Wirtschaftsgeografie: Das Fliessband und die Gewalt

Nr. 28 –

Die herkömmliche Ökonomie ist auf manchem Auge blind. Der Zürcher Wirtschaftsgeograf Christian Berndt erläutert die Folgen am Beispiel der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez.

Wirtschaftsgeograf Christian Berndt: «Die grosse Modernisierungs-Verheissung bleibt für die meisten Beschäftigten ein leeres Versprechen.»

WOZ: Herr Berndt, seit 1999 sind Sie mehrfach in die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez gereist. Was treibt Sie dazu an?
Christian Berndt: Ciudad Juárez ist ein wichtiger Standort für Firmen wie Foxconn. Als Zulieferer produziert Foxconn Produkte wie das iPhone. Apple muss dann nur noch das Logo hinzufügen. Innerhalb dieser Industrie, die in Mexiko Maquiladora-Industrie genannt wird, interessieren mich die Arbeitsbeziehungen, was es für die Menschen bedeutet, für nördliche Konsumentinnen und Konsumenten zu arbeiten, und welche Rolle ökonomische Normen dabei spielen. Es geht um die Frage, wie aus ökonomischen Modellen Wirklichkeit wird.

Werden Modelle nicht eher aus der Wirklichkeit abgeleitet, um diese zu erklären?
Modelle bilden die Realität nicht einfach nur ab. Nehmen wir beispielsweise das Black-Scholes-Modell. Die beiden Ökonomen Fischer Black und Myron Scholes haben Anfang der siebziger Jahre ein mathematisches Modell zur Bewertung von Finanzoptionen entwickelt. Dieses Modell fand grosse Beachtung.

Als die Black-Scholes-Formel eingeführt wurde, wichen die tatsächlichen Marktpreise noch stark von den in diesem Modell errechneten Preisen ab. Über die Jahre hinweg haben sie sich immer mehr angeglichen, weil immer mehr Akteure das Black-Scholes-Modell einsetzten. Dieses Modell wurde zur Richtschnur auf den Märkten, und somit glichen sich die Marktpreise der Optionen den theoretischen Preisen an.

Welche Modelle werden in Ciudad Juárez Wirklichkeit?
In den einzelnen Fabriken wird die Arbeit nach gewissen Standards strukturiert, die im globalen Norden, hauptsächlich in den USA, entwickelt worden sind und in Juárez auf den globalen Süden angewendet werden. Beispiele für solche Programme sind Qualitätsmanagementinstrumente wie Six Sigma, das gewisse Geschäftsvorgänge messbar macht. Bei diesen Prozessen wird zudem auch mit kulturellen Stereotypen agiert: Der Norden muss rückständige Arbeitskräfte im Süden umerziehen und sie so formen, dass sie sich in eine moderne Produktionswelt einpassen lassen.

Wehren sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in Juárez dagegen?
Kaum, viele sind mit der Arbeit zufrieden. Sie haben für die Aussicht auf einen Arbeitsplatz in diesen Fabriken sehr viel auf sich genommen. Sie arbeiten lieber in der Maquiladora-Industrie, als sich auf den Feldern im Süden Mexikos den Rücken krumm zu arbeiten.

Das klingt verständlich.
Nur auf den ersten Blick. Die Arbeitsbedingungen sind problematisch. Ein Monatslohn um die 200 Dollar reicht in Juárez nur mit grossen Mühen zum Leben. Dazu kommt ein subtiles Disziplinierungsregime. Der Kontrast zwischen der modernen Produktionswelt und den prekären Lebensbedingungen im Wohnumfeld der Beschäftigten führt zu einer Identifikation mit ihrer Arbeit, die die Unternehmen geschickt stärken. Gleichzeitig unterbinden sie aber Organisationsversuche der Beschäftigten mit allen Mitteln. In dieser Konstellation ist direkter Widerstand fast unmöglich.

Hat sich die Situation der Arbeiter über die Jahre gebessert?
Profitiert haben neben den internationalen Unternehmen vor allem die lokalen Eliten, wie etwa die Landeigentümer, die ihr Land an die Investoren verkaufen konnten und heute Dienstleistungen für die Unternehmen anbieten. Die grosse Modernisierungsverheissung bleibt für die meisten Beschäftigten ein leeres Versprechen. Die Fliessbandarbeit in den Fabriken ermöglicht es ihnen kaum, sich weiterzuentwickeln.

Was waren die grössten Veränderungen seit Ihrem ersten Besuch in Juárez im Jahr 1999?
Das enorme Wachstum der Stadt. In der Hochphase in den Nullerjahren kam täglich ein halbes Dutzend Busse mit Arbeiterinnen und Arbeitern an. Die Unternehmen stillten ihren Hunger nach günstigen Arbeitskräften mit der Zeit nicht mehr nur im Umkreis von Juárez, sondern in ganz Mexiko. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist Juárez von mehreren Zehntausend Einwohnern auf 1,5 Millionen gewachsen. Um für die 200 000 bis 300 000 Arbeitskräfte und zusätzliche Fabriken Platz zu schaffen, werden Menschen auch mit Gewalt enteignet und vertrieben. Das war beispielsweise in einem dünn besiedelten Gebiet im Westen der Stadt zu beobachten, das durch neue Entwicklungspläne stark an Wert gewann. Häuser und Menschen wurden auf Initiative einer der mächtigsten Familien der Stadt kurzerhand von privaten Sicherheitskräften eingezäunt, der Zugang zur Siedlung wurde kontrolliert, die Leute mit Gewalt vertrieben, um Platz für neue Wohnhäuser und Einkaufszentren zu schaffen.

Da soll auch ein neuer Industriepark mit entsprechender Infrastruktur geschaffen werden, einer der wichtigsten Investoren dort ist Foxconn. Die Arbeitsmigranten müssen irgendwo wohnen und siedeln sich in der Wüste rund um die Stadt an, in provisorischen Siedlungen ohne Strom oder fliessendes Wasser und oft mit ungeklärtem rechtlichem Status. Die Stadt kann die Infrastruktur nicht bereitstellen, die Strassen sind nicht geteert. Und so leben die meisten Menschen in Juárez in prekären Verhältnissen.

Welche Auswirkungen hat dies auf das Zusammenleben in der Stadt?
Es herrscht ein Klima der Gewalt. Augenfällig wird dies bei den verstörenden sexuellen Gewaltverbrechen gegen mehrere Hundert Frauen. Die Verbrechen wurden in der Mehrheit nicht aufgeklärt. Diese Gewalt lässt sich teilweise mit den Folgen der Maquiladorisierung für die Geschlechterverhältnisse erklären.

Wegen eines Männerüberschusses?
Nein, es ist genau umgekehrt: Die Fabriken haben in erster Linie junge Frauen angeworben, die ohne Familie kommen und relativ isoliert und schutzlos sind. Die Männer erfahren eine Abwertung, weil sie weniger gefragt sind. Ich habe erlebt, wie eine Firma mehrere Wochen lang Stellen am Fabriktor ausgeschrieben hatte und so lange Männer wegschickte, bis sich geeignete Frauen fanden. Das erschüttert das Bild der klassischen Rollenverteilung vieler Männer, die sich die Kontrolle zurückholen wollen. Das und ein soziales Umfeld, in dem ein Menschenleben wenig zählt, erklären zumindest einen Teil dieser Gewalt an Frauen. Solche Entwicklungen werden in den herkömmlichen ökonomischen Modellen ausgeblendet.

Was unterscheidet Ihre Forschung von jener der Ökonomen?
Ich möchte als Wirtschaftsgeograf den orthodoxen Ökonomen, die sich ganz streng an die Vorgaben der neoklassischen Wirtschaftswissenschaften halten, das Forschungsfeld nicht allein überlassen. Ich nähere mich der Ökonomie als sozialem Verhältnis und kulturellem Projekt an, betrachte historische Entwicklungen, gesellschaftliche Ungleichheiten und räumliche Zusammenhänge und fokussiere nicht nur auf die Wirtschaft im engen Sinn.

Bieten Wirtschaftsgeografen Lösungen an?
Allein schon durch das Sichtbarmachen gewisser Themen kann man eine Verbesserung erzielen. Unsere Wirtschaft gleicht einem Eisberg. Der sichtbare Teil ist die formale Ökonomie. Sie ist bloss ein kleiner Teil der gesamten Wirtschaft. Unter Wasser befindet sich der grosse Teil der Ökonomie, der sich nicht so einfach quantifizieren lässt: unbezahlte Arbeit, etwa reproduktive Tätigkeiten wie die Kindererziehung und Haushaltsarbeit, oder alternative ökonomische Praktiken wie Tauschringe. Sie alle werden von der formalen Ökonomie ungenügend erfasst. Dabei sind viele dieser Aktivitäten für eine funktionierende Wirtschaft existenziell.

Christian Berndt

Der deutsche Geografieprofessor Christian Berndt (46) leitet seit 2010 die Arbeitsgruppe Wirtschaftsgeographie am Geographischen Institut der Universität Zürich. Er promovierte an der University of Cambridge und habilitierte dann an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt zum Thema der Maquiladora-Industrie in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez.

CIUDAD JUÁREZ UND DIE MAQUILADORA-INDUSTRIE : Günstige Arbeitskräfte in der gefährlichen Stadt

Der Begriff «Maquiladora» verweist auf die spanische Kolonialherrschaft. Damals wurde mit «maquila» der Teil des gemahlenen Korns bezeichnet, den der Müller als Lohn für seine Dienste von den Bauern erhielt.

Das ist ein treffendes Bild für Betriebe, die importierte Komponenten zu End- oder Zwischenprodukten zusammensetzen und entweder als Zulieferer für grosse transnationale Unternehmen fungieren oder sich direkt im Eigentum dieser Konzerne befinden. Die ausländischen Unternehmen profitieren in erster Linie von günstigen Arbeitskräften.

Ciudad Juárez war Teil eines politischen Programms, das die mexikanische Regierung Mitte der sechziger Jahre zusammen mit den USA vorantrieb: Es erlaubte ausländischen, mehrheitlich amerikanischen Unternehmen, steuerfrei zu produzieren.

Das Maquiladora-Programm war zunächst auf die unmittelbare nördliche Grenzregion beschränkt und wurde später auf ganz Mexiko ausgedehnt.

Mit dem Nafta-Freihandelsabkommen von 1994 erhielten Maquiladora-Städte wie Ciudad Juárez zusätzlichen Auftrieb. Die EinwohnerInnenzahl verdoppelte sich seit Beginn der neunziger Jahre auf etwa 1,5 Millionen Menschen. Davon sind im Durchschnitt zwischen 200 000 und 300 000 in der Maquiladora-Industrie tätig.

In den Medien erlangte die Stadt traurige Berühmtheit als eine der gefährlichsten Städte der Welt. Seit 1993 sind in Juárez über 13 000 Morde dokumentiert. Besondere Aufmerksamkeit erhielt dabei die hohe Zahl sexueller Gewaltverbrechen an jungen Frauen und die Eskalation der Gewalt in den letzten Jahren. Allein seit 2008 sind in Ciudad Juárez in Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen und staatlichen Sicherheitskräften etwa 10 000 Menschen umgekommen.