Umbruch in Tunesien: «Die Menschen hier sind Helden»

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Proteste in einem kleinen Städtchen gegen Ben Alis Regime haben der Revolte in Tunesien Anfang Januar entscheidenden Schub verliehen. Spurensuche in Thala nahe der algerischen Grenze.


Mohammed Dschelassi hat nur zwei Stunden geschlafen. Als Mitglied der Bürgermilizen bewachte er bis zum Morgengrauen sein Wohnviertel Mourouj am Rand der Hauptstadt Tunis. «Keine besonderen Vorkommnisse», meldet er zufrieden. Seine zwei Freunde sind zu Hause geblieben. «Nach der Nachtwache sind sie nicht aus dem Bett gekommen», sagt Dschelassi schmunzelnd. Wir wollen zusammen nach Thala fahren. Das Dorf liegt 310 Kilometer westlich von Tunis in der Region Kasserine und machte vor zwei Wochen Schlagzeilen. Hier erhielt die tunesische Revolution gegen das Regime von Ben Ali den entscheidenden Antrieb.

Auf der Fahrt durchqueren wir die verarmten Vororte und Industriegebiete von Tunis. «Hier wurde protestiert. Und dort haben die Leute Fabriken und Lagerhallen von Ben Alis Leuten abgebrannt», kommentiert Dschelassi. Er hat die letzten Wochen jeden Tag protestiert, Barrikaden gebaut und auch Steine geworfen. «Man muss sich ja gegen die Brutalität der Polizei verteidigen.»

Mohammed Dschelassis Geschichte ist beispielhaft für die Misere der Jugend im Land. Der 28-Jährige hat Chemie in Tunis studiert, dann einen zweiten Universitätsabschluss in Paris gemacht. Aber trotz seiner guten Qualifikationen fand er in seinem Heimatland keinen Job. «Nur wer bereit war, der RCD, Ben Alis Partei, beizutreten und hohe Schmiergelder zu bezahlen, bekam schnell einen Job im öffentlichen Sektor», sagt Dschelassi. Ansonsten sei die Situation meist aussichtslos.

Am Ende der Welt

Die Strecke nach Thala führt über die Städte al-Fahs und Siliana. In Fahs wurde die Hauptstrasse kürzlich in Avenue Mohammed Bouasisi umbenannt. Der 26-jährige Bouasisi, ein arbeitsloser Akademiker, hatte sich am 17. Dezember in der Kleinstadt Sidi Bousid selbst angezündet und damit ein Fanal für die Revolte gesetzt. Bouasisi gelte bereits als Märtyrer, bestätigt Dschelassi. «Mit seinem Selbstmord hat er seine Ausweglosigkeit deutlich gemacht und den Zorn der Tunesier auf das Regime verstärkt.»

Die Weiterfahrt führt vorbei an Hügeln mit Getreidefeldern und Olivenbäumen. Jetzt im Winter ist die Landschaft saftig grün. Überraschenderweise gibt es unterwegs nur wenige Militärstrassensperren. So auch in der Region Kasserine, die noch vor zwei Wochen von den Sicherheitsbehörden hermetisch abgeriegelt worden war. Nun sind die kontrollierenden Soldaten höflich und freundlich. Sie suchen nicht mehr nach RegimekritikerInnen, sondern nach SchmugglerInnen. Die Grenze zu Algerien ist nur etwa sechzig Kilometer entfernt. Von dort kommen billige Zigaretten und günstiges Benzin ins Land.

Die letzten Kilometer nach Thala führen auf einer ramponierten Piste durch offenes Gelände. In den Hügeln hier lauerten in den Tagen unmittelbar nach der Flucht von Ben Ali Scharfschützen. Die bewaffneten Anhänger des gestürzten Diktators terrorisierten in der Gegend die Bevölkerung, die als erste gegen die repressiven Staatsorgane protestiert hatte. Als Schutz errichteten die EinwohnerInnen Strassensperren. Die Reste davon sind noch zu sehen: grosse Steine, Metallteile, abgesägte Bäume und ausgebrannte Autos. Auffallend ist der dicke Russbelag der Strassen. «Hier gibt es keine Beleuchtung, deshalb haben die Leute grosse Feuer gemacht», sagt Dschelassi.

Am Ortseingang steht ein Militärposten: Stacheldraht, Panzer, Maschinengewehre und viele Soldaten. Nach der Passkontrolle und einem Anruf des vorgesetzten Offiziers bei seinen Vorgesetzten dürfen wir kurz darauf passieren. Thala ist wie ein Dorf am Ende der Welt. Die meisten Häuser sind unverputzt, nur ein Teil der Strassen ist geteert. Die meisten der rund 14 000 BewohnerInnen sind verarmt und ohne Hoffnung und haben nichts gemein mit den gut gekleideten Protestierenden in Tunis, von denen viele aus der Mittelschicht kommen. Manche sind BäuerInnen, andere wenige finden eine schlecht bezahlte Arbeit in den Marmorsteinbrüchen, für die die Gegend bekannt ist. Ihre Gesichter zeugen vom harten Alltag. Vielen fehlen Zähne. Eine medizinische Versorgung können sich nur wenige leisten.

«Die Menschen hier sind die Helden der Revolution», sagt Dschelassi, der Thala bisher nur aus dem Internet kannte, von Fotos und Videos auf Facebook. «Anfang Januar hatten sich die Proteste in Sidi Bousid beruhigt», erklärt er. Dieser Tage wurde bekannt, dass die Bevölkerung in Sidi Bousid von der Regierung Geld erhalten hatte, damit sie nicht weiterdemonstrierte. «Doch dann begannen die Proteste hier in Thala und gaben der ganzen Bewegung einen neuen, entscheidenden Schub.»

Videos und Wunden

Am 3. Januar waren 250 Schüler und Studentinnen durch das Dorf marschiert und hatten eine bessere Ausbildung und mehr Arbeit gefordert. Auf die friedliche Demonstration reagierte die Polizei mit Prügel und Tränengas. Die BewohnerInnen wollten sich das nicht gefallen lassen – damit war eine Lawine losgetreten. In der Folge kesselte eine 1500 starke Spezialtruppe der Polizei Thala ein und versuchte, den Widerstand zu brechen.

«Ich war nicht bei den Protesten», sagt ein sechzigjähriger Mann im Büro der Gewerkschaft UGTT. «Es war alleine die Jugend, die revoltierte.» Er packt einen Jungen am Arm, der gerade mal fünfzehn Jahre alt ist. «Hier. Diese jungen Leute haben uns von Ben Ali befreit.» Der Hals des Jungen ist noch immer dick geschwollen, deutlich sichtbar ist eine runde, blutverkrustete Wunde von einem Gummigeschoss. «Wir wollen Freiheit, Brot und Arbeit», sagt der Junge. Die anderen Jugendlichen, die humpelnd und verletzt mit ihm zusammen ins Büro gekommen sind, nicken stumm.

Die Auseinandersetzungen mit der Spezialeinheit dauerten eine Woche bis zum 9. Januar. Viele wurden dabei verletzt, sechs Personen starben. «Wir haben aufgehört, die Verwundeten zu zählen», sagt der Pfleger Nedschib Nemri im lokalen Spital. «Und viele sind gar nicht erst hierhergekommen.» Im Behandlungsraum des schlecht ausgestatteten Spitals warten noch andere Opfer der Polizei. Ein junger Mann hebt seinen Pullover und zeigt eine genähte, zwanzig Zentimeter lange Bauchwunde. «Als er einen der Toten wegtragen wollte, wurde er angeschossen», sagt Pfleger Nemri. Dasselbe passierte zwei anderen. Sie hatten mehr Glück: Die Schüsse trafen sie im Oberschenkel respektive in der Leiste. Geld für Medikamente hat keiner von den dreien.

«Eine Untersuchung der Ereignisse hat es bisher nicht gegeben», sagt Spitaldirektor Brahim Dhonafi. «Sie sind der Erste, der danach fragt.» In einem Notizbuch stehen die Namen der Toten und eine Beschreibung ihrer Verletzungen. Der Direktor hat zudem festgehalten, welche Verwundungen es bei den Protesten gegeben hat – nach Tagen katalogisiert. «Schwere Verwundungen gab es nicht nur durch Schüsse, sondern auch durch Gummigeschosse und Tränengas.»

Die BewohnerInnen von Thala stehen unter Schock. Sie sind aufgebracht und schimpfen auf die neue Regierung, in der noch immer Mitglieder von Ben Alis Partei RCD vertreten sind (vgl. Interview auf der nächsten Seite). Auf der Strasse wird man sofort von Menschen umringt, die auf ihren Handys Videos und Bilder von den Toten und Verletzten zeigen. Wieder andere zeigen ihre Wunden. Sie erzählen davon, wie die Polizisten den Ort geplündert haben. Alle wollen ihre Geschichte über das erlittene Unrecht loswerden. «Das ist keine Jasmin-Revolution, wie viele Medien schreiben», ruft ein Mann zornig. «Das ist die Revolution des Blutes.»

Auf der Rückfahrt schweigen wir lange. Dschelassi ist sichtlich betroffen. «Ich habe, wie viele, alles auf Facebook mitverfolgt.» Doch das Leiden und das Elend der Menschen mit eigenen Augen zu sehen, sei etwas ganz anderes. «Es ist bedrückend. Und doch habe ich gesehen, dass die Menschen ihre Kraft noch nicht verloren haben.»

Wenige Kilometer nach Thala passieren wir in Tejerouine eine Ansammlung von Menschen, die gegen die neue Regierung demonstriert. Dschelassi winkt den Protestierenden zu und wirkt erleichtert. «Es geht weiter. Wir hören nicht auf, bis alle ehemaligen Ben-Ali-Leute aus dem Kabinett verschwunden sind.»

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