Tunesien: Mit der Geduld am Ende

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Seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Ben Ali hat sich in Tunesien wenig verändert. Nun demonstrieren wieder Tausende gegen die Perspektivlosigkeit. Steht eine neue Revolution an?

Fünf Jahre ist die Revolution in Tunesien her. Doch abgesehen davon, dass die Lebensmittel teurer wurden, hat sich seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Zine al-Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 vor allem für die Menschen im Landesinnern kaum etwas verändert. Keine der Regierungen hat einen Entwicklungsplan für diese seit Jahrzehnten vernachlässigten Regionen vorgelegt. Immer wieder wurde gegen diesen Zustand protestiert. Dass sich die Demonstrationen nun ausgeweitet haben, kommt daher nicht überraschend.

Die Organisation der Arbeitslosen mit Hochschulabschluss (UDC) organisiert bereits seit einigen Monaten Kundgebungen und Hungerstreiks und fordert die Regierung auf, Arbeitsplätze zu schaffen. Von den elf Millionen EinwohnerInnen Tunesiens waren nach der Revolution 700 000 arbeitslos, 250 000 davon HochschulabsolventInnen. Deren Zahl hat seither zugenommen. Gemäss der Weltbankstatistik sind heute im Durchschnitt ein Drittel der 15- bis 29-Jährigen ohne Arbeit. Im Landesinnern ist die Zahl noch viel höher.

«Opfer falscher Versprechen»

Am 16. Januar nahm sich der 28-jährige Ridha Yahyaoui in der zentraltunesischen Stadt Kasserine das Leben. Er wurde durch einen Stromschlag getötet, nachdem er bei einer Demonstration auf einen Strommast gestiegen war. Die Kundgebung richtete sich dagegen, eine Liste für Anstellungen im Ausbildungsministerium zu ändern. Die Namen von sieben Personen, darunter jener von Ridha Yahyaoui, waren von der Liste gestrichen worden, die ursprünglich 79 Namen umfasste. Nach dem Vorfall entliess Ministerpräsident Habib Essid den Unterpräfekten von Kasserine und veranlasste eine Untersuchung. Othman Yahyaoui, der Vater des jungen Mannes, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Behörden: «Mein Sohn ist das Opfer von Korruption, Marginalisierung und nicht eingehaltenen Versprechen», sagt er.

Die Kasserine-Provinz an der Grenze zu Algerien ist vom Staat besonders vernachlässigt worden. Nur die Hälfte der Haushalte verfügt über einen Trinkwasseranschluss, im nationalen Durchschnitt sind es neunzig Prozent. Das Schmugglergeschäft blüht – gehandelt wird vor allem mit Benzin, aber auch mit Zigaretten, hochprozentigem Alkohol, Cannabis und Waffen. Die Schmuggler arbeiten auch mit Dschihadisten zusammen, die in den Bergen der Region seit 2010 immer wieder Anschläge verüben, insbesondere gegen Sicherheitskräfte.

«Arbeit, Freiheit, Würde»

Der Tod von Ridha Yahyaoui hat die Proteste befeuert, bisher wurden 18 von 24 Provinzen von den Kundgebungen mit Tausenden TeilnehmerInnen erfasst. Dennoch steht keine neue Revolution bevor. Die Regierung könnte höchstens gestürzt werden, wenn deren wichtigster Partei, der Nidaa Tounes, wegen interner Streitigkeiten Mitglieder davonliefen.

Organisiert werden die Demonstrationen von der UDC, der linken StudentInnengewerkschaft Union Générale des Étudiants de Tunisie (UGET) und von Organisationen wie dem tunesischen Sozialforum. Wie bereits während der Revolution lautet der Slogan der Protestierenden «Arbeit, Freiheit, Würde». Der linke Front Populaire, ein Zusammenschluss von neun Parteien, stützt die Forderungen ebenso wie die mächtige Gewerkschaftszentrale UGTT. Letztere hatte im vergangenen Jahr zusammen mit drei weiteren Organisationen den Friedensnobelpreis für die Vermittlung des nationalen Dialogs erhalten, der im Jahr 2013 nach einer schweren politischen Krise den demokratischen Übergang der Institutionen gewährleistete.

Die soziale Bewegung bemüht sich um friedliche Proteste. Vergangene Woche kam es jedoch an verschiedenen Orten zu Plünderungen und Beschädigungen. Nach Aussagen des stellvertretenden UGTT-Generalsekretärs Sami Tahri gegenüber der tunesischen Nachrichtenagentur TAP hätten ihm mehrere Jugendliche erzählt, sie seien von Schlägergruppen misshandelt worden, weil sie sich geweigert hätten, an Verwüstungen teilzunehmen. Zudem sollen sich Schmuggler und Personen, die verdächtigt werden, terroristischen Gruppen anzugehören, unter die friedlichen DemonstrantInnen gemischt haben. Ähnliches behaupteten auch Regierungsvertreter einschliesslich des Präsidenten Beji Caid Essebsi.

Dass IslamistInnen wie Schmugglerbanden ein Interesse an chaotischen Zuständen haben, ist nachvollziehbar. Doch plausibel ist auch eine andere Lesart: Angesichts der Perspektivlosigkeit könnten Jugendliche bereit sein, gewalttätig zu werden – auch ohne dass sie jemand dazu angestiftet hätte. BeobachterInnen befürchten zudem, dass sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Land einnisten könnte, falls sich die Lage weiter zuspitzen sollte. So könnten die Terroristen etwa die Gaspipeline in Beschlag nehmen, die von Algerien über Tunesien nach Italien führt.

Um Randalierer fernzuhalten, veranstaltet die UDC ihre Kundgebungen ausschliesslich tagsüber und ihre Veranstaltungen in den Lokalen der UGTT, die in fast jedem Dorf einen Sitz hat. Die jungen Leute organisieren sich zudem, wie vor fünf Jahren, in Komitees zum Schutz ihrer Viertel – und arbeiten mit Polizei und Armee zusammen, um die Plündernden zu stoppen und die öffentlichen Gebäude zu schützen. Ihnen ist es zu verdanken, dass Regierungschef Essid schnell erklären konnte, die Gewalt sei unter Kontrolle. Auch die landesweite nächtliche Ausgangssperre wurde etwas gelockert. Essid kündigte jedoch keinerlei sofortige Massnahmen an, um die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Stattdessen rief er lediglich «zu Geduld» auf. Den Protestierenden reicht dieser Aufruf nicht mehr, sie haben sich schon fünf Jahre lang geduldig gezeigt.

Entwicklungsprogramm nötig

Um Arbeitsplätze zu schaffen und Infrastruktur wie Wasserversorgung oder Strassenbau zu verbessern, ist ein Entwicklungsprogramm dringend nötig, vor allem für die vernachlässigten Regionen. Zudem ist die Armut massiv – ein Drittel der TunesierInnen muss mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. Der Front Populaire schlug daher dem Regierungschef diese Woche vor, eine Reichtumssteuer einzuführen und zu regeln, was mit den konfiszierten Gütern von Ben Ali geschehen soll.

Weil der Staat oft über zu wenig Geld verfügt, um etwa die Löhne zu bezahlen, spricht sich der Front Populaire zudem für ein dreijähriges Moratorium für Zinszahlungen von Auslandsschulden (unter anderem bei der EU) aus. In dieser Zeit könne eine Kommission feststellen, inwiefern es sich bei den Krediten, die das Ben-Ali-Regime erhalten habe, um illegitime Schulden handle. Diese kämen der Bevölkerung nicht zugute, sollten daher auch nicht zurückbezahlt werden.

Die UGTT hat die Regierung dazu aufgefordert, schneller mit den Verhandlungen über eine Reform der Investitionspolitik und der Bekämpfung von Korruption und Schmuggel zu beginnen. Ob Ministerpräsident Essid diese Forderungen ernst nimmt und auch umsetzt, ist offen.