Betreutes Wohnen: Die richtige Spur finden

Nr. 34 –

Seit vierzehn Jahren hilft das Burgerliche Jugendwohnheim Schosshalde in Bern Jugendlichen mit Problemen bei der Bewältigung ihres Alltags. Ein Augenschein.

Adrian* ist soeben von der Arbeit zurückgekommen. Er schnappt sich seinen Scooter, um noch ein bisschen durchs Quartier zu rollen. Matteo* sitzt in seinen Arbeitskleidern am Esstisch und legt Wäsche zusammen. Aus seinem Handy ertönt Rapmusik. Autolärm dringt durch das geöffnete Fenster.

Später steht Adrian in der Küche, kocht Spaghetti, hackt Petersilie und schwatzt mit Erich Bischoff, dem Sozialarbeiter, der die Bratwürste einschneidet.

Als die dampfenden Spaghetti auf dem Tisch stehen, kommen auch die zwei anderen WG-Mitbewohner aus den Zimmern. Während des Essens wird viel gelacht. Nach dem Essen trifft sich Matteo mit einem Kollegen. Adrian wäscht das Geschirr ab und hört nachher Johnny Cash in seinem Zimmer. So vergeht ein ganz gewöhnlicher Abend in der WG des Berner SAT-Projektes (vgl. «Lebensschule» unten).

Adrians Geschichte

Es gibt verschiedene Gründe, warum Jugendliche in einer dieser sozialpädagogisch betreuten WGs wohnen. Adrian ist 21 Jahre alt und lebt seit drei Monaten hier. «Als ich dreizehn Jahre alt war, starb meine Mutter bei einem Unfall. Ich fand sie, als es schon zu spät war.» Zum Vater hat er nie eine gute Beziehung gehabt, weil dieser nicht oft zu Hause war und ein Alkoholproblem hatte. «Nach dem Tod meiner Mutter wurde es wirklich schlimm.» Mit seinen beiden Brüdern kam Adrian bis zum Tod ihrer Mutter gut aus. «Danach hat sich alles verändert. Wir haben nie über den Tod unserer Mutter geredet.» Nach der Beerdigung ging Adrian kaum noch zur Schule. Entweder verschlief er, weil ihn niemand weckte, oder er blieb einfach im Bett, weil er es nicht schaffte, aufzustehen. Die Brüder waren in der Ausbildung, der Vater arbeitete den ganzen Tag. Am Abend war Adrian meistens alleine zu Hause. Nach einem Jahr und unzähligen Schulabsenzen gab es ein Gespräch zwischen Adrian, dem Vater und dem Lehrer. Die Schule war Adrian wichtig, also ging er wieder jeden Tag hin.

Mit sechzehn begann er eine Ausbildung als Metzger. Da er es gut mit seinen beiden Cousinen konnte, verbrachte er die meisten Wochenenden bei ihnen.

«Im ersten Lehrjahr habe ich mit Kiffen begonnen. Ich habe jeden Abend gekifft, habe einen Joint nach dem anderen geraucht.» Adrian schloss seine Lehre ab, fand einen Job in einem grossen Schlachthaus, absolvierte die RS und arbeitete danach wieder im Schlachthaus. «Ich habe noch einen Monat gearbeitet, und irgendwann habe ich es einfach nicht mehr auf die Reihe gekriegt. Ich habe die Perspektive voll verloren. Ich ging nicht mehr zur Arbeit. Ich lag vier Wochen lang nur noch im Bett und habe den ganzen Tag gekifft. Dann war da auch noch die Sache mit den Schulden. Ich habe unglaublich viel Geld fürs Kiffen ausgegeben.» Adrian wird mit einem fürsorgerischen Freiheitsentzug in die Psychiatrie eingeliefert. «Irgendwie war ich froh, dass endlich etwas geschieht.» Er bekommt Antidepressiva und beginnt mit einer Psychotherapie. Nach zehn Wochen verlässt er die Klinik. «Ich war ziemlich stabil. Ich kehrte in mein altes Leben zurück und ging wieder im Schlachthaus arbeiten. Dort war ich dann nur noch der Depp, halt der, der in der Psychi gewesen ist. Damit konnte ich nicht umgehen, und drei Monate nach dem Klinikaustritt war ich wieder in der Psychiatrie.» Ein Sozialarbeiter der psychiatrischen Klinik machte Adrian den Vorschlag, sich eine betreute Wohn- und Arbeitsmöglichkeit zu suchen, damit er ein soziales Netz habe und nicht wieder so schnell abstürze. So kam Adrian in die WG des SAT-Projektes.

Nichts geht

Erich Bischoff ist Sozialarbeiter und seit sieben Jahren beim SAT-Projekt. Er ist Adrians Bezugsperson. «Am Anfang wirkte Adrian sehr verunsichert, hatte überhaupt kein Selbstvertrauen. Aber er wollte seine Probleme anpacken.» Doch dann sei Adrian die Vergangenheit in die Quere gekommen. Er habe es am Morgen nicht geschafft, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Alles sei zu viel gewesen. Adrian habe sich eine lange Liste gemacht, was er alles in Ordnung bringen müsse. «Doch er konnte die Aufgaben nicht erledigen. Wir haben uns dann die Liste gemeinsam vorgenommen, haben die Wohnung geräumt, gingen bei der Arbeitsstelle vorbei. Danach war Adrian richtiggehend erleichtert.» Im Moment ist bei Adrian keine Depression spürbar. Im Gegenteil, er ist sehr aktiv und legt einen extremen Lebenshunger an den Tag. «Adrian stürzt sich in Aktivitäten, um den Tod seiner Mutter zu verdrängen. Ich versuche, ihn dazu zu bewegen, dass er sich jetzt damit auseinandersetzt. Wenn er abstürzt, können wir ihn auffangen. Wenn er wieder alleine lebt und dann eine Krise hat, kann ihn das viel heftiger treffen.»

Mittwochabend, das WG-Programm sieht aktive Freizeitgestaltung vor. Matteo steht lässig am Rand des Fussballfeldes. Erich Bischoff dribbelt mit dem Ball. Adrian ruft während des Laufens: «Hier! Hier!» Matteo spurtet aufs Feld, schnappt sich selbstbewusst den Ball, stürmt vorwärts, stoppt den Ball abrupt, spielt ihn über Adrians Kopf, schnappt sich ihn wieder und stürmt mit einem siegessicheren Lächeln Richtung Tor.

Überfälle und Brandstiftung

Matteo ist seit fünf Monaten im SAT-Projekt. Als er in der Deutschschweiz geboren wurde, war sein Vater dreissig Jahre alt und spritzte sich zum ersten Mal Heroin. Er kam nie mehr von den Drogen weg. Matteos Mutter begann mit den Drogen, als Matteo drei Jahre alt war. Mit sieben Jahren kam er in die Westschweiz zu seinen Grosseltern, weil seine Mutter einen Drogenentzug machte.

«Meine Grosseltern konnten nicht recht auf mich aufpassen. So bin ich mit acht Jahren schon mit älteren Kollegen rumgezogen.» Bereits mit zwölf besuchte er Nachtclubs, mit dreizehn begann er regelmässig Alkohol zu trinken. «In die Schule ging ich, wenn ich grad nichts anderes vorhatte. Mit vierzehn habe ich angefangen zu kiffen.» Zu seinen Eltern hatte er praktisch keinen Kontakt. Als sein Grossvater starb, kam er wieder zur Mutter. Da Matteo schlecht Deutsch sprach, konnte er dem Unterricht kaum folgen. Er musste die siebte Klasse wiederholen.

«In der Deutschschweiz ging es erst richtig los mit dem Kiffen. Ein Jahr lang wohnte ich bei meiner Mutter, dann lebte ich auf der Strasse, pennte bei Kollegen. Ich brauchte Geld, also habe ich zusammen mit Kollegen Leute überfallen und ihnen das Geld geklaut. Zuletzt habe ich mit Gras gedealt, damit ich Geld zum Leben hatte.» Matteo war dreimal beim Jugendrichter: wegen Drogenhandels, Diebstahls, Hausfriedensbruchs und illegalen Waffenbesitzes - eine Gaspistole - , Brandstiftung, Sachbeschädigung, Beamtenbeleidigung, Fahrens ohne Führerausweis. Der Jugendrichter verordnete Arbeitseinsätze.

Bis zum Abschluss des zehnten Schuljahres lebte Matteo bei seiner Mutter oder auf der Strasse. Weil er keine Lehrstelle hatte, kam er in ein Arbeitslosenprogramm der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV). «Ich wurde ziemlich schnell aus dem RAV-Programm rausgeschmissen, da ich immer nur Scheisse machte.» Nach dem Rauswurf forderte ihn die Vormundschaftsbehörde auf, sich mit seiner Zukunft auseinanderzusetzen. So kam Matteo zum SAT-Projekt.

Schwierige Lehrstellensuche

«Bei Matteo setzte sich erst etwas in Bewegung, als er aus dem RAV-Programm flog», sagt Sozialarbeiter Bischoff. «Der Vorteil in der SAT-WG ist, dass wir näher an Matteo herankommen und dadurch auch an schwierigen Themen dranbleiben können. Diese Art der Betreuung erwies sich für Matteo als Vorteil; er kann sich nicht einfach verweigern.» So muss er zum Beispiel lernen, den administrativen Teil des Lebens, sprich alles, was mit Behörden und Ämtern zu tun hat, in den Griff zu bekommen.

«Die Lehrstellensuche war für Matteo schwer. Er hatte er sehr schlechte Schulzeugnisse. Am Anfang weigerte er sich, eine Attestlehre, also eine zweijährige Berufslehre, zu machen, weil ihn das in seinem Selbstwert verletzte. Als er begriff, dass das eine Chance war, hat er sich sehr motiviert um eine Schnupperlehre bemüht. Als er dann endlich einen Lehrvertrag unterschreiben konnte, ist ihm ein riesiger Stein vom Herzen gefallen.»

Seit vier Monaten arbeitet Matteo nun in der Mühle, einem Arbeitsprogramm des SAT-Projektes. Hier können Jugendliche sich schrittweise und unter realen Bedingungen auf das Berufsleben vorbereiten. René Supersaxo ist Sozialpädagoge und angelernter Müller. Er legt grossen Wert darauf, dass die Mühle kein Beschäftigungsprogramm ist. «Sie arbeitet kostendeckend. Wir müssen ein sehr gutes Produkt verkaufen, eine konstante Qualität liefern, damit wir uns in der freien Marktwirtschaft behaupten können.»

Oft befinden sich Jugendliche im SAT-Projekt, die Lehr- und Schulabbrüche hinter sich haben, sagt René Supersaxo. «Hier können sie zum Beispiel mit einem Fünfzigprozentpensum anfangen und ihre Fähigkeiten und Kompetenzen schrittweise steigern, bis sie in der Lage sind, jede Woche vier Tage zu arbeiten. Dieses Arbeitstraining kann bis zu einem Jahr dauern.»

Vorbereitung auf den Alltag

Die Jugendlichen werden in den ganzen Arbeitszyklus eingebunden. Sie haben Kontakt mit den Bauern, wenn sie das Getreide anliefern, sind in den einzelnen Produktionsbereichen tätig und liefern das Mehl an die Kunden aus. Adrian kümmert sich um die Bestellungen, mischt die verschiedenen Mehlsorten nach Rezept und füllt sie in Säcke ab. In der Mühle werden auch andere Arbeiten ausgeführt. So hat Matteo kürzlich eine Gartenbank restauriert.

Zum Arbeitsprogramm Mühle gehört ausserdem ein Tag in der internen Schule. Das Programm ist sehr individuell und richtet sich nach den Defiziten, aber auch nach den Stärken der Jugendlichen. Matteo hat hier gelernt, wie man sich für eine Lehrstelle bewirbt. Adrian möchte abklären, welche Weiterbildungsmöglichkeiten ihm offenstehen.

Ziel des SAT-Projektes ist es, dass die Jugendlichen später selbständig leben und wohnen können. Dazu gehört auch das Kochen, das die Jugendlichen abwechselnd übernehmen. «Wer für sechs Personen Dörrbohnen, Salzkartoffeln und Fisch kochen kann, der hat schon viel fürs Leben gelernt. Denn Kochen heisst auch, sich Arbeitsabläufe überlegen, sich organisieren, sich die Zeit so einteilen, dass vor dem Essen noch die Pfannen und das Kochgeschirr abgewaschen werden können. Zudem lernen die Jugendlichen, wie man sich auch mit einem bescheidenen Budget gesund ernähren kann», sagt René Supersaxo.

Heute ist Donnerstag. In der Mühle wird geputzt. Matteo räumt seinen Arbeitsplatz auf. Danach muss er die Toilette fegen. Adrian wischt den Abfüllraum, danach reinigt er den Kühlschrank in der Küche. Um halb vier ist Feierabend. Oder beinahe. Am Abend besuchen Adrian und Matteo einen Workshop, ein Freizeitangebot des SAT-Projekts. Adrian wird das erste Mal Schlagzeug spielen. «Und rappen soll ich auch.» Matteo besucht den Kurs für Digitalfotografie. «Ich mache jetzt auch mal Sachen, die ganz normale Leute machen.»


* Namen geändert




Jugendwohnheim Schosshalde

Das Burgerliche Jugendwohnheim Schosshalde Bern (BJW) feiert dieses Jahr sein 250-jähriges Bestehen. Am 3. September 1757 eröffnete die Burgergemeinde Bern das Burgerliche Waisenhaus. Im Verlaufe seiner 250-jährigen Geschichte passten die Verantwortlichen das Betreuungskonzept fortlaufend den gesellschaftlichen Veränderungen an. War zu Beginn der Alltag von einer strengen Disziplin geprägt, steht heute die individuelle Betreuung der Kinder und Jugendlichen im Zentrum. Das BJW bietet insgesamt rund sechzig Plätze an. In der Schosshalde: Drei Wohngruppen für je sieben Kinder und Jugendliche von sechs bis sechzehn Jahren. Eine Wohngruppe für Jugendliche und Lehrlinge von sechzehn bis zwanzig Jahren. Das Projekt Familink für Kinder und Jugendliche von neun bis sechzehn Jahren und deren Eltern sowie das SAT-Projekt.

Die Lebensschule

Das SAT-(Satelliten-)Projekt ist ein Angebot des Burgerlichen Jugendwohnheimes Schosshalde Bern. Träger der 250-jährigen Institution ist die Burgergemeinde Bern. Das Konzept des SAT-Projektes beruht auf der Grundidee, die Jugendlichen weitgehend in ihrem Umfeld zu belassen, damit sie mit ihrer Situation und ihrer Lebensrealität einen «gesunden» Umgang finden. Während des Aufenthalts in den Kleinwohngruppen des SAT-Projekts sollen die Jugendlichen zunehmend Verantwortung übernehmen und lernen, sich selbständig zu organisieren.

Zusammen mit den Jugendlichen legen die SozialarbeiterInnen gemäss deren Bedürfnissen, Ressourcen und aktuellen Möglichkeiten Ziele fest. Da auch Krisen zum Leben gehören, wird mit den Jugendlichen ein Krisenszenario aufgebaut, mit dem Ziel, dass sie in einer aktuellen Krisensituation adäquate Handlungsmöglichkeiten kennen. Zur Betreuungsarbeit gehört zudem der Umgang mit Geld. Die Jugendlichen lernen, ein Budget zu erstellen und ihr Geld dementsprechend einzuteilen. Ein wichtiges Element im SAT-Projekt ist die Freizeitgestaltung. Die Jugendlichen sollen sich auch mit ihrem Freizeitverhalten auseinandersetzen. Sie werden darin unterstützt, sich nebst der passiven auch in der aktiven Freizeitgestaltung zu versuchen. Zum Angebot des SAT-Projekts gehören drei Kleinwohngruppen, die Einzelbetreuung Komet, das Arbeitsprojekt Mühle, die duale Familienberatung und eine Einrichtung namens Time-out für Kriseninterventionen in Italien.