Durch den Monat mit Rolf Clemens Enzler (Teil 3): Warum nach Venezuela?

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Rolf Clemens Enzler, Kioskverkäufer: «In Venezuela war ich Strassenmaler, ­Hotelier, Tourismusdirektor, ich war sogar mit dem Präsidenten per Du.» Foto: Ursula Häne

WOZ: Herr Enzler, was machen Sie eigentlich im Winter?
Rolf Clemens Enzler: Ich gehe immer mit meiner Frau in die Ferien. Sonst bin ich jeden Tag im Hallenbad und schreibe meine Erinnerungen auf.

Erzählen Sie! Warum sind Sie ausgewandert?
Grob gesagt bin ich vor dem Bankverein davongelaufen. Ich hatte in den sechziger Jahren ja mein eigenes Geschäft in Zürich: Rolf Clémence, Haute Couture. Wir wurden sehr bekannt, haben in die ganze Welt geliefert. Die Bude ist von einem Tag auf den anderen wahnsinnig gewachsen. Der Bankverein stieg ein. Da waren wir abhängig vom Paradeplatz. Weil wir später Verluste machten, wollten die immer höhere Beteiligungen. Zuerst 30 Prozent, dann 35 Prozent, dann 40. Es gab interne Kämpfe um die Bossposition. Ein Bankier heiratete ein Mannequin, einer meiner Partner war mit dem Bankdirektor verschwägert. Alle wollten absahnen. Dafür war ich nicht der Mann, ich war 29, 30 – ohne Erfahrung. Ich bin regelrecht abgehauen.

Und weshalb Venezuela?
Mehr oder weniger zufällig. Ich hatte damals einen guten Kunden in Caracas und noch viele Flugmeilen aus dem Geschäft. Erste Klasse bin ich verreist, aber ohne Geld! Ich hab dann wieder ganz unten angefangen.

Hatte Sie Ihr eigener Erfolg im Modebusiness überfordert?
Ja, auf jeden Fall. Ich bin eigentlich der Künstler, der Designer, der kreative Mensch. Ich wollte Dinge produzieren, die anderen Freude machen. Früher hatte ich im Kämmerchen mit den Stoffen geschlafen, fühlte mich wohl dabei, ich war der Bohemien. Ich hatte damals eine Siebenzimmerwohnung in Zürich Enge, wo wir – meine damalige Frau, eine Schneiderin, und ich – wohnten, fabrizierten, unterrichteten. Plötzlich musste dann ein riesiges Konzept her, eine Telefonzentrale, weiss der Teufel was. Ich musste für alles eine Quittung haben, alles wuchs mir über den Kopf. Das Bohemienleben war vorbei, ich steckte in einer Zwangsjacke.

Trauern Sie dieser verlorenen Zeit manchmal nach?
Nein. Wie soll ich sagen, ich habe ein so tolles, intensives Leben gehabt: Auf der Strasse geschlafen, vor Hunger in den Spital gekarrt, was will ein Mensch noch mehr? In Venezuela war ich Strassenmaler, Hotelier, Tourismusdirektor, stieg in die höchsten Kreise auf, war mit dem Präsidenten per Du. Und ich hatte Frauen, über die rede ich gar nicht. Ich habe wirklich alles gesehen, was es zu sehen gibt – aber ich habe nicht alles ausprobiert. Ich hatte da manchmal moralische Bedenken. Nicht, dass ich gehemmt war, aber ich hatte gute Mauern, gute Leitplanken.

Woher?
Vielleicht dank meiner Erziehung, mein kleinbürgerliches Rapperswil: Meine Mutter war Wirtin, mein Vater Grafiker, ein Supertyp, hochtalentiert! Dann war ich im Klosterinternat in Einsiedeln. Da war ich zwar als ein gutmütiger Querulant bekannt, es gab auch mal eins auf den Deckel, aber das hat mir gewisse Dinge gegeben. Als ganz Junger wollte ich sogar Pfarrer werden.

Weshalb sind Sie es nicht geworden?
Das weiss ich nicht mehr. Vielleicht wäre ich aber gar kein schlechter Pfarrer gewesen.

Ja, vielleicht, referieren tun Sie jedenfalls gerne.
Es hätte einfach eine Pfarrei in der Nähe eines Frauenklosters sein müssen.

Aha, da sind Sie ja im Sommer am See genau richtig ...
Nun gut, manchmal gucke ich vielleicht ein bisschen zu lange hin. Ansonsten sehe ich das professionell: Als ich noch Designer war, hatte ich eine Assistentin, die war auch mein Hausmannequin. Ich kannte fast ihren ganzen Körper. Da sassen wir mal zusammen, haben spätabends noch gearbeitet, sie hat was getrunken und sass nur im Slip neben mir. Da schau ich sie an und sage: «Madeleine, zieh dir etwas an.» Sie schaut mich gross an und sagt: «Was ist denn mit dir los?» Da sage ich: «Du weisch, ich sehe dich gerade das erste Mal als Frau.» Da sagte sie nur: «Hä? Endlich!»

Rolf Clemens Enzler (70), ehemaliger Modeschöpfer, Grafiker und Gastronom, kehrte 1990 in die Schweiz zurück. In der Schweizer Gastronomie wollte den ehemaligen Hoteldirektor aus der Karibik aber niemand mehr, aus Altersgründen. Seit dreizehn Jahren ist er Kioskverkäufer am Zürichhorn.