernst Laur, obwohl ungewiss bleibt, ob einer wie Seiler die volkskulturellen Innovationen seines grossen Vorgängers überhaupt kennt und zu schätzen weiss. Seiler vertrat früher die SVP im Nationalrat, den er 1999/2000 präsidierte. Im Parlament setzte der Lehrer aus Oberhofen BE sich unter anderem für Lastwagenfirmen und Bienenzüchter ein sowie gegen AsylbewerberInnen und gegen die Kulturförderung. Seit einigen Jahren präsidiert Hanspeter Seiler die IG Volkskultur, die nach offizieller Aussage 300 000 Mitglieder vertritt. Er ist auch Präsident der Stiftung Freilichtmuseum Ballenberg.

1998 interpellierte Nationalrat Seiler gegen die Expo.01, der er vorwarf, mit dem Verzicht auf eine (schweizerische) Folkloreabteilung «breite Volkskreise und ihr kulturelles Leben» auszugrenzen. 2001 kritisierte Seiler die Stiftung Pro Helvetia, weil diese ihre Aufgabe vernachlässige und nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, die «Wahrung der kulturellen Eigenart des Landes unter besonderer Berücksichtigung der Volkskultur» betreibe. Seiler verlangte eine Umorganisation. Er forderte, dass ein Vertreter der traditionellen (schweizerischen) Volkskultur im Stiftungsrat der Pro Helvetia Einsitz nehmen müsse. Hanspeter Seiler agierte dabei im Gleichklang mit anderen SVP-Nationalräten wie Peter Föhn aus Schwyz oder Jakob Freund, einem Ländlermusikanten aus Bühler AR, die sich im Namen ihrer Fraktion immer wieder erfolglos für die Reduktion des Pro-Helvetia-Kredits eingesetzt hatten. Ende 2004, als aufgrund einer Ausstellung von Thomas Hirschhorn in Paris die nationalrätlichen Emotionen überschwappten und der Pro-Helvetia-Kredit um eine Million gekürzt wurde, sass SVP-Mitglied Seiler nicht mehr im Parlament.

Anfang April 2007 sehen wir Hanspeter Seiler im Ballenberg, wie er eine gemeinsame Pressekonferenz mit der Pro Helvetia leitet. Er wirkt nicht unzufrieden, macht keinerlei feindliche, kulturkämpferische Bemerkungen. Neben ihm sitzt Pro-Helvetia-Direktor Pius Knüsel, und auch dieser sagt natürlich nichts Böses. Erschienen sind aber nur wenige Journalistinnen und Journalisten, vorwiegend aus der Region: Ein volkskulturelles Projekt der Pro Helvetia im Ballenberg mag vielleicht opportun erscheinen, ein Medienhit ist es nicht. Auch als die Pro Helvetia ein paar Stunden später im Berner Käfigturm noch einmal die Presse empfängt, um über ihr Programm «echos. Volkskultur für morgen» zu informieren, kommen fast keine BerichterstatterInnen.

Unabhängigkeit in Gefahr

Die Stiftung Pro Helvetia ist 1939 als Arbeitsgemeinschaft gegründet worden, zu einer Zeit, als die von Professor Laur und seinen Mitstreitern erfundene schweizerische Volkskultur ihren Höhepunkt gerade überschritten hatte und begann, in der «geistigen Landesverteidigung», später im Kalten Krieg und in der Kommerzialisierung zu versteinern. Zu den ersten Aufgaben der Pro Helvetia gehörte es, die «geistigen Werte» der Schweiz zu wahren, wobei unter den Initianten, zu denen der katholisch-konservative Bundesrat Philipp Etter gehörte, glücklicherweise nie ganz geklärt worden ist, worin solche Werte bestanden. 1949 wurde die Pro Helvetia als öffentlich-rechtliche Stiftung verankert, seit 1965 gilt das heutige Pro-Helvetia-Gesetz, nach dem die Stiftung von der Politik nur beschränkt - etwa über einen alle vier Jahre zu bewilligenden Bundeskredit - instrumentalisiert und diszipliniert werden kann.

Aus der Schweizer Kunst-, Literatur-, Musik-, Theater- und Tanzszene ist eine unabhängige Pro Helvetia als eidgenössische Förderinstitution für innovatives künstlerisches Schaffen (Gesamtbudget rund 33 Millionen) nur in furchtbaren Alpträumen wegzudenken. Ein neues Pro-Helvetia-Gesetz aus dem Departement Pascal Couchepins, das vom Parlament demnächst beraten werden soll, möchte die Unabhängigkeit der Stiftung aber stark beschränken. Von den Organisationen der professionellen Kulturschaffenden wird dieses Gesetz bekämpft.

Dass die Pro Helvetia sich nach langer Zeit mal wieder mit Volkskultur beschäftigt - wobei der Begriff offiziell nicht definiert wird, jedoch gewiss nicht den Pop, vielleicht aber den Musikantenstadel im Fernsehen miteinschliesst -, hat mit der veränderten Machtlage in der Schweiz zu tun, also mit dem Aufstieg der SVP, und mit einigen Mode-trends: Volkskulturelle Elemente, von jodelnden JazzerInnen bis zu den Swiss Army Gadgets, erleben seit Jahren einen bemerkenswerten Boom. Unter den Projekten, die dank der Pro Helvetia realisiert werden oder in den letzten Monaten bereits realisiert worden sind, zählen Choralkonzerte in der Westschweiz, Ausstellungen über Glaubensfragen in der Innerschweiz, ein Seminar zum Komplex mündlicher Überlieferung im Tessin sowie zahlreiche kleinere Aktivitäten oder Veranstaltungen - etwa ein Volkskulturfest in der Zürcher Tonhalle -, die überwiegend musikalischen oder theatralischen Charakter tragen. In der Ostschweiz, hat das «St. Galler Tagblatt» kürzlich berichtet, findet «echos» unter dem Titel «Tanz der Trachten» eine besonders volksnahe Ausprägung: Hier werden ein Journalist (David Signer) und ein Fotograf (Andri Pol) im Offroader mehrere Wochen lang durch die Einfamilienhäuschen-Landschaft driven, um dort Feste aller Art zu besuchen und danach im Internet zu dokumentieren. Der Offroader scheint bei dem Projekt sehr wichtig zu sein, er wird von einer Eventagentur organisiert.

Revitalisation statt Evakuation

Im Ballenberg, wo wir jetzt an der Pressekonferenz sitzen, denkt man weniger spektakulär. Mithilfe der Pro Helvetia möchte man hier gerne ein Haus renovieren. Jährlich würden nämlich Hunderte von alten Häusern in der Schweiz abgebrochen, sagt Walter Trauffer, Chef der Geschäftsleitung des Ballenbergs, weil es unzumutbar erscheine, darin zu wohnen. Der Ballenberg, sagt Geschäftsleitungsmitglied Edwin Huwyler, sei mit 102 Häusern langsam an der Kapazitätsgrenze angelangt. Nur noch wenige Grossobjekte könnten ins Museum übernommen werden. Statt also Häuser weiterhin per Evakuation zu retten, will man sich jetzt stärker dafür einsetzen, dass sie vor Ort «revitalisiert» werden: An einem Bauernhaus aus Matten BE, das im 16. Jahrhundert erstellt worden ist und im Ballenberg aufbewahrt wird, soll eine modellhafte Renovation ausgeführt werden. Wo der Rauch aus dem Herd seinen Weg durch die Ritzen im Dachstock suchen musste, wird bald eine zeitgenössische Wohnküche entstehen, die auch dem Denkmalschutz gefällt. Wo die Körpertemperatur des Viehs die Familie miterwärmte, wird jetzt gehörig isoliert, und die Tiere können nur froh sein, dass sie woanders leben.

Parallel zur Renovation, deren Kosten nicht verraten werden, führt der Ballenberg dieses Jahr den «Schwarzen Tanner» auf, ein Freilichttheater nach Meinrad Inglin, volkskulturell bearbeitet von Hansjörg Schneider. Das Stück berichtet von einem Dissidenten in der Zeit der geistigen Landesverteidigung, den sowohl die Volkskundler nach Prof. E. Laur wie auch die Pro Helvetia damals verachtet hätten. Davon ist aber nicht die Rede an der Pressekonferenz. Sie muss jetzt auch schleunigst beendet werden. Auf der einen Seite wartet ein ländlicher Apéro, auf der andern Seite winseln schon die Berner Sennenhunde, die 2007 im Ballenberg ihr Hundertjahrjubiläum feiern und von den JournalistInnen auch noch fotografiert werden müssen. Der Pro-Helvetia-Direktor besitzt übrigens keinen Offroader, sondern fährt mit Mobility zurück in die Zivilisation.