Halteplätze für Jenische, Sinti und Roma: Albtraum und leise Hoffnung

Nr. 19 –

In jüngster Zeit sind Jenische, Sinti und Roma mehrfach öffentlich für ihre Rechte eingetreten. In der Stadt Bern hat die Polizei mit Methoden, die Assoziationen an die Nazizeit wecken, auf die Besetzung eines öffentlichen Platzes reagiert. Doch die Aktionen zeigen erste Erfolge.

Was die Berner Behörden noch kürzlich für unmöglich erklärten, ist seit letztem Dienstag zu einem grossen Teil realisiert: Bis Ende August stellen die Städte Bern und Biel den Jenischen je ein Gelände zur Verfügung, wo insgesamt fünfzig Wohnwagen Platz finden. Schon vorher reagierte der Kanton Jura mit einem Platz für zwanzig Wagen. Definitive Plätze sollen dann folgen. Das sind Zwischenerfolge auf dem Weg zu angemessenen Plätzen für die Jenischen, ein Rechtsanspruch, den ihnen das Bundesgericht bereits vor elf Jahren beschied.

Ein erstes Zeichen setzte am 8. April eine Kundgebung auf dem Bundesplatz in Bern, als eine Delegation von Roma und Jenischen SP-Bundesrat Alain Berset einen Brief übermittelte. Sie fordern darin die volle kulturelle Anerkennung und Gleichberechtigung der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz unter Verzicht auf den Begriff «Fahrende». Denn der schliesse die sesshafte Mehrheit dieser ethnischen Gruppen aus und verwische ihre sprachliche und kulturelle Diversität.

Der Kessel auf der Kleinen Allmend

Am 22. April doppelte die letztes Jahr gegründete Bewegung der Schweizer Reisenden, die vor allem reisende Jenische, aber auch Sinti organisiert, mächtig nach. Rund hundert Gespanne von Zug- und Wohnwagen fuhren nach Bern, Ziel Bundeshaus. Die Polizei fing sie auf der Autobahn ab und geleitete den Konvoi auf die Kleine Allmend. Dieses Gelände ist weit grösser, als sein Name vermuten lässt. Das befreiende Gefühl, für einmal einen Platz einnehmen zu können, der für zahlreiche Familien reicht und der weder an eine Autobahn noch an eine Deponie grenzt wie die meisten der viel zu raren offiziellen Durchgangsplätze, hielt für die rund 400 Jenischen und Sinti nicht lange an. Berns CVP-Sicherheitsdirektor Reto Nause lehnte es am 23. April ab, die Wiese für fünfzehn Franken pro Tag und Wagen zu vermieten. Sie sei schon vermietet, als Parkplatz für die Frühlingsmesse BEA. Allerdings hätte das weite Gelände durchaus für alle Platz geboten.

Am nächsten Tag, morgens um halb sieben, rückte die Polizei mit Räumungsmaschinen an. Einige Zugfahrzeuge wurden abtransportiert. Eine Menschenkette von Frauen, Männern und Kindern stellte sich der Polizei entgegen. Über Mittag kam Hoffnung auf: SVP-Regierungsrat Christoph Neuhaus liess ausrichten, er sehe die Chance für einen Ausweichplatz und wolle dies persönlich mitteilen. Doch statt des Regierungsrats kam kurz vor 
16 Uhr ein Lautsprecherwagen der Polizei mit der Durchsage, die Allmend sei binnen zehn Minuten zu räumen. Eine logistische Unmöglichkeit, denn ein Teil der Zugfahrzeuge war ja schon entfernt worden. 

Nun wurden nicht die Wohnwagen, sondern ihre BewohnerInnen abtransportiert. Eine grosse Gruppe der friedlich Anwesenden – darunter Säuglinge, Kinder, Alte und Kranke – wurde von Polizei in Vollmontur eingekesselt. Aus dem Kessel kam nur heraus, wer sich einzeln polizeilich abführen liess.

Es folgte ein Prozedere, das vielen Jenischen und Sinti vorkam wie der Albtraum einer Wiederkehr früherer Verfolgungen: Alle, teilweise unter Trennung der Familien, wurden in Polizeiwagen gedrängt und in eine Turnhalle überführt. Dort wurden ihnen Handys, Ausweise und sonstige Effekten abgenommen. Sie wurden mit Filzstift auf Händen oder Unterarmen nummeriert. Kommentare der Internierten, dieses Prozedere erinnere sie an die Nazizeit, blieben nicht aus. Nach drei Stunden wurden die Inhaftierten auf die Kleine Allmend zurückgeführt – aber erst, nachdem alle eine Wegweisungsverfügung aus der Stadt Bern, geltend bis 5. Mai, unterzeichnet hatten. Es begann der Abzug, ohne Hinterlassung irgendwelchen Abfalls. 

Am nächsten Morgen fuhr der Konvoi nach Nidau auf ein Grundstück der Stadt Biel, ein ungenutztes ehemaliges Expogelände in Seenähe. Nach Durchbrechung einer Absperrung fanden die siebzig verbliebenen Wagen dort Platz. Nach einigem Hin und Her erlaubten die Behörden den Aufenthalt, wie angeboten für fünfzehn Franken pro Tag und Wagen. Weitere zwanzig Wagen zogen nach Porrentruy, wo der Kanton Jura ihnen eine Bleibe bot. 

Auf die politische Agenda gesetzt

Auch auf anderer Ebene kommt Bewegung in die Debatte: Die aufgeschreckten Zuständigen beim Bundesamt für Kultur haben angesichts der neuen Mobilisationskraft der Jenischen, aber auch der Sinti und Roma auf Mitte Mai Sitzungen mit verschiedenen Organisationen und VertreterInnen der genannten Gruppen einberufen. Die jüngsten Demonstrationen und Aktivitäten sind nicht zuletzt als Denkanstoss für die etablierten bisherigen Organisationen der Jenischen sowie die Bundesstiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» zu verstehen. 

Die volle Anerkennung der Volksgruppen der Jenischen, Sinti und Roma mit den damit verbundenen gleichberechtigten kulturellen, raumplanerischen und finanziellen Förderungsmassnahmen ist somit auf die politische Agenda gesetzt. Hinzu kommen eine von SVP-Nationalrätin Yvette Estermann eingereichte Interpellation, die sich allerdings nur auf die Jenischen bezieht, sowie ein Postulat der Nationalrätinnen Aline Trede (Grüne) und Silva Semadeni (SP), das die Schaffung einer nationalen Taskforce fordert, die die Rechtsansprüche der Jenischen, Sinti und Roma umsetzen soll.

Der Zürcher Historiker Thomas Huonker beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Jenischen, Sinti und Roma. Ein Filmmitschnitt von der Protestdemonstration am 22. April in Bern ist auf Youtube (Kanal Thomas Huonker) zu finden.