Ahmad Mansour: Zwischen den Extremen

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Als Jugendlicher war Ahmad Mansour selbst in die Fänge radikaler Islamisten geraten. Heute berät er Familien ebenso wie Jugendarbeiter und Pädagoginnen, wie sie gefährdete Jugendliche vom Weg des Dschihad abbringen können.

Warum ziehen junge Menschen aus Europa für den IS in den Krieg? Ahmad Mansour betreibt «psychologische Archäologie», um die Gründe dafür zu finden. Foto: Heike Steinweg

Wenn besorgte Eltern von radikalisierten Jugendlichen sich bei Ahmad Mansour melden, ist es oft schon fast zu spät. Manche wenden sich erst an ihn, wenn ihr Kind bereits die Koffer gepackt hat, um nach Syrien oder in den Irak zu reisen. In solchen Fällen muss sich Mansour sofort ein Bild von der Situation machen. Wie argumentieren die Jugendlichen? Welcher Gruppe gehören sie an? Wer sind ihre Vorbilder? Auf dieser Basis berät er dann die Eltern, wie sie mit ihrem Kind wieder das Gespräch suchen können. Falls nötig, wird eine vertraute Person beigezogen – eine Cousine etwa oder der Arbeitgeber. Nichts bleibt unversucht, um Jugendliche zu überzeugen, freiwillig von einer Ausreise abzusehen.

Ahmad Mansour kennt die Dynamik der Radikalisierung, er hat sie einst selbst mitgemacht. Geboren wurde er vor 39 Jahren in Tira, einem arabischen Dorf in Israel. Trotz der Nähe zur liberalen Stadt Tel Aviv war seine Welt eine ganz andere – geprägt von patriarchalen Strukturen, Unterdrückung und einer Pädagogik der Angst. Es gab aber auch schöne familiäre Momente.

Ein langer Prozess

Als Kind war Mansour ein Aussenseiter. Er hatte keine Freunde und kaum Kontakt zu Mädchen. Dafür war er ein ehrgeiziger und neugieriger Schüler, der aber spürte, dass niemand an ihn glaubte. Mit dreizehn Jahren lud ihn der örtliche Imam – ein Mitglied der Muslimbrüder – zum Religionsunterricht in die Moschee ein. Was am Anfang noch wie ein gewöhnlicher Koranunterricht wirkte, in dem Suren und Hocharabisch gelehrt wurden, nahm rasch einen politischen Charakter an. Plötzlich ging es um die Befreiung Palästinas, man träumte von der Islamisierung Europas, vom Sieg der Umma, der Gemeinschaft gläubiger Muslime. Alle anderen bezeichnete man als Teufel. Auch Frauen – angeblich die Ursache vieler Sünden – wurden zum Feind erklärt.

Für den jungen Mansour war diese Zeit «grossartig» – zum ersten Mal fühlte er sich aufgenommen. Er hatte Freunde und verstand sich als Teil einer Elite. Damit stieg auch sein Selbstvertrauen. Er wurde zum Klassensprecher gewählt und glaubte sich berechtigt, Mädchen in der Schule darauf hinzuweisen, dass sie Kopftücher tragen sollten. Schon damals erkannte er die Regel: Je fanatischer jemand auftrat, desto mehr Anerkennung erhielt er.

Seine eigene Deradikalisierung beschreibt Ahmad Mansour als langen Prozess. Es begann nach dem Abitur, mit den ersten Schritten als Erwachsener, die er ausserhalb von Tira machen konnte. Er entschloss sich, Psychologie an der Universität von Tel Aviv zu studieren, und zog in ein Studentenheim. Dort kam er zum ersten Mal in Kontakt mit der westlichen Kultur – mit Kinos, Frauen, Alkohol. Trotz Selbstzweifeln und Schuldgefühlen brach er schliesslich den Kontakt zu seinen alten Freunden von der Moschee ab. Während der zweiten palästinensischen Intifada erlebte er dann zwei Terroranschläge aus nächster Nähe mit. All dies bewog ihn 2004 schliesslich dazu, nach Berlin auszuwandern, wo er seither als Psychologe und Islamismusexperte arbeitet.

Überfordert und ausgegrenzt

In seinem neuen Buch «Generation Allah» widmet sich Ahmad Mansour jener breiten Basis von Jugendlichen, die seiner Einschätzung nach für eine islamistische Radikalisierung empfänglich sein könnte. US-Geheimdienste sprechen von 4500 Menschen aus dem Westen, die sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS) angeschlossen haben. In Deutschland liegen die inoffiziellen Zahlen bei mehr als 700. Mansour schätzt, dass es eine deutlich höhere Dunkelziffer von SympathisantInnen auf verschiedenen Stufen gibt.

In der Schweiz sind gemäss Angaben des Nachrichtendienstes des Bundes in den letzten vierzehn Jahren 71 Menschen aus der Schweiz in den Dschihad gezogen, allein 31 zwischen Mai 2014 und November 2015. Davon haben sich 57 nach Syrien oder in den Irak begeben. Laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften sind darunter zwölf Konvertiten und drei Frauen, die meisten zwischen 20 und 35 Jahren alt.

Was bewegt junge Menschen in Europa dazu, ihre Freiheiten aufzugeben, um schliesslich für radikale Organisationen wie den IS im Krieg zu sterben? Welche Gegenstrategien gibt es? Antworten auf solche Fragen entwickelt Mansour aus seiner Arbeit mit mittlerweile 200 Familien bei Hayat, einer Berliner Beratungsstelle für die Deradikalisierung von muslimischen Jugendlichen. Das 2011 ins Leben gerufene Projekt basiert auf Programmen, die sich im Fall von Neonazis und ihrem Ausstieg aus der Szene bewährt haben. Familienmitglieder und das nahe soziale Umfeld spielen dabei eine Schlüsselrolle.

Ist Mansours Unterstützung bei Hayat gefragt, versucht er als Erstes zu verstehen, in welcher psychischen und sozialen Verfassung sich die radikalisierten Jugendlichen gerade befinden. Er nennt diese Suche nach möglichen Ursachen der Radikalisierung «psychologische Archäologie». Ein allgemeines Profil des Dschihadjugendlichen lässt sich daraus nicht entwickeln. Die anfälligsten Jugendlichen sind zwar oft männlich und muslimischer Herkunft – aber nicht ausschliesslich. Einige kommen aus patriarchal geprägten Familien, andere hingegen leiden unter dem Fehlen einer Vaterfigur. Während die einen integriert, ja sogar im Land geboren sind, sind andere nie wirklich in der Gesellschaft angekommen.

Obwohl jeder Fall einzeln zu betrachten ist, lassen sich gewisse Muster erkennen: Die meisten Radikalisierten fühlen sich sozial ausgegrenzt, überfordert oder nicht mehr von der westlichen Kultur angesprochen. Aus psychologischer Warte sieht Mansour die höchste Gefahr bei jungen Menschen im Alter von 13 bis 26 Jahren. Gemäss seiner Erfahrung gibt es bei Jugendlichen ein Zeitfenster von etwa zwei Jahren, in dem ihre persönliche Verunsicherung am stärksten ist. Die Person ist dann für radikale Inhalte besonders empfänglich. Und die Salafisten, so Mansour, reagierten hier oft besser als die Eltern oder die SozialarbeiterInnen: «Sie holen die Jugendlichen in doppeltem Sinn dort ab, wo sie sind» – nämlich auch im Wortsinn: in den Spielhallen, vor den Jugendzentren oder auf der Strasse.

Mansour zieht eine direkte Linie zwischen Radikalisierungen im Nahen Osten und in Europa: «Ob wir es IS nennen, al-Kaida, Hisbollah oder Hamas – es sind die gleichen theologischen Grundlagen», sagt er. Er spricht von einer Art Popdschihadismus, dessen fundamentalistische Inhalte den besonders anfälligen Jugendlichen Halt, Entlastung und eine Vaterfigur in Form von Allah bieten. Plötzlich müssen sie nichts mehr hinterfragen – nur so leben, wie sie indoktriniert worden sind. Und wenn sie sich moderne Salafisten wie Ibrahim Abou-Nagie oder Pierre Vogel anhören wollen, müssen sie nicht einmal eine Moschee aufsuchen. Alles ist selbstverständlich im Internet abrufbar.

Gegennarrative entwickeln

Mansours Buch hat zwar kein Happy End – dafür skizziert es einen Anfang, einen Anfang des Umdenkens. Es beginnt mit den Pädagogen und Sozialarbeiterinnen, die er an seinen Präventionsworkshops trifft – jene Fachpersonen also, die für das soziale Umfeld zuständig sind, wenn die Jugendlichen mal gerade nicht online sind. Ihnen vermittelt Mansour nicht nur Fachwissen, er ruft sie auch dazu auf, in der Arbeit mit Jugendlichen genug Freiraum für politische Diskussionen zu schaffen, in denen die Jugendlichen auch differenziert argumentieren können.

Von der Politik fordert Mansour, solche Ansätze auch finanziell und strategisch zu unterstützen. Zum Beispiel, indem Gegennarrative zum Extremismus kreiert werden – vor allem im Internet. «Demokratie ist cool, Freiheit ist cool», sagt Mansour. «Aber die Art und Weise, wie wir sie verkaufen, kommt den Jugendlichen ein bisschen lahm vor. Sie haben nicht das Gefühl, dass sie dafür irgendwie kämpfen müssen.»

Ahmad Mansour ist schon mehrfach für sein Engagement gegen Antisemitismus und Extremismus in Deutschland ausgezeichnet worden. Seine Arbeit hat aber auch ihren Preis: Sein Heimatdorf Tira kann er nur noch unangemeldet besuchen. Bei seinen Eltern übernachtet er nicht; das sei zu gefährlich, schreibt er. Denn die ehemaligen Weggefährten aus seiner islamistischen Vergangenheit wissen mittlerweile um seine gewandelte Einstellung. Und als einer, der Klartext spricht und seit Jahren immer wieder öffentlich dazu aufruft, eine kritische innerislamische Debatte zu führen, wird Mansour von islamistischen Verbänden als Verräter gesehen. «Ich kritisiere nicht den Islam», antwortet er darauf, «sondern bestimmte Islamverständnisse. Ich wünsche mir eine Politik, die in der Lage ist, diese Differenzierung zu machen – und die sehe ich nicht immer.»

Seit ein paar Monaten tritt Ahmad Mansour auch regelmässig in den deutschsprachigen Medien als Experte für Extremismus auf, der Rechtsradikale und IslamistInnen als Teile des gleichen Problems sieht. Dabei setzt er sich heftigen Konfrontationen von beiden Seiten aus. «Alle Extremisten mögen mich nicht», sagt er, «wenn sie jetzt anfangen würden, mich gut zu finden, dann hätte ich wahrscheinlich etwas falsch gemacht.»

Ahmad Mansour: «Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen». S. Fischer Verlag. Frankfurt 2015. 272 Seiten. 29 Franken.

Der Autor präsentiert sein Buch am Freitag, 8. Januar 2016, um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.

Ahmad Mansour

Der palästinensisch-israelische Psychologe und Autor Ahmad Mansour (39) setzt sich mit Projekten und Initiativen gegen Antisemitismus, Radikalisierung und Unterdrückung in der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland ein.

Neben seiner Tätigkeit bei Hayat, einer Berliner Beratungsstelle für die Deradikalisierung von muslimischen Jugendlichen, engagiert sich Mansour seit 2007 im Projekt Heroes in Berlin-Neukölln, das männliche Jugendliche aus Milieus mit streng ehrenkulturellen Strukturen für Themen wie Gleichberechtigung und Gleichstellung sensibilisieren will.

Mansour ist ausserdem wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum Demokratische Kultur in Berlin und berät die European Foundation for Democracy in Brüssel.