China: Ein Sack Reis für die Banker

Nr. 45 –

Der Westen wartet auf die Auswirkungen der Finanzkrise in China - dabei ist die Krise längst da. Allerdings nicht unbedingt wegen der Katastrophe auf den internationalen Finanzmärkten.


«Mit meinem Sohn habe ich Glück», sagt die füllige Yu Xiaomei und strahlt über ihr rundes Gesicht. «Von seinem ersten Gehalt hat er mir das hier gekauft.» Sie zieht an ihrem mit riesigen roten Rosenblüten bedruckten schwarz-weiss gestreiften Kleid. «Und den Reis, das Mehl und das Öl, das seine Arbeitseinheit ausgeteilt hat, hat er mir auch gegeben.» Wie bitte? Reis, Mehl und Öl? Ist ihr Sohn denn nicht seit seinem Abschluss in Management an der berühmten Beijinger Volksuniversität in der Zhaoshang-Bank für Immobilienkredite zuständig? «Doch. So eine gute Arbeit ist das. So viele Wohlfahrtsleistungen. Den vielen Reis kann meine Familie gar nicht alleine essen.» Yu Xiaomei ist hochzufrieden. Dabei ist es nicht so erstaunlich, dass ihr Sohn alle «Wohlfahrtsleistungen» seiner Bank bei ihr abliefert - er wohnt noch zu Hause.

10 000 Yuan Renminbi (rund 1700 Franken) verdient Yu Xiaomeis Sohn Zhang Yang im Monat. Damit hätte er sich eine eigene Wohnung kaufen können. Seine Mutter bestand jedoch darauf, dass er bis zu seiner Hochzeit zu Hause wohnt. Dass er noch nicht ausgezogen ist, hat allerdings noch einen weiteren Grund: den Beijinger Immobilienmarkt. «Alle wussten, dass die Preise nach den Olympischen Spielen fallen würden. Ein Quadratmeter kostete vorher 17 000 Yuan, jetzt nur noch 14 000 Yuan. Nächstes Jahr kaufe ich mir eine Wohnung», kündigt Zhang an. Und was macht er bis dahin mit seinem Geld? Aktien kaufen? «Auf keinen Fall!», ruft seine Mutter erschrocken. «Das spart er.»

Aktien kaufen ist für die chinesischen AnlegerInnen Spekulation und nicht sparen. Und in diesem Fall hat Zhang, auch wenn er selbst bei seiner eigenen Bank nur negative Realzinsen bekommt und wenn es nicht ganz freiwillig war, die richtige Entscheidung getroffen.

Die Gewinne sind weg

Seit dem Hoch im November 2007, als der Shanghai-Composite-Aktienindex über 6000 Punkte zählte, hat der Index drei Viertel eingebüsst. Er steht nun bei knapp 1800 Punkten. Einige chinesische AnlegerInnen rufen schon seit Monaten nach dem Staat - vergeblich, aber verständlich: Laut Bao Ke, einem Professor an der Beijinger University of International Business and Economics, beträgt der Anteil der zumindest teilweise staatlichen Unternehmen am Markt achtzig Prozent. «Werden Banken und Broker mit eingerechnet, ist der staatliche Anteil noch grösser.» Vielleicht funktioniert die chinesische Börse deshalb nach eigenen Regeln: Aktienpreise stehen mit den Unternehmensgewinnen fast nie in einem von aussen ersichtlichen Zusammenhang. Und ihr Geld auf ausländischen Kapitalmärkten anlegen dürfen die chinesischen BürgerInnen nicht. Das bleibt sicherheitshalber den staatlichen ExpertInnen vorbehalten. Doch auch die können sich irren:

Im Mai 2007 kaufte China Investment Corporation, der chinesische Staatsfonds, Anteile der amerikanischen Blackstone Group Investmentbank für drei Milliarden Dollar. Der damalige Kaufpreis lag bei 29,61 Dollar pro Aktie, heute sind die Aktien knapp ein Viertel wert. Verlust: 2,2 Milliarden Dollar.

Im Juli 2007 kaufte die staatliche China Development Bank für insgesamt 1,5 Milliarden Pfund 3,1 Prozent der Anteile der britischen Barclays Bank. Heute ist das Paket noch rund 400 000 Pfund wert. Verlust: 1,1 Milliarden Pfund.

Im November 2007 kaufte die chinesische Pingan-Versicherungsgesellschaft für insgesamt 1,8 Milliarden Euro einen 4,18-Prozent-Anteil am Finanzdienstleister Fortis. Der Kaufpreis lag bei 19,5 Euro pro Aktie, heute ist sie nur noch einen Bruchteil wert. Verlust: 1,7 Milliarden Euro.

Im Januar 2008 kaufte das staatliche chinesische Aluminiumunternehmen Chinalco zusammen mit dem US-amerikanischen Partner Alcoa zwölf Prozent der multinationalen Bergbaugesellschaft Rio Tinto - für 60 britische Pfund pro Aktie. Der aktuelle Aktienpreis beträgt noch rund 22 Pfund.

Die Liste liesse sich fortsetzen. Alle Verluste der chinesischen Foreign-Direct-Investments-Anlagen sind aber nichts im Vergleich mit den Verlusten, die durch die Wechselkursveränderung entstanden sind: China hat Devisenreserven in Höhe von fast zwei Billionen Dollar. Davon sind etwa sechzig Prozent US-amerikanische Staatsanleihen. Laut Berechnungen von Lei Jiasu, einem Professor an der Beijinger Tsinghua-Universität, entspricht der Verlust durch die jüngste Abwertung des Dollar im Vergleich zum Yuan den gesamten chinesischen Gewinnen aus dem Aussenhandel der letzten fünf Jahre: vierzig Milliarden Dollar. «Die Gewinne sind weg, was bleibt, sind die Umweltverschmutzung und der zerstörte Lebensraum, mit denen sie erkauft wurden.» Dennoch sieht er keine Gefahr für das chinesische Finanzsystem: «Die grössten Auswirkungen hat die Krise nicht auf unseren Finanzbereich, sondern auf die exportorientierte Industrie im Süden.»

Krise im Süden

Aber im Süden herrscht nicht wegen der aktuellen Finanzkrise schlechte Stimmung, die Krise ist schon lange da. «Bereits im Januar gab es Entlassungen, als das neue Arbeitsgesetz in Kraft trat. Im Mai stieg die Zahl weiter, als das neue Schiedsrecht zur Beilegung von Arbeitskonflikten dazukam», sagt Guo Ping, die Gründerin einer nichtstaatlichen Organisation aus Shenzhen, die sich für die Rechte von ArbeiterInnen einsetzt. «Es ist schwer zu sagen, wie viele Unternehmen jetzt wegen der neuen Gesetze abwandern und wie viele wegen ausbleibender Aufträge schliessen. Aber meiner Ansicht nach sind die Auswirkungen des Arbeitsgesetzes grösser als die der Finanzkrise.» Sie wirft einen Blick über die hohen Stapel von Informationsbroschüren zu den Arbeitsgesetzen, die sie an ArbeiterInnen verteilen wird. «Wenn viele Arbeiter auf einmal entlassen werden, ohne dass sie ihre einmonatige Lohnfortzahlung erhalten, springt manchmal die Regierung ein, damit alles ruhig bleibt», erklärt sie. «Aber das ist auch schon alles.»

Yu Xiaomei hat ihrem Sohn wohl sogar einen Gefallen damit getan, als sie ihn nicht früher ausziehen liess. Genauso wie der chinesische Staat seinen BürgerInnen, weil er sie ihr Geld nicht im Ausland anlegen liess. Die Industrie im Süden nutzt derweil die internationale Finanzkrise, um ArbeiterInnen zu entlassen und dabei die auch nach den neuen Arbeitsgesetzen nur sehr geringen Sozialleistungen auf die Regierung abzuwälzen. Schliesslich sieht die chinesische Regierung in der Krise die Chance - wie schon bei der asiatischen Finanzkrise vor zehn Jahren - eine konstruktive Rolle zu spielen und international an Ansehen zu gewinnen.

Die internationale Finanzkrise hat nicht nur die chinesische Währung, sondern auch das chinesische Selbstbewusstsein gestärkt, das sich nichts mehr wünscht, als dass das Reich der Mitte Dreh- und Angelpunkt der Welt ist. «Viele korrupte Beamte haben ihr Geld in die USA gebracht und dort Immobilien gekauft. Nachdem das Rechnungsprüfungsamt wegen der neuen Antikorruptionskampagne seine Kontrollen verschärft hatte, trauten sie sich das nicht mehr. Deshalb sind die US-amerikanischen Immobilienmarktpreise eingebrochen. So hat die Finanzkrise angefangen», sagt Cheng Zhixin, die junge Frau, die Zhang nächstes Jahr heiraten und mit der er in die noch zu kaufende Wohnung ziehen will. Dann blickt sie auf, sieht, dass das Lächeln auf dem Gesicht Yu Xiaomeis verschwunden ist und fügt schnell hinzu: «Das ist nur ein Witz!» Nicht, dass Yu Xiaomei auf den Gedanken kommen könnte, mit ihrer zukünftigen Schwiegertochter weniger Glück zu haben als mit ihrem Sohn.



Allgemeiner Wohlstand?

«Lasst einige zuerst reich werden» ist eine der bekanntesten Forderungen des früheren chinesischen Reformers Deng Xiaoping. Erstmals belegt ist sie für den 23. Oktober 1985 - und in den folgenden zehn Jahren wurde ihr auch gewissenhaft Folge geleistet. Der sogenannte Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen misst, stieg in China in dieser Dekade von 0,34 auf 0,47 (Schweiz: 0,4). Je näher der Koeffizient bei 1 ist, desto grösser ist die Ungleichheit.

Durch den starken Anstieg der Wohnungspreise in den Städten Ostchinas (jährlich etwa zehn Prozent) und der Aktienkurse an den Börsen in Schanghai und Shenzhen (von 2006 bis Mitte 2007 jeweils um weit über hundert Prozent) dürfte der Koeffizient inzwischen auf über 0,5 gestiegen sein.

Wenig bekannt ist, dass sich Deng Xiaoping am 23. Oktober 1985 nicht an die Medien, sondern an eine hochrangige Delegation von US-UnternehmerInnen gewandt hatte. Und dass der Satz noch nicht zu Ende war: «... damit sie anderen Gebieten und anderen Menschen helfen können, sodass schrittweise allgemeiner Wohlstand erreicht wird.»

Nun wird 2008 das erste Jahr seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik von Deng Xiaoping werden, in der zumindest in den Städten die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen wieder sinkt - jedoch nicht, weil die Reichen etwas abgeben, sondern weil sie viel von ihrem Vermögen verloren haben.

8-29: Neue Ära, alte Probleme

Wichtige Ereignisse bekommen in der chinesischen Geschichtsschreibung oft eine Zahlenkombination zugeordnet - zumindest seit der 5-4-Bewegung vom 4. Mai 1919. So gibt es die 1-28-Umwälzung oder die 9-18-Umwälzung (beide 1931), die 1-29-Bewegung (1935), und jährlich feiern die ChinesInnen 10-1, ihren Staatsgründungstag.

Von westlichen Medien weitgehend unbemerkt, gab es am 29. August 2008 ein wichtiges Ereignis, über das in China ausgiebig berichtet wurde. An diesem Tag wurde nach einem dreimonatigen Gerichtsprozess das Urteil im grössten Korruptionsskandal Chinas seit der Staatsgründung 1949 gefällt.

Xu Chaofan und Xu Guojun, zwei leitende Bankmanager aus der Provinz Guangdong, und ihre Ehefrauen waren angeklagt worden, in den neunziger Jahren die Bank of China um umgerechnet 672 Millionen Franken betrogen zu haben. Die beiden (nicht miteinander verwandten) Xus behaupteten dagegen, mit Wissen und Genehmigung der Bank gehandelt zu haben. Die von ihnen gegründeten Hongkonger Immobilien- und Handelsunternehmen hätten alle in Geschäftsbeziehungen mit der Bank of China gestanden und dazu gedient, Verluste aus Devisengeschäften dieser staatseigenen Bank zu verschleiern. «Jetzt sind wir die Prügelknaben», sagte Xu Guojun. «Das gesamte Management der Bank war ein einziges Chaos. Es gab hohe Verluste, und für diese brauchte es Verantwortliche.» Die Geschworenen liessen diese Einwände nicht gelten und sprachen alle Angeklagten schuldig.

Die beiden Anwälte der Verteidigung sprachen von einem politisch motivierten Urteil: «Unsere Klienten sind die Bauernopfer in einer neuen Ära der chinesisch-US-amerikanischen Kooperation», behaupteten sie. Denn, und das ist das Besondere: Dieser Prozess fand in den USA statt. Es war das erste Mal, dass sich in China der Korruption angeklagte BeamtInnen vor einem US-Gericht zu verantworten hatten. Über tausend weitere korrupte BeamtInnen sollen sich laut Angaben des «World Journal», der grössten chinesischsprachigen Tageszeitung Nordamerikas, in den USA aufhalten. Aber vielleicht nicht mehr lange. So frohlockte der Sprecher des chinesischen zentralen Rechnungsprüfungsamts nach der Urteilsverkündung: «Das ist ein klares Signal. Jetzt sind die USA [für korrupte Beamte] kein sicherer Hafen mehr.»

Doch das sind sie schon lange nicht mehr: Yu Zhendong, ein dritter in diesem Fall angeklagter Bankmanager, hatte sich schon 2002 nach seiner Verhaftung in Los Angeles als «schuldig» bekannt und kehrte «freiwillig» nach China zurück. Dort wurde er zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Die US-Behörden hatten zuvor darauf bestanden, dass kein Todesurteil verhängt würde, wie dies in Korruptionsfällen häufig der Fall ist.

Und auch einen 8-29-Fall, der den Beginn einer neuen Ära der juristischen Zusammenarbeit zwischen China und den USA markiert, wird es aus einem Grund nicht geben - das Datum ist schon besetzt mit dem 8-29-Zwischenfall während der Kulturrevolution: Am 29. August 1967 hatten sich rivalisierende Gruppen junger ChinesInnen und TibeterInnen einen blutigen Kampf geliefert - um das Finanzministerium in Tibets Hauptstadt Lhasa.