Wichtig zu wissen: Wer sauber ist, wird nicht gefilmt

Nr. 33 –

Ruedi Widmer über die Folgen der staatlichen Filmpolitik.

Es gibt derzeit in der Schweiz drei heiss diskutierte Konzepte, wie der öffentliche Raum für die Berechtigten frei gemacht werden kann: das Verfahren «Bremgarten», das Verfahren «Pâquis Genf» und das Verfahren «Oprah Winfrey». In Bremgarten werden Unberechtigte gar nicht mehr zugelassen, in Genf werden sie bei der Nichtzulassung sogar noch gefilmt, und in Zürich werden die relevanten Aufnahmen gelöscht, bevor sie jemand gesehen hat.

Der Ruf der rechtsbürgerlichen Filmförderer nach dem Staat erstaunt. In Zeiten, in denen die SVP selbst bei der Polizei sparen will, ist es unüblich, dass die Bürgerlichen solche linken Muster übernehmen. Der Überwachungsstaat könnte schlanker geführt werden. Der Staat delegiert die Filmerei, wie so manch anderes auch, einfach an den Bürger, der dies erstens besser und zweitens günstiger macht. Der trägt sein Apple-NSA-iPhone ohnehin permanent mit sich herum und kann mit der Filmfunktion alles aufnehmen, was um ihn herum passiert.

Betritt also der Bürger das Quartier Pâquis, beginnt er zu filmen. Er ist so erstens nicht fähig, ein Verbrechen zu begehen, weil er beschäftigt ist, und zweitens ist damit beim durchschnittlichen Fussgängeraufkommen eine lückenlose filmische Erfassung des gesamten Quartiers möglich. Die NSA zieht die Daten in Real Time von den Smartphones runter und händigt sie den Bundesbehörden aus. Die Polizeicomputer führen die Abertausende von verwackelten Filmchen zu einem grossen Filmteppich zusammen. Schliesslich sitzen die BeamtInnen vor diesem Teppich und – ja, was machen sie dann? Sie machen Feierabend und gehen vielleicht noch auf ein Bier. 

Die Datensammlerei ist das eine, die Auswertung das andere. Es stinkt doch allen, diesen Datenmüll zu durchwühlen. Deshalb wird auch kaum ein gefilmtes Verbrechen aufgeklärt. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Berlusconi liess sich während Jahrzehnten bei der Ausübung seiner Verbrechen filmen und übertrug den Datenmüll in die Stuben der ItalienerInnen. Und doch wurde kaum eines seiner Verbrechen richtig aufgeklärt. Der Mann läuft immer noch frei herum. Vielleicht betatscht der gerade im Quartier Pâquis Frauen.

Aber warum soll man für Verbrechen überhaupt noch ins Pâquis gehen? Schlingel weichen einfach auf die noch nicht gefilmten Quartiere aus, und die Kameras folgen ihnen wie die Geier.

In der Zeitung stand, heute würden pro Tag so viele Fotos geschossen und Filmminuten gedreht wie im gesamten 19. Jahrhundert.

Sieht man heute Super-8-Filme, ist die Begeisterung stets gross. Das liegt nicht nur an den komischen Kleidern der teilnehmenden Leute, sondern auch am ideellen Wert solcher seltenen Aufnahmen. Mit der Digitalfotografie und der Verfügbarkeit von Handy, Flickr, Youtube, Instagram, Web- und Überwachungskamera sind das Foto und der Film zum reizlosen Gut geworden. Kulturell ist das bedauerlich. Und die Gefahr, dass der Akt des Filmens sogar negativ konnotiert wird, ist hoch. Jüngere Menschen, die sich erst ins Gesellschaftsleben einfügen und in der Experimentierfreudigkeit der Adoleszenz permanent der Überwachung ausweichen müssen, assoziieren mit Kameras vielleicht plötzlich Gewalt und Verbrechen. Während wir als Kind noch über die «Versteckte Kamera» mit Kurt Felix lachten, werden unsere Kinder bald fragen, ob denn Stephan Klapproth ein Verbrecher sei, weil er ständig gefilmt wird.

Wer sauber ist, wird nicht gefilmt, ruft die blau angelaufene Leserschaft von «Blick Online» und sehnt sich nach der Verhaftung von Leonardo DiCaprio und anderen VerbrecherInnen aus der brutalen Stadt Hollywood, in der schon seit Jahrzehnten alles gefilmt wird und die Gefilmten trotzdem immer noch auf freiem Fuss sind. Wegen der verdammten Kuscheljustiz.

In der Verhaftung von Sven Epiney liegt aber wiederum auch eine Chance. Für unsere Schweiz.

Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur. 
Er tritt derzeit unentgeltlich in wechselnden Rollen als Verkehrsteilnehmer, Kunde und potenzieller Verbrecher in diversen staatlichen und privaten Filmen auf.