Eric Hobsbawm (1917–2012): Gefährliche Zeiten

Nr. 40 –

Wie kaum ein Zweiter hat der britische Historiker Eric Hobsbawm Entwicklung und Krisenanfälligkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beschrieben.

«Interesting Times»: So hat Eric Hobsbawm seine vor zehn Jahren publizierten Erinnerungen über sein Leben im 20. Jahrhundert überschrieben. Dies wurde für die deutsche Übersetzung treffend mit «Gefährliche Zeiten» übersetzt – Gefährlichkeit hat diesen weltweit wohl bekanntesten Historiker immerzu beschäftigt, zunächst in seiner Biografie und dann, als kometenhaft aufsteigender Historiker, in seinen Werken.

Hobsbawm hatte zeit seines Lebens auch einen Bezug zu Zürich: In dieser Stadt hatten 1915 seine aus Wien stammende Mutter und sein aus London herkommender Vater geheiratet. An das Historische Seminar der Universität Zürich wurde Hobsbawm in den siebziger Jahren vom Sozialhistoriker Rudolf Braun eingeladen, und hier eröffnete er 2004 anlässlich der Verleihung des Balzan-Preises in der Aula eine Diskussion mit der abgeklärten Feststellung: «Ich bin alt genug, um tausendjährige Reiche überlebt zu haben.»

Ich selbst traf Eric Hobsbawm das letzte Mal im Sommer 2008 an einer Tagung, die am wichtigsten Ort seines Wirkens, am Birkbeck College der Universität London, stattfand und die Rekonstruktion Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema hatte. Hier erwies sich Hobsbawm einmal mehr als aufmerksamer Zuhörer, der den Moment für seine Intervention sorgsam abwartete. Einmal am Reden, entwarf er in wenigen Sätzen ein grosses Bild der Transformation der internationalen Politik durch die nach 1947 einsetzende Konfrontation zwischen West und Ost.

Er vertrat die These, dass der Kalte Krieg von der Geschichtsschreibung nicht als «Kontext», sondern als ein integraler Bestandteil aller wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Interaktionen rund um den Globus begriffen werden sollte. Entlang der militärisch hochgerüsteten Kontaktzonen machte er sich besonders intensiv bemerkbar, und damit kam Europa als Teil der Welt in den Blick. Die globale Perspektive war grundlegend für den Ansatz, den Hobsbawm mit seinen magistralen, immer aber verständlichen Werken einem breiten interessierten Publikum auf allen Kontinenten zugänglich machte.

«Wie bei Karl May»

Geboren wurde Eric Hobsbawm am 9. Juni 1917 im ägyptischen Alexandria, zu Beginn des von ihm später so bezeichneten «kurzen 20. Jahrhunderts». Seine Schul- und Jugendzeit verbrachte er in der kulturell brodelnden Grossstadt Wien. Seine Eltern verstarben früh, und 1931 zog er als Waise zu Verwandten nach Berlin, wo er 1933 die sogenannte «Machtergreifung» Hitlers miterlebte. Er wurde Mitglied des Sozialistischen Schülerbunds. Vor kurzem erklärte er noch in einem Interview, er habe «als junger Mensch zwischen Schule und Strassenkämpfen mitbekommen, was es bedeutet, wenn Arbeitslosigkeit sich durch die Gesellschaft frisst». Zwar sei es gefährlich gewesen, vor der letzten Reichtagswahl noch Flugblätter zu verteilen, «aber für mich als Jugendlichen war da auch so ein Element von Indianerspielen wie bei Karl May dabei».

Angesichts der in Deutschland rasch einsetzenden Verfolgungen siedelte die Familie nach London über. Hobsbawm war nicht religiös, der weitverbreitete und in Nazideutschland staatstragende Antisemitismus liess ihn aber nie vergessen, dass er Jude war.

1936 trat er der Kommunistischen Partei Grossbritanniens (CPGB) bei und blieb durch alle Irrungen und Wirrungen hindurch Mitglied. 1947 erhielt er – gerade bevor CPGB-Mitglieder aufgrund des einsetzenden Antikommunismus ausgegrenzt wurden – eine Dozentenstelle am Birkbeck College; erst 1970 wurde ihm aber, als er bereits ein weltweites Renommee besass, eine Professur zuteil.

Schon früh «verliebte» er sich in den Jazz. Dass seine Pionierstudie «The Jazz Scene» 1959 unter dem Pseudonym Francis Newton erschien, hatte seinen Grund darin, dass er im Klima des Kalten Kriegs zunächst keinen Verleger finden konnte. Gerade in dieser Studie werden Zwischentöne angeschlagen, die zeigen, wie ausgeprägt der «lebenslängliche Marxist» ein Sensorium entwickelt hatte für komplexe kulturelle Formen und künstlerische Ausdrucksweisen.

Weitere Forschungen konzentrierten sich auf jene sozialen Gruppen und Klassen, zu denen Hobsbawm ein enges Verhältnis hatte: Sozialrebellen, Banditen, Maschinenstürmer, Arbeiter, Bauern und «uncommon people». Besonders einflussreich erwies sich seine Deutung der Nation als einer «erfundenen Tradition». Er setzte sich zudem mit dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci auseinander, was sich auch in seinen Plädoyers für einen reformorientierten Eurokommunismus zeigte. Intellektuell positionierte sich Hobsbawm als «rationaler Linker», der einen dezidierten Standort mit der Kraft begründeter Rede und begründbarer Kritik kombinierte.

«Das lange 19. Jahrhundert»

Seine internationale Breitenwirkung erzielte er durch eine Reihe historischer Überblicksdarstellungen. Zunächst entstand die imposante Trilogie zum «langen 19. Jahrhundert»: Auf «Europäische Revolutionen (1789–1848)» aus dem Jahr 1962 folgte 1977 «Die Blütezeit des Kapitals (1848–1875)» und dann, 1989, «Das imperiale Zeitalter (1875–1914)». In diesen Werken analysiert Hobsbawm die historische Entwicklungsdynamik, Konflikt- und Krisenanfälligkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Mit dem «Zeitalter der Extreme», das die Zeit vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) bis zum Ende der Sowjetzeit (1991) behandelt, schuf er ein Grundlagenwerk zur Geschichte des «kurzen 20. Jahrhunderts».

In produktiver Weise thematisiert Hobsbawm in seinem letzten Werk auch das Problem der Zeitgenossenschaft. Weit davon entfernt, daraus eine aktive Legitimation für das Schreiben von Geschichte abzuleiten, reflektiert er gerade umgekehrt die Schwierigkeiten, die sich aufgrund einer persönlichen Verwicklung in die Geschehnisse für die historische Analyse ergeben. Als «teilnehmender Beobachter», als «Reisender mit offenen Augen» oder als «Kibbitzer, wie meine Vorfahren es genannt hätten», führt er sich nachträglich auch seine eigenen Leerstellen vor Augen.

Es ging ihm darum, das Scheitern der «grossen Sache» des kommunistischen Experiments nicht etwa in einen Leistungsausweis des real existierenden Kapitalismus umzudeuten. Der Aufstieg einer «radikalen Moraltheologie des Marktes» ging aus seiner Sicht vielmehr einher mit einer unheimlichen «Zerstörung der Vergangenheit». In der 2009 erschienenen luziden Studie «Globalisierung, Demokratie und Terrorismus» kritisierte er die skandalisierende, alle Probleme vernebelnde Medienberichterstattung über «Terrorgefahren» und wies auf die in den heutigen beschleunigten Gesellschaften angelegten Gewaltpotenziale hin.

«Verteidigung der Aufklärung»

Hobsbawm blickte tief in die Schründe und Abgründe des Jahrhunderts, das er durchlebte, und dies bestärkte ihn in der «Verteidigung der guten alten Aufklärung» (wie er es 1996 in einem Gespräch mit der Ethnologin Ina Boesch formulierte). In seinem Buch «Wieviel Geschichte braucht die Zukunft» (2001) konkretisiert er diese Haltung mit einer fulminanten Attacke gegen alle Versuche, die Kollektividentität von Gruppen absolut zu setzen und nationalistische Mythologien aufzurüsten.

Das sei nicht nur «schlechte Geschichte», sondern schlicht «gefährlich»: «Die Urteile, die auf einer scheinbar harmlosen Tastatur getippt werden, können Todesurteile sein», stellt er fest und erklärt, Historiker müssten «auf der Seite eines Universalismus stehen, nicht nur aus Loyalität zu einem Ideal (…), sondern weil dieser die notwendige Bedingung für das Verstehen (…) auch der Geschichte jedes besonderen Teils der Menschheit» ist.

Eric Hobsbawm, der in der Nacht auf den 1. Oktober in London verstorben ist, lebte eine singuläre Gleichzeitigkeit von geradezu sturer politischer Standfestigkeit und beweglich-vagabundierendem Freibeutertum, das der Welt und ihrer Vergangenheit immer neue Seiten abzugewinnen verstand. Es gab für ihn am Schluss wenig Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Aus dem optimistischen, einer sozialistischen Utopie verpflichteten Kommunisten war ein pessimistischer Warner geworden – einer allerdings, der bis ans Lebensende an die Veränderbarkeit der Welt glaubte.

Jakob Tanner (62) ist Professor für Allgemeine 
und Schweizer Geschichte der neueren 
und der neuesten Zeit an der Universität Zürich.
 Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte 
der Schweizer Gesellschaft, insbesondere der Finanzbranche, sowie zur Entwicklung der Konsumgesellschaft publiziert.

Hobsbawm in der WOZ

«Gegen den Vormarsch in neue Barbareien » hiess ein Beitrag von Eric Hobsbawm, den die WOZ in ihrer Nummer 16/1999 abdruckte. Hobsbawm schrieb darin über die Verantwortung des Historikers, wenn Vertreibung und Krieg mit Geschichte legitimiert werden. «Eine ungeheure Aktualität» habe die Rede angesichts des Kosovokriegs erhalten, meinte die WOZ damals, und aktuell sind Hobsbawms Überlegungen weiterhin geblieben.