Venezuela: Der Fluch der Petrodollars

Nr. 5 –

Die Abhängigkeit vom Erdöl hat Venezuela in einen Teufelskreis aus Inflation, Spekulation, Korruption und Ineffizienz getrieben. Noch schreckt Präsident Nicolás Maduro vor einem radikalen Richtungswechsel zurück.

Schon die ersten Augenblicke im Land zeigen das ganze Ausmass der Krise: Wer nicht illegal bei Taxifahrern sein Geld tauschen will und in eine staatliche Wechselstube geht, ist mit einer tragikomischen Situation konfrontiert. Da sitzen drei Angestellte hinter Panzerglas und warten auf das Ende ihrer Schicht. 20 US-Dollar sollen sie wechseln, aber seit die bolivarische Regierung Finanzspekulation und Kapitalflucht mithilfe von Umtauschbeschränkungen zu bekämpfen versucht, sind selbst solche Kleingeschäfte stark reglementiert. Der Geldwechsel darf nur mit Ausweispapieren vollzogen werden.

Die jüngste der drei Angestellten, die den Pass entgegennimmt, hat die Arbeit wohl noch nicht oft gemacht. Vielleicht will sie einem aber auch nur die Möglichkeit geben, es sich noch einmal anders zu überlegen. Geschlagene fünfzehn Minuten braucht sie, um Namen und Passnummer in ihr System einzutragen. Dann endlich händigt sie die Landeswährung aus: etwa 120 Bolívares – gerade genug, um zwei winzige Milchkaffees im Plastikbecher zu trinken.

Hier in der Wechselstube sind Venezuelas Probleme verdichtet. Der offizielle Dollarkurs liegt bei 6,3 Bolívares, auf dem Schwarzmarkt jedoch werden 175 gezahlt; dazwischen gibt es noch weitere zwei offizielle Umtauschkurse: Nach dem einen bekommt man 12, nach dem anderen 50 Bolívares für einen Dollar. Da sich die Preise für Konsumgüter am Schwarzmarktkurs orientieren, ist das Monatsgehalt eines mittleren Angestellten auf 50 bis 60 Dollar abgestürzt.

Zwar hat der Staat Millionen von VenezolanerInnen in Brot und Lohn gebracht, aber er ist darüber noch ineffizienter geworden. Die öffentliche Verwaltung funktioniert in der Regel noch träger als die Wechselstube. Das liegt auch daran, dass die meisten VenezolanerInnen nicht von ihrer Arbeit leben, sondern von allerlei Parallelgeschäften: Devisenhandel, Spekulation oder Verkauf von Waren, die der Preiskontrolle unterworfen und dementsprechend knapp sind – darunter viele Produkte des alltäglichen Gebrauchs: Trinkwasser, Klopapier, Seife. Nicht zuletzt sind auch die Mieten explodiert. Die Krise ist allgegenwärtig.

Vorbildhafte Sozialpolitik

Dabei ist es keineswegs so, dass sich in den letzten Jahren in Venezuela nichts zum Positiven verändert hätte. In Caracas stechen die Unterschiede zu anderen lateinamerikanischen Grossstädten, aber auch zu den Metropolen der Industriestaaten ins Auge. Es gibt – anders als in Bogotá, Berlin oder New York – kaum Strassenarmut. Die Innenstadtviertel sind saniert, ohne dass eine Verdrängung der sozial Schwächeren stattgefunden hätte. Gerade die ärmsten Caraqueños nutzen die neu eröffneten staatlichen Kinos und Kultureinrichtungen im Zentrum. Der öffentliche Nahverkehr wurde stark ausgebaut, neue Bus- und Zuglinien verbinden Caracas mit den Vororten, an den Hängen gelegene Armenviertel sind mit Seilbahnen ans Verkehrsnetz angeschlossen worden. Die Metro ist zwar den ganzen Tag heillos überfüllt, dafür aber praktisch kostenlos.

In den grossen Medien wird nur selten darüber geschrieben, tatsächlich aber ist die Sozialpolitik Venezuelas in vieler Hinsicht vorbildhaft. In einer Gesellschaft, in der in den neunziger Jahren drei Viertel der Bevölkerung unter extrem prekären Bedingungen lebten und arbeiteten, garantiert der Staat heute die materielle Grundversorgung. Nahrungsmittel werden in Supermärkten oder von Lastwagen der staatlichen Ernährungsprogramme herunter zu Niedrigpreisen verkauft. 600 000 Sozialwohnungen sind gebaut worden. Und auch wenn in den öffentlichen Krankenhäusern oft vieles fehlt, die Erstversorgung in den Armenvierteln funktioniert tadellos. Das Problem Venezuelas ist ein anderes: Die Wirtschaftsstruktur des Landes ist weitgehend die alte geblieben.

Ein Jahr im Zoll blockiert

«Es wird einfach nicht produziert.» Alberto Torres, ein Revolutionär der ersten Stunde, arbeitet seit fünfzehn Jahren im Agrarministerium, wo er den Aufbau von Genossenschaften begleitet und die einheimische Lebensmittelproduktion anzukurbeln versucht. Nach mehr als einem Jahrzehnt linker Politik fällt seine Bilanz ernüchternd aus.

Ein Beispiel: «Wir haben in den letzten zwölf Monaten versucht, eine Gemüsefarm ausserhalb von Caracas aufzubauen. Die Gewächshäuser haben wir importiert, das Ministerium hat fünfzig Arbeiter angestellt.» Der 55-jährige Torres muss lachen, als er die Geschichte erzählt. «Die Anlage ist ein Jahr beim Zoll liegen geblieben. Wir haben die Arbeiter fürs Nichtstun bezahlt. Die hatten im Übrigen auch gar keine Lust zu arbeiten.» Der Zoll habe die Anlagen einfach nicht herausgerückt – obwohl es sich um ein Staatsprojekt handelte. «Wenn wir von einem Privatkonzern gewesen wären, hätten wir die Gewächshäuser sofort bekommen. Wir hätten einfach Schmiergeld bezahlt.»

Die venezolanische Regierung erklärt solche Vorfälle mit Sabotage und Konspiration. Doch für Torres greift das viel zu kurz: «Natürlich gibt es so etwas wie einen Wirtschaftskrieg, und natürlich wollen die USA die Regierung mit allen Mitteln stürzen», sagt er. Aber die Hauptgründe der Krise seien andere. Dass so viele Grundprodukte, die der Preiskontrolle unterliegen, nicht im Supermarkt zu haben sind, habe einen ganz simplen Grund: «Mit ihnen lässt sich auf dem Schwarzmarkt sehr viel Geld verdienen.»

Noch deutlicher sei der Zusammenhang beim Benzinschmuggel. «In den Grenzgebieten zu Kolumbien mischen alle mit: Rechte, Chavisten, kolumbianische Guerilleros, die Drogenmafia, Bauern. Ganz einfach, weil die Gewinnmargen unvorstellbar hoch sind. Ein Liter Benzin kostet in Kolumbien 200-mal so viel wie in Venezuela.»

Das Modell ist am Ende

Torres macht dafür nicht den inzwischen wenig beliebten Präsidenten Nicolás Maduro verantwortlich (laut Umfragen finden ihn noch 22 Prozent der Bevölkerung gut). Das Problem habe mit der ökonomischen Struktur des Erdölstaats zu tun. «Hundert Jahre Petrodollars haben uns daran gewöhnt, dass es sich besser leben lässt, wenn man im Staat einen Posten ergattert oder Konsumgüter importiert, als produktiv zu arbeiten.» Die Geschichte von der Anlage für Gewächshäuser im Zoll sei da ein Ausdruck davon. «Es ist den Leuten einfach egal.»

Die linke Sozialpolitik hat die strukturellen Probleme der venezolanischen Wirtschaft sogar noch verschärft. In fünfzehn Jahren Chavismo wurde die unproduktive, konsumorientierte Rohstoffökonomie demokratisiert. Zwar haben korrupte Seilschaften auch im vergangenen Jahrzehnt Milliardenbeträge auf Privatkonten geschafft, insgesamt aber wurden die Einnahmen besser verteilt. Ermöglicht wurde das nicht nur durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern auch durch den Aufbau staatlicher Banken, die bei der Zuteilung von Krediten grosszügiger sind als Privatbanken. Die hohe Inflation – heute je nach Quelle zwischen vierzig und siebzig Prozent – ist nicht einfach das Resultat einer verfehlten Wirtschaftspolitik, sondern auch einer besseren Verteilung des Reichtums. Die Preise steigen so rasant, weil mehr Menschen am Konsum teilhaben können.

Doch dieses Modell wird das Jahr 2015 kaum überleben. Der Konsumrausch wurde fast ausschliesslich mit Einnahmen aus dem Erdölexport finanziert, Venezuela ist ein Rentenstaat. Nun ist der Ölpreis von 140 Dollar pro Fass im Jahr 2008 auf unter 50 Dollar gefallen. Die Regierung muss einen radikalen Kurswechsel vollziehen, hat dabei aber das Problem, dass sie dafür Treibstoffsubventionen streichen und den Bolívar abwerten müsste. Beides gilt in Venezuela als Inbegriff neoliberaler Politik, mit der Hugo Chávez Schluss gemacht hat.

Mehr Eigenverantwortung

Elías Jaua, Minister für kommunale Angelegenheiten und einer der wichtigsten Männer in der Staatsführung, hat die Herausforderung in einem Papier Mitte Januar deutlich benannt: «Der Rentismus zieht nicht nur eine Abhängigkeit vom Öl und dem Weltmarktpreis nach sich, sondern auch eine Kultur, in der unablässig um die Ölrente gekämpft wird. Und das wiederum führt zu einer Spekulationskultur, die sich wie Gift im kapitalistischen System Venezuelas ausbreitet.»

Jaua und wohl auch Präsident Maduro haben durchaus eine Vorstellung davon, in welche Richtung es gehen müsste: Mit der Unterstützung des von Jaua geleiteten Ministeriums sind in den vergangenen Jahren beeindruckende Selbsthilfeprojekte entstanden. BewohnerInnen von Armenvierteln haben im ganzen Land Hunderte von selbstverwalteten Wohnkomplexen geschaffen. Die neuen Siedlungen liegen teilweise in den besten Wohngegenden von Caracas: Auf illegal besetzten Brachflächen haben Stadtteilbewegungen neue Wohnblöcke für bis zu tausend BewohnerInnen errichtet. Das Bemerkenswerte daran ist, dass die BewohnerInnen ihre Projekte selbst geplant und umgesetzt haben. Die Rolle des Staats hat sich darauf beschränkt, Geld für die Materialien zu geben. Auf diese Weise hat man deutlich preisgünstiger gebaut als im staatlichen Wohnungsbau üblich. Vor allem aber sind echte Gemeinschaftsstrukturen entstanden – jene «Volksmacht», von der im Land so viel die Rede ist.

Zu solchen Formen demokratisch-solidarischer Eigenverantwortung müsse Venezuela kommen, wolle man aus dem Teufelskreis von Ölreichtum, Korruption, Ineffizienz und Weltmarktabhängigkeit ausbrechen. «Wenn wir nicht in den neoliberalen Albtraum zurückfallen wollen, aus dem wir 1998 erwacht sind, müssen wir unseren Kurs korrigieren», schreibt Jaua. «Aber nicht nur die bolivarische Regierung, sondern die ganze Gesellschaft.»

Ob dieser Politikwechsel noch möglich ist, steht in den Sternen. Der chavistische Apparat ist in den Augen der Bevölkerung gründlich diskreditiert, und die rechte Opposition, die bereits Anfang 2014 bewiesen hat, dass sie vor bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen nicht zurückschreckt, sitzt bereits in den Startlöchern: Oppositionsführer Henrique Capriles hat zu Protesten aufgerufen, die Ultrarechte setzt weiterhin auf einen gewaltsamen Sturz des Chavismus. Eine fast aussichtslose Lage für das erste antineoliberale Projekt des neuen Jahrhunderts.

Linderung aus China

Die Wirtschaftslage Venezuelas hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch zugespitzt. Verschiedene Ratingagenturen haben venezolanische Staatsanleihen auf Ramschniveau herabgestuft, grosse Fonds spekulieren auf die Zahlungsunfähigkeit des südamerikanischen Landes. Auf dem Schwarzmarkt hat sich der Kurs des US-Dollars in sechs Wochen verdoppelt, das staatliche Haushaltsdefizit liegt mit geschätzten fünfzehn bis achtzehn Prozent extrem hoch.

Venezuela versucht, sich durch eine stärkere Anbindung an China zu retten. Anfang Januar unterzeichnete die Regierung Kooperationsverträge in Höhe von zwanzig Milliarden US-Dollar. Doch diese Vereinbarungen, mit denen sich China langfristigen Zugang zum venezolanischen Öl sichert, werden kaum reichen, um die Krise zu bewältigen.