Christentum und Marxismus: Knie nieder, bewege die Lippen wie zum Gebet, und du glaubst

Nr. 52 –

Marxismus und Kapitalismus haben mehr mit Religion zu tun, als viele Linke meinen. Auch deshalb muss sich die Kritik an der Religion nach der alltäglichen Praxis richten.

Illustration: Franziska Meyer

Religion ist das grosse Tabu für viele Linke. Persönlicher Glaube wird heute nachsichtig als Privatsache akzeptiert; Religion dagegen scheint indiskutabel.

Dabei ist, schrieb der junge Karl Marx 1844, die Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik. An der Religion führte für ihn kein Weg vorbei, und die Kritik an ihr bedeutete doch nur den Ausgangspunkt für den Weg in die selbstbestimmte Mündigkeit. Mit biblischer Wucht beschrieb er in rhetorischen Gegensatzpaaren, welche jenseitigen Welten die Religion beschwor und welche diesseitigen Welten sie damit den Menschen verwehrte. Darin steckte auch jener Satz, der schon beinahe zum Gemeinplatz geworden ist: «Die Religion ist das Opium für das Volk.»

Oder eben nicht. Gemeinplätze täuschen zuweilen, und dieser hier stammt von Wladimir Iljitsch Lenin, der Marx umgeschrieben hat. Bei Marx heisst es «Religion ist das Opium des Volkes», und in der Variante tun sich ein theoretisches Forschungsprogramm und eine politische Kluft auf. Die Wirkung des Opiums ist in beiden Versionen dieselbe – Betäubung, Berauschung –, doch der Vorgang ist ein anderer. Dem Volk wird das Opium bei Marx nicht von oben verabreicht, sondern es gehört diesem zu, womöglich eigenständig. Religion ist nicht (nur) Priestertrug, sondern (auch) selbsttätige Einordnung. Darin entwickelt sich eine weitere Dialektik: Opium kann nicht nur als Sedativ wirken, sondern auch den Entzug der Arbeitskraft bedeuten. Religionskritik muss also differenziert und genau sein.

Eine religiöse Erscheinung

Dabei bleibt die religiöse Zuarbeitung zum wirtschaftlich herrschenden System im Zentrum der Religionskritik. Max Weber erklärte 1904 die protestantische Ethik zum Geist des Kapitalismus – Arbeitsfleiss und Sparsamkeit als Mittel zur Kapitalakkumulation. Das eröffnete sozialpsychologisch ein neues Feld, obwohl die These in ökonomischer Hinsicht mittlerweile differenziert wurde.

Einen Sprung weiter machte Walter Benjamin in einem kurzen Fragment von 1921, in dem er «Kapitalismus als Religion» skizzierte und ihn nicht bloss von der Religion geprägt, sondern als «eine essentiell religiöse Erscheinung» sah. Die kapitalistische Wirtschaft treibe die Religion auf die Spitze und verkehre sie zugleich. Anders als im Christentum erfahre die Schuld, die Verschuldung hier keine Entsühnung, sondern peitsche die Menschen schrankenlos, endlos vor sich her.

Schuld und Sühne

Im Zeichen der Verschuldungskrisen der letzten Jahrzehnte gewann dieser Gedanke vordergründig an Plausibilität. Im ökonomischen Schuldenverhältnis steckt der Gläubige ja, schon im Wortsinn, mittendrin. Jeder Kredit setzt einen Glauben voraus, dass der Schuldschein künftig einmal eingelöst wird. Der Banker erteilt die Absolution, wenn die Schuld getilgt wird. So wirken die Banken als neue Kirchen; auch architektonisch ragen sie in den Himmel wie einst die Kathedralen. Der Theologe Ton Veerkamp identifiziert in der unsichtbaren, angeblich allmächtigen Hand des Markts den «Gott der Liberalen» (2005). Selbst David Graebers anarchoanthropologischer Bestseller «Schulden. Die ersten 5000 Jahre» (2011) zehrt von der Faszination, die Menschheitsgeschichte analytisch-kritisch auf einen göttlichen Punkt zu bringen.

Dabei begleitete die Kritik an der Geldherrschaft die jüdisch-christliche Überlieferung von Beginn an: im Tanz ums Goldene Kalb oder bei der Vertreibung der Geldwechsler aus dem Tempel. Die dritte monotheistische Religion, der Islam, müht sich gar mit einem generellen Zinsverbot ab. Mit der Entschuldungsforderung der Drittweltbewegungen wurde in den letzten Jahrzehnten konkret auf eine jüdische Tradition zurückgegriffen: auf das Erlassjahr, in dem nach sieben mal sieben Jahren alle Schulden erlassen wurden.

Zuweilen kommt es zu unerwarteten Konjunkturen. Der französische Philosoph Alain Badiou, der unbeugsam die Idee des Kommunismus rekonstruieren will und sich als Atheist versteht, hat etliche Sympathien für Paulus, der einen universalen, menschheitsgeschichtlichen Wahrheitsbegriff begründet habe. «Religionen», hat Badiou soeben in den «Neuen Wegen», dem Organ des religiösen Sozialismus, erklärt, «sind notwendige Darstellungen in Bildern und Fabeln, die sich die Menschheit von ihrem Schicksal macht und von den Konsequenzen, die der Einzelne daraus ziehen soll. Die Religion ist kein willkürlicher oder falscher ideologischer Zusatz.»

Auch Karl Marx hat in seinen ökonomischen Schriften gelegentlich religiöse Konzepte zur Beschreibung des Kapitalismus aufgegriffen. So, wenn er Geld und Kapital einen Fetischcharakter zuschreibt, geheimnisvolle, undurchschaute Eigenschaften, etwa die, dass Geld Geld gebiert. In ihrer Erscheinungsform, so zeigt Marx, wird verhimmelt, was sich genetisch vollzogen hat: dass in einem Produkt die es produzierende menschliche Arbeit verschwindet. Aber der Vergleich hat einen präzisen Sinn. Und er bezeichnet eine reale Tatsache: Geld und Kapital wirken hinter unserem Rücken. Der Fetisch entsteht nicht bloss durch betrügerische Priester, die uns etwas einreden wollen.

Tatsächlich haben Parallelen einen beschränkten Erkenntniswert. Walter Benjamin zum Beispiel übertrieb mit dem bloss verschuldenden Kapitalismus. Der kennt durchaus die Entsühnung, nämlich in der Krise, in der das sündige Kapital vernichtet wird. Die dabei angerichteten Verwüstungen können dann wieder durchaus herkömmlich religiös gerechtfertigt werden. Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun spricht in ihrer breit angelegten Kulturgeschichte «Der Preis des Geldes» (2012) deshalb präziser von einer «Etablierung der Religion in der monetären Sphäre». Die entwickelt sich dann weiter, so wie der Kapitalismus eigene Zwangsmechanismen errichtet hat, die über diejenigen der Religion hinausgehen.

Effekte der Praxis

Es gibt auch das Umgekehrte: die Religionsförmigkeit des Politischen. Die marxistische Tradition ist da inniger an das Christentum gebunden, als ihr lieb sein kann. Das beginnt mit den Ikonen der Arbeiterbewegung oder mit dem bärtigen Alten aus Trier als neuem Heilsbringer. Solche verächtlichen Zuschreibungen von rechts treffen doch Strukturähnlichkeiten. Das Sektierertum, die Unterwerfung sind in Personenkult und Schauprozessen mörderisch geworden, und selbstmörderisch.

Bereits die notwendig antireligiösen Jakobiner erkannten während der Französischen Revolution das Dilemma, ihren AnhängerInnen einen Ersatz für die Religion bieten zu müssen. Also etablierten sie den Kult der Vernunft; und die neue säkulare Demokratie sollte in Wahlversammlungen und öffentlichen Festen sinnlich erfahrbar werden. Auch Georg Büchner wusste 1835, dass materielles Elend und religiöser Fanatismus zwei mächtige Hebel sind. «Unsre Zeit braucht Eisen und Brod – und dann ein Kreuz oder sonst so was.» Das Kreuz ist Ablenkung, Verschleierung, Opium, aber es bietet auch eine konkrete Lebensform für unser Jammertal, in Ritualen und praktischen Handlungen.

Louis Althusser hat in seiner Ideologiekritik im Anschluss an Blaise Pascal die Formel entwickelt: Knie nieder und bewege die Lippen wie zum Gebet, und du wirst glauben. Der Glaube ist nicht Ursache für unser Handeln, sondern der Effekt einer bestimmten Praxis. Die er dann wiederum verfestigt.

Was ihn weder richtig noch falsch macht. Aber wirksam. Wer den Glauben kritisieren will, muss ihm auf die alltägliche Praxis rücken.