Widerstandskunst: Gewaltlos auf die Barrikaden

Nr. 48 –

Poetische Gegenwelten zu den vergangenen Gewaltregimes in Lateinamerika: Eine sehenswerte neue Ausstellung im Migros-Museum feiert künstlerische Schmuggelstrategien gegen Repression und Überwachung.

Ein Tempel aus verbotenen Büchern: Marta Minujíns Projekt «El partenón de libros» 1983 in Buenos Aires. © Marta MinujÍn, Henrique Faria Fine Art, New York, Buenos Aires

Nackte Füsse, die sich auf der Strasse zwischen vielen rohen Eiern hindurchtasten. Ein griechischer Tempel, gebaut aus Tausenden von einst verbotenen Büchern. Eine Salzbüste, die sich langsam im Wasserbad auflöst. Oder auch eine Frau, die sich Zunge und Nase mit einer Schere abzuschneiden scheint. Mit solchen ästhetischen Strategien bekämpften KünstlerInnen die scheinbare Allmacht von diktatorischen Regimes in Lateinamerika.

Was kann Kunst gegen brutale Diktatorengewalt ausrichten, die nicht nur den öffentlichen Raum kontrolliert, sondern auch in jeden privaten Winkel vordringt? Und wie findet diese Kunst trotz Überwachung und Repression eine Öffentlichkeit und Verbreitung? Die neue Gruppenausstellung «Resistance Performed» im Zürcher Migros-Museum erkundet dies am Beispiel lateinamerikanischer Widerstandskunst aus knapp fünf Jahrzehnten – und zeigt, dass künstlerischer Widerstand ganz unterschiedliche Gestalten annehmen kann.

Die Kuratorin Heike Munder und ihr Team haben in einer zweijährigen Recherche zahlreiche Werke aus Paraguay, Brasilien, Bolivien, Chile, Uruguay und Argentinien zusammengetragen, die entweder unter den Militärdiktaturen entstanden oder diese Regimes und ihre Versehrungen aus heutiger Sicht reflektieren. Dabei bietet die Ausstellung bewusst keinen historisch-politischen Überblick zu diesen Gewaltherrschaften, die oft von den USA mitfinanziert und unterstützt worden waren, weil man rechtmässige linke Regierungen stürzen oder verhindern wollte. «Resistance Performed» macht diese Geschichte konsequent im Spiegel künstlerischer Interventionen sichtbar.

Am eigenen Fleisch

Was beim Blick in diesen Spiegel vor allem auffällt, sind der Erfindungsreichtum in der Wahl der subversiven Strategien und der hohe Stellenwert, der dabei dem Körper der KünstlerInnen zukommt. Der eigene Leib wird zum letzten Rückzugsort künstlerischer Selbstbehauptung – und gleichzeitig zum Schlachtfeld und Ausstellungsort. Die herrschende Gewalt wird symbolisch am eigenen Fleisch durchgespielt: wie in Lenora de Barros’ fotografisch dokumentierter Performance, in der die Brasilianerin ihre Zunge mit einer eigenartigen Mischung aus sinnlicher Annäherung und verzweifeltem Protest zwischen den Metallzähnen einer mechanischen Schreibmaschine verhakt.

In militärisch dominierten Gesellschaften, die gern den gestählten männlichen Soldatenkörper feiern, ist jede Sexualität verdächtig, die nicht innerhalb der klassischen Familie ruhiggestellt ist – nicht zuletzt die ungebundene Sinnlichkeit des weiblichen Körpers. So mutiert der chilenische Nationaltanz Cueca, der vom männlichen Künstlerduo Yeguas del Apocalipsis halb nackt auf einer mit Glasscherben bestreuten Landkarte Lateinamerikas aufgeführt wird, erst recht zum Akt des Widerstands.

Die benutzten Medien, Materialien und Symbole sind in der Regel einfach. Viele dieser Kunstwerke und Performances konnten hinter verschlossenen Türen mit alltäglichen Mitteln hergestellt, inszeniert und notfalls auch versteckt werden. Gleichzeitig verweigerte man sich einer kommerziellen Vermarktung und Präsentation. Die KünstlerInnen kämpften nicht nur gegen Diktatoren – was für sie lebensgefährlich sein konnte –, sondern lehnten auch das internationale Galeriensystem und den Kult um das Künstlergenie ab.

Anarchie mit Zellophan

Oft wurde im Kollektiv gearbeitet, und zur Verbreitung und Ausstellung nutzte man alltägliche öffentliche Kanäle und Räume. So auch im «Mail Art»-Projekt der argentinischen Künstlerin Graciela Gutiérrez Marx: Sie zerschnitt ein Kleid ihrer Mutter und schickte die Stoffstücke in die Welt hinaus. Schliesslich nähte sie die wie gewünscht retournierten Fetzen in einem symbolischen Akt wieder zusammen. Der Brasilianer Cildo Meireles druckte politische Parolen auf Banknoten und Coca-Cola-Mehrwegflaschen und brachte sie als Schmuggelware in Umlauf: «Yankee, go home!» Eindrücklich ist auch, wie das brasilianische Kollektiv 3Nós3 ganz einfach mit farbigen Zellophanbändern den Grossstadtverkehr kurzzeitig zum Erliegen brachte, weil die Leute zu eingeschüchtert waren, um weiterzufahren.

Das Ziel hinter all diesen «poetischen Barrikaden» (wie sie der argentinische Kunstprofessor Rodrigo Alonso in seinem Katalogtext nennt) war der Aufbau einer starken ästhetischen und politischen Gegenwelt: einer gewaltlosen, aber fantasiegewaltigen Alternative zur traumlos grauen Diktatur. Zeitgenössische KünstlerInnen wiederum kämpfen heute gegen das Verblassen der Erinnerung an diese nur wenige Jahrzehnte zurückliegenden Unrechtsregimes. In der Arbeit «Aquí viven genocidas» der argentinischen Künstlergruppe GAC weisen ganz offiziell aussehende Strassenschilder den Weg zu vergangenen Schandtaten.

Wer sich die Ausstellung «Resistance Performed» mitten im reichen Zürich anschaut, kommt unweigerlich auf Gedanken, die mit dem Hier und Heute zu tun haben. Wie steht es denn gerade jetzt, im Vorlauf zur Adventszeit, um unseren vermeintlich freien, aber komplett kapitalistisch durchnormierten Körper und öffentlichen Raum? Und was wären künstlerische Strategien des Widerstands gegen diesen omnipräsenten Kult um den Konsum?

«Resistance Performed – Aesthetic Strategies under Repressive Regimes in Latin America» in Zürich, Migros Museum für Gegenwartskunst, bis 7. Februar 2016. Der Katalog (englisch) ist bei JRP Ringier erschienen und kostet 58 Franken.