Kreuzfahrten: Der Blick tief unter die Wasserlinie

Nr. 4 –

Die Havarie der «Costa Concordia» vor der italienischen Insel Giglio hat Kreuzfahrten zum Thema gemacht. Reiseautor Andreas Fischer unternahm 2004 eine Reise mit dem Schwesterschiff «Costa Europa» – ebenfalls unter Kapitän Francesco Schettino.

Auftakt der Kreuzfahrt durchs östliche Mittelmeer auf der «Costa Europa»: Von Savona soll das Schiff 1800 zahlende Gäste nach Tripolis bringen, dann nach Alexandria und von dort nach Limassol (Zypern). Nicht weniger als 650 Männer und Frauen betreuen auf diesem Schiff die PassagierInnen. Gleich beim Einchecken zeigen sie strahlend Präsenz: Hostessen, Servicemanager, Sicherheitsoffiziere. Sie haben Schulungen für professionellen Kundenkontakt absolviert und wurden auf den «Costa-Stil» verpflichtet. Der besteht darin, stets «einen tadellosen und von natürlicher Herzlichkeit geprägten Service anzubieten». Ein öffentlicher Schwur, ausgesprochen als sogenanntes Alleinstellungsmerkmal der Firma Costa und nachzulesen in der Bordzeitung «Today», über die Kapitän Francesco Schettino mit jedem Passagier Kontakt aufnimmt und in der er persönlich über die Highlights der Reise informiert.

Die Servicecrew hat ihren Arbeitsplatz oberhalb der Wasserlinie, auf den Animationsdecks, in der Shoppingmall, im Theater oder im grosszügigen Speisesaal. Den etwas weniger adretten Teil der Mannschaft sieht man nicht: Der arbeitet unten im Bauch des Schiffs, schmiert die Maschinen, wartet tausend Kilometer Öl- und Heisswasserleitungen, die gewaltigen Generatoren, die Meerwasserentsalzungsanlage. Diese Menschen halten das Schiff am Laufen, tief unter der Wasserlinie und unbemerkt vom Publikum: Wenn keiner der Gäste ihre Existenz wahrnimmt, haben sie gut gearbeitet.

Champagneralarm

19 Uhr: Das Schiff ist gleissend hell erleuchtet, die Dampfsirenen heulen, und die «Costa Europa» legt ab. Überall an der Reling knallen jetzt die Champagnerkorken. Was das plötzlich einsetzende Heulen der Bordsirenen zu bedeuten hat und dass es zur Routine gehört, wissen die PassagierInnen nicht: Am Anfang jeder Seereise steht die Notfallübung. Jetzt bekommt der Costa-Service wirklich zu tun, denn nur wenige PassagierInnen können so schnell umschalten: Ihre Begeisterung und der Stolz darauf, jetzt zwei Wochen lang von einer so dienstbereiten Crew hofiert zu werden, stehen der Folgsamkeit gegenüber den harten Kommandos im Weg, mit denen sie jetzt durch die Gänge gescheucht werden. Der Costa-Stil der Crew verfliegt wie das Parfüm der Damen im einsetzenden Meereswind – die netten Serviceleute versuchen vergebens, das einsetzende Chaos zu bewältigen. Mitten in der Übung, angesichts vieler beleidigter Gäste, bricht der Wille der Crew zusammen, die Sache zu Ende zu bringen. Jeder steht jetzt irgendwo an Deck, die meisten wollen sich von der Flasche Begrüssungschampagner nicht trennen und müssen sich an der Reling festhalten. Dann das erlösende Kommando durch die Lautsprecher: Übung erfolgreich beendet.

Beate gehört zur Crew, sie kommt aus Deutschland und trägt den Titel «International Hostess». Ob es Gelegenheit für die Presse gibt, den «Blick hinter die Kulissen» zu erweitern und Brücke, Maschinenraum sowie Mannschaftskabinen zu besichtigen? «Nein! Da macht Kapitän Schettino keine Ausnahme», antwortet Beate. «Seit dem 11. September 2001 gelten schärfste Sicherheitsbestimmungen.» Terrorismusgefahr, was soll der Schiffsführer da machen? Sich selber ausgiebig zu präsentieren und durch seine Anwesenheit die Gäste zu ehren, die sich den Luxus einer Kreuzfahrt gönnen, ist ein wesentlicher Bestandteil seines verantwortungsvollen Berufs: Der Kapitän ist immer bester Laune und geniesst es sichtlich, grüssend und scherzend in blendend weisser Uniform durch Bars und Restaurants zu spazieren. Das Erlebnis, des Abends mit Schettino am Tisch zu sitzen, kann man freilich kaufen, da kennt der Kapitän keine Klassen: Die Crew gibt gerne Auskunft über freie Termine und darüber, wie viel sich der Normalreisende ein solches «Upgrade» seiner Kreuzfahrt kosten lassen muss.

Wenn das Oberkommando die im Schiffsbauch arbeitende Mannschaft nicht herzeigen will, dann geht es wohl nicht anders, als dem Zufall Beine zu machen: das Schiff auf eigene Faust erkunden, um ein paar Leute von der Crew zu treffen. Vom hinteren Sonnendeck führen steile Treppen nach unten, zu zwei schmalen Türen, «Crew only». Und schon kommen zwei Mann heraus, um frische Seeluft zu schnappen: Andrew und Hamed. Sie berichten von ihrer Arbeit in der Waschküche und im Maschinenraum. Beide kommen aus Goa, der eine war Koch, der andere Schlosser. Andrew hat früher in einem indischen Hotel gearbeitet, für einen Hungerlohn, sich dann beim Anwerbebüro von Costa gemeldet. Jetzt fährt er schon im vierten Jahr bei Costa und verdient 900 Euro im Monat. Eine Festanstellung kennen sie nicht – wer Glück hat, kriegt nach acht Monaten einen Anschlussvertrag und kann dann auf den nächsten hoffen.

Wo sie essen? Wo sie schlafen, wie viele Betten in einer Kabine stehen und ob die Räume ein Fenster haben? Über solche Fragen kann Hamed nur lachen: «Uns steht kein Ausblick nach draussen zu – und lieber als durchs Fenster gucken wir in den Fernseher, das ist wenigstens manchmal spannend. Und wo wir gerade sind, ob in Ägypten, Limassol oder Tripolis, das wissen wir auch ohne Landgang!»

So reden Menschen, die acht Monate tief unten im Schiffsbauch hausen müssen – ohne Ausgang, ohne Tageslicht und Sonnendeck. Manchmal zynisch, manchmal wehmütig. Männer, die in engsten Kabinen zusammenleben, Inder mit Indern, Filipinos mit Filipinos, die beieinanderhocken wollen, um das Heimweh zu lindern. Nach Sprachen getrennt und doch zusammen in einem Boot. Seeleute, die keine sind und doch das Meer in den Sinnen haben. Die nur am Geräusch und an der Bewegung des Meers erkennen, wo ihr Schiff sich gerade befindet. Reisende, die nie ankommen – und den Hafen bestenfalls von der Reling aus sehen. So reden Leute, die abhängig sind vom Wohlwollen der Heuerbüros. Die nichts riskieren mögen und lieber vorsichtig auf Fragen reagieren. Und die nach jeder Antwort gleich darum bitten, nicht zitiert zu werden.

Das «Zweitregister»

Am Nachmittag: Die Tür «Crew only» geht auf und zu. Ein Seemann nach dem anderen kommt heraus – um Pause zu machen, zu rauchen, den Schiffsverkehr zu beobachten. Darunter Nicu. Er kommt aus Rumänien, arbeitet hier als Heizungstechniker und erzählt von seinen Erfahrungen mit der Heuer: Den Reedern ist es ein Dorn im Auge, dass sie nach europäischem Recht für alle Leute an Bord Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen. Sie drohen den Regierungen, sämtliche Schiffe auszuflaggen und nur noch die billigen asiatischen Seeleute zu beschäftigen.

Um das Abwandern der Schiffe unter die Billigflaggen zu verhindern, haben Deutschland und Italien das «Zweitregister» erfunden: «Eine Frechheit ist das», schimpft Nicu. An dieses Recht hält sich Costa, fährt zwar unter italienischer Flagge, zahlt aber die Crew nach zwei verschiedenen Tarifen. Die ItalienerInnen arbeiten als Festangestellte mit Sozialversicherungsschutz. Die Filipinos, Inder und Lateinamerikanerinnen dagegen bekommen nur befristete Verträge – immer eine Heuer für acht oder neun Monate, bar auf die Hand. Ohne jeden Anspruch auf Rentenversicherung und Kündigungsschutz. «Die Reeder finden natürlich Leute genug, die für solche Löhne arbeiten – sie schicken Werber in alle Häfen des indischen Ozeans.» Nicu ist bald 45 Jahre alt und hat nie etwas anderes gemacht, als zur See zu fahren. «Jetzt steigen auch bei uns daheim die Preise – wir gehören ja zu Europa. Und ich springe von Schiff zu Schiff – ständig auf der Suche nach besserer Bezahlung.» Er muss zurück in den Maschinenraum, sein Arbeitstag ist noch lange nicht zu Ende.

Die Unsichtbaren

Das also sind die geprüften und zertifizierten «Human Resources» von Costa. Menschen, ohne deren Arbeit das Schiff nicht läuft und die kaum eine Passagierin zu Gesicht bekommt: ein paar italienische Seeleute von der Stammmannschaft, die das An- und Ablegen erledigen, und viele, viele austauschbare Arbeiter im Schiffsbauch. Jeder nur wenige Jahre an Bord. Mit dem Nachschub hat Costa keine Probleme, dank des modernen europäischen Seetarifrechts kann die Firma jederzeit günstige Arbeitskräfte einkaufen. So geht sie, die Marktwirtschaft auf hoher See.

Costa sieht das sicher branchengemäss als Dienst am König Kunde, dem Passagier. Die Firma tue alles, um den Gästen konkurrenzfähige Preise zu bieten, sagt der Presseoffizier. Da muss er die Tatsachen gar nicht verdrehen. Costa zeigt die kostengünstig eingekaufte Mannschaft zwar nicht gerne, die den schwimmenden Grossbetrieb zu einer lukrativen Anlage macht. Für InvestorInnen aus aller Welt aber sind die willigen und billigen Leute die beste Gewähr: Kreuzfahrten sind ein boomendes Geschäft.

Andreas Fischer: «Entdeckungsreisen am Mittelmeer. Der Osten». Rotpunktverlag. Zürich 2010. 320 Seiten. 44 Franken. «Entdeckungsreisen am Mittelmeer. Der Westen». Rotpunktverlag. Zürich 2009. 280 Seiten. 44 Franken.

Der Reisereporter

Der Münchner Journalist Andreas Fischer recherchiert regelmässig zum Thema Schifffahrt im Mittelmeer. Er veröffentlichte 2009 und 2010 zwei Bände mit Reportagen aus dem Mittelmeerraum und stellte sich 2004 dem Thema «Kreuzfahrt» in einem Selbstversuch. Er unternahm auf der «Costa Europa», einem Schwesterschiff der jetzt havarierten «Costa Concordia», eine Reise von Savona nach Tripolis und Zypern. Die «Costa Europa» stand damals unter dem Kommando des nun berühmt gewordenen Kapitäns Francesco Schettino.

Dieser Text ist eine leicht aktualisierte und gekürzte Fassung einer Reportage, die 2007 in voller Länge in der «Süddeutschen Zeitung» und in der «Gewerkschaftszeitung Schifffahrt» erschienen ist.