Vor 110 Jahren: Dem Staat ins Gesicht gespuckt

Nr. 41 –

Im Oktober 1905 führten englische Suffragetten ihre erste direkte Aktion durch. Die Bewegung war ebenso radikal wie innovativ.

Vorerst hielten sich die beiden Frauen im Hintergrund. Am Abend des 13. Oktober 1905 debattierte die Liberale Partei an einer öffentlichen Versammlung in London, wie die Liberalen wieder an die Macht gelangen könnten. Da traten Christabel Pankhurst und Annie Kenney aus dem Halbschatten und fragten laut in die Männerrunde, ob denn eine liberale Regierung den Frauen das Stimmrecht gewähren werde. Die Herren auf dem Podium gaben ihnen keine Antwort, worauf die beiden ein Transparent entrollten, auf dem das Frauenstimmrecht gefordert wurde. Prompt wurden sie aus dem Saal gedrängt. Draussen kam es zum Handgemenge. Ein Polizist sagte aus, dass ihm Christabel Pankhurst ins Gesicht gespuckt und ihn geschlagen habe. Pankhurst und Kenney wurden wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses zu Geldstrafen verurteilt. Als sie sich weigerten, die Busse zu bezahlen, wurden sie in Haft gesetzt: die ersten Frauen, die wegen des Kampfs um ihre bürgerlichen Rechte im Gefängnis sassen. Die Tatsache radikalisierte die Bewegung. Bald sollten die ersten Fensterscheiben klirren.

In den britischen SiedlerInnenkolonien Neuseeland und Südaustralien hatten die Frauen 1893 beziehungsweise 1895 das Wahlrecht errungen. Im Mutterland blieb es ihnen verwehrt. 1903 gründete Emmeline Pankhurst mit Unterstützung ihrer Töchter Christabel und Sylvia die Women’s Social and Political Union (WSPU). Sozial gut situiert und gebildet, verlangte eine neue Generation von Frauen Mitsprache in der politischen Sphäre.

1906 nannte die «Daily Mail» «diese Weiber» verächtlich «suffragettes» (von «suffrage»: Wahlrecht), was die Bewegung zum positiven Kampfbegriff umfunktionierte. Gezielt bediente sie sich der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Medien. Die Bewegungsfarben Violett, Weiss und Grün wurden zur Bildung einer Corporate Identity eingesetzt. Es gab Ansteckknöpfe, Fahnen, Gesellschaftsspiele, Geschirr, Kleider und sogar WSPU-Schmuck.

Auf die erste Inhaftierung folgten grosse Demonstrationen vor Parlament und Regierungssitz. Regelmässig kam es zu Gerangel mit der Polizei und zu Verhaftungen. Darauf steigerten sich die Formen des direkten Widerstands. Im Oktober 1908 kettete sich Muriel Matters im Parlament auf der Besucherinnentribüne an, im Juni 1909 trat die verhaftete Marion Wallace Dunlop in einen Hungerstreik, um die Anerkennung als politische Gefangene zu erreichen. Der Staat reagierte mit Zwangsernährung.

Nachdem 1910 ein Gesetzesentwurf für das Frauenstimmrecht abgelehnt worden war, gingen Fensterscheiben an öffentlichen Gebäuden zu Bruch. Im März 1912 zogen 150 Frauen mit Hämmern durch Londoner Einkaufsstrassen und schlugen Schaufenster ein. 1913 kam es zu vereinzelten Brandstiftungen. Und Emily Wilding Davison wurde zur Märtyrerin, als sie im Juni bei einer Protestaktion am Epsom Derby vom Rennpferd König Georgs V. tödlich verletzt wurde.

In der Folge spaltete sich die Bewegung, verkörpert in den Schwestern Christabel Pankhurst (1880–1958) und Sylvia Pankhurst (1882–1960). Christabels Radikalisierung der Mittel ging mit einer Verengung der Inhalte auf eine formale Gleichstellung einher. Sylvia lehnte hingegen Formen wie Brandstiftungen ab, suchte dafür die Verbindung mit der Arbeiterbewegung, um politische und soziale Bürgerinnenrechte zu verknüpfen.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs sistierte die WSPU die Agitation fürs Frauenstimmrecht und unterstützte die britischen Kriegsanstrengungen. Sylvia Pankhurst wandte sich indessen gegen die Kriegsführung und organisierte für die Frauen zwangsrekrutierter Arbeiter Beratung und Hilfe. Zunehmend wurde sie in der jungen kommunistischen Bewegung aktiv. In den dreissiger Jahren konzentrierte sie sich auf den antikolonialistischen Kampf, insbesondere den Äthiopiens, und zog 1956 nach Addis Abeba, wo sie verstarb. Christabel hingegen zog in die USA, mutierte zur Evangelikanerin und wurde zur begehrten Talkshowrednerin.

In England war den Frauen unterdessen 1918 ein eingeschränktes und 1928 das allgemeine Stimm- und Wahlrecht zugestanden worden.