Juli Zeh: «Ein Mensch, der kein Geheimnis hat, ist kein Mensch mehr»

Nr. 49 –

Warum die Privatsphäre auch in Zeiten von Facebook schützenswert ist, weshalb Algorithmen gefährlich sind und warum wir dem Staat misstrauen sollen. Die deutsche Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh im Gespräch mit der WOZ.

WOZ: Frau Zeh, vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass die National Security Agency (NSA) über Jahre das Handy der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel abgehört hat. Mir scheint, dass die Empörung darüber viel grösser war als die über die flächendeckende Überwachung der elektronischen Daten von uns Normalbürgerinnen.
Juli Zeh: Das stimmt auf jeden Fall. Ich sehe es aber dennoch etwas differenzierter: Ich beschäftige mich ja schon länger mit dem Thema Datenschutz und nicht erst, seit die NSA in den Medien ist. Vor fünf, sechs Jahren war man als Datenschutzbewegte noch eine Exotin. Man lief Gefahr, als Paranoikerin oder Hysterikerin abgestempelt zu werden. Und das ändert sich nun. Die Leute sind zwar noch recht weit davon entfernt, aktiv zu protestieren. Das macht nach wie vor nur ein kleiner Teil. Aber das Bewusstsein wandelt sich durchaus, das merke ich auch auf Veranstaltungen, wenn ich über das Thema spreche. Die Leute beginnen nachzudenken. Und selbst wenn sie zum Ergebnis kommen: «Es stört mich wirklich nicht», so haben sie sich doch damit auseinandergesetzt. Ausserdem sind wir ja auch noch nicht am Ende der Geschichte, sondern ganz am Anfang …

Zumindest in der Schweiz lässt sich aber beobachten, dass in den letzten Jahren dem Staat und der Polizei immer mehr Befugnisse zugesprochen wurden, nicht zuletzt auch in Volksabstimmungen.
Das war in den letzten Jahren in allen westlichen Staaten der Fall. Es ist ja nicht so, dass wir seit Jahren die braven Datenschützer sind, und jetzt kommen die Amerikaner und überwachen uns – auch wenn man das nun so darzustellen versucht. Das, was jetzt der NSA vorgeworfen wird, haben wir die längste Zeit auch gemacht. Nach wie vor wollen europäische Länder zum Beispiel die Vorratsdatenspeicherung einführen – das ist auch ein Fall von massenhafter Datensammelei, ohne dass ein konkreter Verdacht gegen einen Bürger vorliegt. Die Enthüllungen von Edward Snowden sind noch sehr neu. Wir schauen erst seit fünf, sechs Monaten unter völlig neuen Vorzeichen auf die Überwachungsfrage. Was ich mit Bewusstseinswandel meine, ist ein zartes Pflänzchen eines beginnenden Umdenkens.

Sie glauben also wirklich, dass sich im öffentlichen Bewusstsein etwas ändern wird?
Ja, durchaus. Das ist nicht nur den Enthüllungen von Snowden zu verdanken, sondern auch der konsequenten Berichterstattung in den Medien. Es ist ein Verdienst der Presse und von einzelnen Journalisten, die seit langer Zeit an diesem Thema dranbleiben und es als wichtig einschätzen. Tag für Tag, Woche für Woche kommen neue Informationen ans Licht, und das auf allen Kanälen. Allein diese Kontinuität der Berichterstattung sendet eine Gesamtbotschaft. Und die lautet: «Leute, das geht euch was an! Das ist eine zentrale Frage für unsere Gesellschaft.»

Nun gibt es ja dieses bekannte Totschlagargument: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten.
Ich höre dieses Argument immer seltener, ich glaube, es hat an Kraft verloren. Spätestens seit sich alle über Frau Merkels Handy aufgeregt haben, könnte man auch fragen, was denn Frau Merkel eigentlich zu verbergen hat. Sie ist eine gewählte Politikerin, also sollten ihre Handlungen und Motive ja transparent und rechenschaftspflichtig sein, und eine Terroristin ist sie doch wohl höchstwahrscheinlich nicht. Dennoch regen sich alle über das Abhören von Merkels Handy auf. Daran sieht man, dass diese Empörung mit dem Zu-verbergen-Haben gar nicht viel zu tun hat, sondern vielmehr damit, dass dieses Ausspionieren zunächst einmal einfach eine Respektlosigkeit darstellt, eine Beleidigung. Man protestiert: «Ihr könnt doch nicht allen Ernstes unsere Bundeskanzlerin abhören?» Angela Merkel ist eine Stellvertreterfigur. Es sollte deshalb einleuchten, dass Abhören auch dem einzelnen Bürger gegenüber eine Respektlosigkeit darstellt.

Warum ist denn unsere Privatsphäre überhaupt schützenswert?
Diese Frage berührt uns im Innersten. Ich würde sagen, Privatsphäre ist das, was den sich entwickelnden Menschen auszeichnet. Entwicklungsbiografisch beginnt der Mensch, sich in dem Moment als eigenes Subjekt, als in sich geschlossenes, abgegrenztes Wesen zu betrachten, zu dem er «Ich» sagt, wenn er es schafft, Geheimnisse zu haben. Also wenn das Kind anfängt, Dinge zu verstecken, wenn es den Eltern den Zutritt zu bestimmten Räumen verwehrt, wenn es Grenzen zieht: Wer darf was wissen? Sobald man sagen kann: «Das dürft ihr nicht wissen, das ist meins», wird man ein «Ich». Wenn man diese Grenzen nun aufgeben und zulassen würde, dass alle alles über einen wissen, ist das im Grunde der letzte Verlust von Menschlichkeit, von Würde, von dem, das wir Identität nennen. Es geht dabei um grundlegende Fragen unseres Menschenbilds. Was macht Menschlichkeit aus? Ich würde sagen, Privatsphäre ist ein ganz grosser Teil davon. Und die gilt es auch vor dem Staat zu schützen.

Warum sollten wir dem Staat misstrauen?
Wem bitte sollen wir denn misstrauen, wenn nicht dem Staat? In den letzten 200, 300 Jahren Geschichte wurden die grössten Verbrechen, mit den meisten Opfern, immer von Staaten begangen. Und wer mir sagt: «Diese Zeit ist jetzt vorbei, der Staat ist jetzt lieb und nett», dem kann ich nur antworten: «Träum weiter!» Es ist schön, wenn es mit dem Staat gut läuft, aber da ist kein Garantiesiegel drauf.

Aber wenn man sich klarmacht, dass Privatsphäre etwas ist, das genuin zu unserer Identität gehört, dann muss man auch sehen, dass es letztlich mit Misstrauen oder Vertrauen gar nicht so viel zu tun hat. Es geht nicht darum, wer die Daten missbraucht oder was die Geheimdienste damit wollen, sondern darum, dass Beobachtung an sich schon ein Problem darstellt.

Inwiefern ist Beobachtung an sich schon problematisch?
Ich kann mich nur wiederholen: Ein Mensch, der kein Geheimnis hat, ist kein Mensch mehr. Stellen Sie sich mal vor eine Kamera, und versuchen Sie, sich normal zu verhalten. Die meisten Menschen, die fotografiert werden, beginnen, verkrampft zu lächeln. In Erfahrungsberichten von Stasi-Opfern können wir lesen, wie das Beobachtetwerden sie in den Wahnsinn getrieben hat, dass sie ihre geistige Gesundheit eingebüsst haben, nachdem zum fünften Mal jemand in der Wohnung war, Wanzen installiert oder ihre Unterlagen durchwühlt hat.

Ist in unserer Zeit der sogenannten sozialen Netzwerke nicht auch das Gegenteil der Fall? Über Facebook und Twitter drängeln wir uns an die Öffentlichkeit und buhlen um Aufmerksamkeit. Hat sich die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem dadurch nicht auch verschoben?
Doch, aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es gehört zur Freiheit des Menschen, darüber entscheiden zu können, wie viel er von sich öffentlich machen will und was er geheim halten möchte. Das ist ein Zeichen unserer persönlichen Souveränität. Es ist völlig unzulässig zu sagen: «Ihr postet alle eure Partyfotos auf Facebook, also verdient ihr jetzt keine Privatsphäre mehr.» Man kann seine Privatsphäre nicht verwirken. Wer sich komplett transparent machen möchte, darf das tun – ich würde ihm allerdings immer noch sagen, dass das nicht sehr gesund ist. Trotzdem ist es sein Recht im Rahmen der Gesetze. Was aber nicht sein darf, ist Überwachung gegen unseren Willen und vor allem ohne unser Wissen.

Was geschieht, wenn wir nicht merken, dass wir überwacht werden?
Das ist das Neue an dem, was wir jetzt erleben: die Unsichtbarkeit der Beobachtung. Viele Leute glauben, sich nicht darum kümmern zu müssen und deswegen auch nicht davon beeinflusst zu sein. Das ist eigentlich der einzige Unterschied zu dem, was zum Beispiel die Stasi gemacht hat: Es gibt heute viel bessere technische Möglichkeiten, und deshalb bemerken die Leute die Überwachung nicht mehr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand eine Wanze über seinem Esstisch dulden würde. Aber eine Wanze sozusagen im E-Mail-Account scheint anders eingeordnet zu werden. Das ist meiner Meinung nach eher der Unvertrautheit mit dem neuen Medium Internet zuzuschreiben und keine Erklärung des Einverständnisses mit dem Beobachtetwerden. Ich denke immer: Wenn die Leute wirklich verstehen würden, was da passiert, dann wären sie dagegen.

Dabei ist das Mitlesen von E-Mails durch den Staat mit dem Öffnen, Kopieren und Archivieren von Briefen auf dem Postamt zu vergleichen, wie Sie es in Ihrem Buch «Angriff auf die Freiheit» beschreiben, das Sie mit Ilija Trojanow verfasst haben.
Das ist genau das Gleiche, und in gewisser Weise ist es sogar noch schlimmer. Oft wird der Einwand angeführt, dass da keine Menschen sitzen, die unsere E-Mails lesen. Es wird zunächst einmal etwas abgespeichert, möglicherweise nicht einmal der Inhalt der Nachricht, sondern die sogenannten Metadaten oder Verbindungsdaten. Der technische Laie mag nun davon ausgehen, dass das weniger schlimm sei. Der Satz «Mein Mann ist ein Arschloch» wird nicht von einem lebenden Menschen gelesen, so wirkt er vielleicht weniger peinlich. Das ist jedoch nur auf den ersten Blick besser. Denn eine Maschine erfährt viel mehr als jeder menschliche Beobachter, der eine E-Mail liest. Die Informationsmenge und die Informationstiefe, die abgegriffen werden, sind viel grösser, wenn das durch Algorithmen passiert, als wenn der gute alte Stasi-Mitarbeiter auf dem Dachboden sitzt mit den Kopfhörern auf den Ohren.

Können diese Algorithmen mehr als nur auf bestimmte Begriffe reagieren?
Algorithmen filtern zwar auch nach Begriffen, aber das grösste Problem ist, dass Daten fusioniert werden: Daten aus verschiedenen Lebensbereichen werden gesammelt und dann miteinander verbunden, um Schlüsse daraus zu ziehen. Das sind beispielsweise Reisedaten: Wer hat Bahn- oder Flugtickets wohin gekauft? Oder was hat man für Nahrungsmittel eingekauft? Welche Bücher gelesen? Mit wem per E-Mail korrespondiert? Welche Krankenversicherungsleistungen in Anspruch genommen? Welche Kontotransaktionen wurden veranlasst? – All das, was datenmässig dokumentiert und eben auch überwacht wird, wird miteinander verbunden. Aufgrund dieser Verbindungen lassen sich verblüffend und erschreckend genaue Profile der Persönlichkeit erstellen.

Wozu sollen solche Datenmengen dienen?
Aufgrund der Fusion der Daten lässt sich mit gewisser Wahrscheinlichkeit voraussagen, was diese Person als Nächstes tun wird. Im Grunde handelt es sich dabei um ein technisches Verfahren zur angeblichen Vorhersage der Zukunft. Und das ist auch so gewollt, zur Verbrechensbekämpfung, wie es heisst.

Oder zur Verbrechensprävention?
Genau, zur Prävention. Die Überwacher wollen wissen, wer womöglich kriminell wird. Oder in anderen Bereichen, etwa im Gesundheitswesen, wer mit fünfzig an Krebs erkranken wird. Sie betrachten dies als das legitime Anliegen der ganzen Datensammelei und Datenfusion. Es denkt jedoch kaum jemand darüber nach, was das eigentlich bedeutet, unter welchen Handlungsdruck uns das setzt. Sollen die Krankenversicherungsbeiträge entsprechend angesetzt werden? Was tun, wenn wir wissen, dass der Herr Müller mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit seine Frau umbringen wird? Müssen wir nun jemanden einsperren, weil ein Computer errechnet hat, dass er vermutlich kriminell wird? Ist es das, was wir in nächster Zukunft machen? Gefängnisse bauen, in denen hinterher die halbe Bevölkerung sitzt? Diesen Fragen müssen wir uns stellen …

Wie verhält sich das zur Unschuldsvermutung, einem Grundpfeiler unseres Rechtssystems?
Bei der Prävention in der Kriminalitätsbekämpfung besteht immer die Gefahr, die Unschuldsvermutung aufzuheben. Und flächendeckende Überwachung hat eh mit der Unschuldsvermutung aufgeräumt. Wir sind alle verdächtig. Warum sollte mich der Staat überwachen, wenn er mich nicht für verdächtig hält?

Ich möchte die Frage, warum wir dem Staat misstrauen sollten, umkehren und vielmehr fragen, warum der Staat seinen Bürgern nicht vertraut. Diese Frage ist gerade in einer Demokratie viel wichtiger. Denn in einer Demokratie geht von den Bürgern die eigentliche Staatsgewalt aus, das Volk ist der Souverän. Das, was wir Staaten nennen, ist nichts als ein Derivat dieser Souveränität, und trotzdem glaubt man, uns, also den eigentlichen Souverän, überwachen zu müssen. Da beisst sich die Idee der Demokratie doch in den Schwanz.

Welche Konsequenzen hat die Überwachung für eine Gesellschaft?
Es gibt neuere Umfragen – zum Beispiel eine des US-amerikanischen Schriftstellerverbands –, die belegen, dass sehr viele Leute bereits jetzt schon anfangen, ihr Verhalten zu ändern. Sie reden am Telefon nicht mehr über bestimmte Sachen, verhandeln im Internet gewisse Themen nicht mehr. Das, was wir das Recht auf freie Meinungsäusserung nennen, die offene Kommunikation, der öffentliche Raum, in dem wir uns frei bewegen, all dies wird somit ad absurdum geführt. Wenn wir als Nutzer und Bürger die Kommunikationsmittel gar nicht mehr verwenden können beziehungsweise nicht so, wie wir wollen, weil wir unter ständiger Beobachtung stehen, haben wir irgendwann ein Kommunikationszeitalter ohne Kommunikation. Ein Zeitalter, in dem die Mächtigen der Gesellschaft, also die Staaten und Konzerne, mit Datensammelei entweder Geld verdienen oder ihre Macht stabilisieren.

Wie können wir uns gegen diese Entwicklung wehren? Bleibt uns nur der totale Rückzug aus dem Digitalen?
Nein, ich weigere mich, mich zurückzuziehen. Das wäre pure Resignation, und man entzieht sich auch der gesellschaftlichen Verantwortung. Die technische Abschottung der Bürger mit möglichst aufwendiger Kryptografie hinter ultimativen Firewalls kann nicht die Lösung sein, um sich gegen Bespitzelung zu wehren. Es ist sicher nicht dumm, unsere E-Mails zu verschlüsseln. Wir kleben ja auch unsere Briefe zu. Aber das ist nicht die Lösung. Wir müssen politisch protestieren und unser Recht auf freie Kommunikation verteidigen.

Sie haben zusammen mit rund sechzig Autorinnen und Autoren – darunter Carolin Emcke, Ilija Trojanow und Julia Franck – einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel verfasst, in dem Sie die Tatenlosigkeit der deutschen Regierung anklagen und sie auffordern, ihre Bürgerinnen und Bürger vor Überwachung durch ausländische Geheimdienste zu schützen.
Wir haben Ende Juli den offenen Brief an Frau Merkel auf change.org und in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» veröffentlicht. Am 18. September sind wir ins Kanzleramt gegangen und haben den Brief mit gut 75 000  Unterschriften einer Vertreterin der Bundesregierung übergeben. Antwort haben wir keine bekommen. Das bedaure ich, habe es aber auch nicht anders erwartet. Mir gehts auch nicht darum, allein die Bundesbürger zu schützen, wir haben hier ein weltweites Problem, und zwar ein ganz grundsätzliches. Die Frage ist: Wie wollen wir zusammenleben im Kommunikationszeitalter? Da geht es nicht um Täter oder Opfer, Amerikaner oder Deutsche. Wenn wir den Vergleich ziehen zum Atomzeitalter: Man hat im 20. Jahrhundert irgendwann erkannt, dass es so nicht weitergehen kann mit der atomaren Aufrüstung. Es ging dann nicht mehr darum, wer aufrüstet und gegen wen, sondern darum, dass dies eine Gefahr für uns alle darstellt und man darum damit aufhören muss. Und das werden wir beim Thema «Datenschutz» auch feststellen. Politisch ist vieles noch nicht ausgefochten. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das geregelt wird – und zwar in unserem Sinn.

Glauben Sie, dass dieser Problematik mit Gesetzen beizukommen ist?
Ja. Wenn es tatsächlich so wäre, dass die Geheimdienste oder die USA machen könnten, was sie wollten, dann hätte das 20. Jahrhundert angesichts des Kalten Kriegs und der atomaren Bedrohung wahrlich anders geendet. Es ist Stammtischgerede, dass man Geheimdienste nicht regulieren kann. Das entspricht nicht der europäischen Realität. Was in den letzten zwanzig Jahren geschehen ist, war politisch gewollt. Da kann mir kein Politiker erzählen, er habe von nichts gewusst. Deutschland hat noch zahlreiche internationale Abkommen aus der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die den Amerikanern erlauben, uns auszuspähen. Und wie wir von Snowden wissen, war auch der deutsche Auslandsgeheimdienst daran beteiligt und hat davon profitiert. Die Verantwortlichen können nicht behaupten, man könne nichts dagegen machen. Sie haben es bisher nicht einmal versucht. Im Gegenteil: Ich befürchte, dass unsere Regierung mit den USA versuchen wird, ein Abkommen zu schliessen, dass sie sich gegenseitig nicht mehr bespitzeln, dafür ihre Geheimdienstaktivitäten koordinieren und gemeinsam gegen andere Länder vorgehen. Es fehlt der Politik schlicht der Wille, etwas zu verändern. Doch der Protest regt sich seit Monaten, und wir werden keine Ruhe geben, bis sie Stellung beziehen und etwas dagegen unternehmen.

Hinken die Gesetze der technischen Entwicklung nicht immer hinterher?
In Gesetzen muss nicht alles, was technisch möglich ist, genau benannt werden, um jeden einzelnen Angriff auf Privatsphäre und freie Kommunikation zu verbieten. Es gibt auch schon Gesetze, die genau das verbieten, was nun passiert. Nur werden sie auf viele der neuen Fälle nicht angewendet. Wir können auch nicht jede Form von Überwachung verbieten. Ich will den Ermittlungsbehörden nicht die Möglichkeit nehmen, ihre Arbeit zu machen. Aber unsere Gesellschaften dürfen nicht so aussehen, dass wir schlichtweg alles tun, um Verbrechen zu verhindern. Das sind keine Gesellschaften mehr, sondern Gefängnisse. Man muss unterscheiden zwischen Massenüberwachung und gezielter Verbrechensbekämpfung. Wir müssen einen Diskurs starten und darüber sprechen, was erlaubt ist und was nicht. Und dann finden wir auch eine juristische Formulierung, die das über lange Zeit abdecken kann. Das ist wirklich kein Problem. Das Recht ist so beschaffen, dass es sich jedem Fall anschmiegen kann. Und wenn es sich als unpraktikabel erweist, kann man es immer noch nachbessern.

Sprechen Sie von digitalen Grundrechten?
Ich bin der Meinung, dass man die geltenden Grundrechte auch im digitalen Bereich konsequent anwenden sollte. In Deutschland versucht das Verfassungsgericht seit Jahren, die Verfassung so auszulegen, dass auch im Kommunikationszeitalter der Grundrechtsschutz gewahrt wird. Sie machen ihre Arbeit gut, stossen aber an Grenzen, denn das Grundgesetz wurde lange vor der informationellen Revolution geschrieben. Man muss nun ernsthaft nachdenken, ob man nicht die Grundrechte oder die Menschenrechte anpassen und formulieren sollte, was der Schutzraum sein soll für die Bürger in diesem Kommunikationszeitalter. Das Internet stellt nicht eine andere Art von Realität dar, das ist keine «virtuelle» Realität. Es ist ganz normale Realität, und in dieser gelten die gleichen Rechte wie immer. Aber es fällt vielen schwer, das zu verstehen. Deswegen wäre es gut, entsprechende Rechte explizit auszuformulieren.

Und wie ist es mit der Überwachung durch private Firmen wie Facebook oder Google?
Genauso wie wir digitale Grundrechte brauchen, brauchen wir einen digitalen Verbraucherschutz. Auch die privaten Konzerne erstellen Profile, um zu errechnen, wie sich der Kunde als Nächstes verhält. Technisch macht das kaum einen Unterschied. Die Methoden, die jetzt von der NSA entwickelt werden, werden früher oder später auch in der Privatwirtschaft eingesetzt. Es geht dabei ebenfalls darum, die Zukunft vorauszusagen. Nur wollen sie nicht wissen, ob jemand eine Bombe bauen könnte, sondern ob man sich eine Handtasche oder ein Smartphone kaufen wird. Auch das geht zulasten der Privatsphäre des Einzelnen. Ich beziehe mich in meinem Engagement jedoch mehr auf staatliches Handeln, weil der Staat über viel grössere Kompetenzen verfügt. Amazon will mir ein Paar Stiefel verkaufen – der Staat holt mich im schlimmsten Fall zu Hause ab.

Juli Zeh

Die Juristin und Autorin Juli Zeh (39) hat zahlreiche Romane, Theaterstücke, Hörspiele und Essays verfasst. Für ihr Schaffen wurde sie mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Thomas-Mann-Preis 2013. Zusammen mit Ilija Trojanow veröffentlichte sie 2009 die Streitschrift «Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte» im Hanser-Verlag.

Zeh lebt in Brandenburg und schreibt zurzeit an einem neuen Roman, der jedoch nichts mit dem Thema «Überwachung» zu tun hat.